Wir sind Wissenschaftler*innen aller Disziplinen, die die Anliegen von Fridays for Future unterstützen. Im März 2019 haben sich über 26.800 Wissenschaftler*innen aus dem deutschsprachigen Raum, davon über 1.800 aus Österreich), zu S4F zusammengeschlossen.
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Fossiles Erdgas, welches hauptsächlich aus Methan besteht, ist über einen Betrachtungszeitraum von 20 Jahren etwa 85 mal klimaschädlicher als CO2. Die Konzentration von Methan in der Atmosphäre ist in jüngster Vergangenheit so stark angestiegen wie nie zuvor.
Obgleich Erdgas bei der Verbrennung in CO2 (und Wasser) umgewandelt wird, entweichen erhebliche Mengen von Methan bei der Förderung und dem Transport von Erdgas in die Atmosphäre. Das hat verheerende Folgen für das Klima. Diese sogenannten Leakages (Lecks) werden viel zu selten berücksichtigt, wenn es um die Klimabilanz von Erdgas geht.
Häufig wird Erdgas als Brückentechnologie und als die klimafreundliche Alternative zu Kohle und Öl dargestellt. Berücksichtigt man jedoch die Methan-Verluste und Emissionen beim Transport, so ist Erdgas ähnlich klimaschädlich wie Kohle. Klar ist, dass für die Stabilisierung des Klimas die Emissionen von CO2 auf null gesenkt werden müssen. Damit ist auch klar, dass Erdgas keine Brücke in die Zukunft darstellt, sondern ein Teil der fossilen Vergangenheit und Gegenwart ist, die wir dringend überwinden müssen.
Die Zeit läuft ab. Bereits in wenigen Jahren werden wir so viel Methan, CO2 und andere Treibhausgase in der Atmosphäre haben, dass die Erwärmung 1,5°C übersteigen wird. Jenseits des 1,5°C-Limits ist die Stabilität des Klimas in Gefahr. Mit jedem weiteren zehntel Grad steigt diese Gefahr weiter an. Ein stabiles Klima ist das Fundament unserer Zivilisation. Ein instabiles Klima bringt sie auf vielfache Weise durch Verteilungskämpfe, Flucht und Krieg ins Wanken und irgendwann zum Einsturz. Unser Handeln in den nächsten Jahren entscheidet, wie groß diese Gefahr für unsere Kinder, Enkelkinder und alle weiteren Generationen sein wird.
Derzeit wird in Europa, auch bedingt durch den menschenverachtenden Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, in übertriebenem Maße in neue Gasinfrastruktur investiert. Ungeachtet der Lehren, die man aus den Ereignissen des letzten Jahres ziehen müsste, propagieren politische und wirtschaftliche Akteure in Europa bis heute das Festhalten und den Ausbau an Infrastruktur für fossiles Erdgas. Diese Politik ist bar jeder wissenschaftlicher Grundlage und Vernunft und kann nur durch blindes Festhalten an alten Ideologien erklärt werden.
Aus wissenschaftlicher Sicht sind die Ängste und Befürchtungen all jener, die diese politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen mit Sorge sehen und ihnen aktiv entgegentreten, völlig gerechtfertigt. Der Protest gegen den weiteren Ausbau von Erdgas-Infrastruktur und für einen Ausstieg aus Erdgas sowie allen fossilen Energieträgern auf dem allerschnellsten Weg zeugt von Vernunft, das Festhalten an Kohle, Öl und Gas hingegen zeugt von ideologischer Verblendung. Um diese Verblendung rechtzeitig zu überwinden, sind angesichts der enormen Bedrohungslage und Dringlichkeit sämtliche gewaltfreien Protestformen aus Sicht der unterzeichnenden Wissenschaftler:innen gerechtfertigt.
Unterzeichner:innen
Koordinationsteam der Scientists for Future Wien
Health for Future
Personen
Prof. Dr. Elske Ammenwerth
Univ.-Prof. Dr. Enrico Arrigoni (Technische Universität Graz)
Hon.-Prof. Martin Auer, B.A.
Prof. Dr.phil. Dr.h.c. mult. Bruno Buchberger (Johannes Kepler Universität Linz; RISC; Academy of Europe)
Prof. Dr. Reinhold Christian (geschäftsführender Präsident des Forums Wissenschaft & Umwelt)
Univ.-Prof. Dr. Giuseppe Delmestri (Wirtschaftsuniversität Wien)
Prof. (FH) Dr. Johannes Jäger (Fachhochschule des BFI Wien)
Ao. Univ.-Prof. Dr. Jürgen Kurt Friedel, (Universität für Bodenkultur Wien)
Univ.-Prof. Dr. Barbara Gasteiger Klicpera (Universität Graz)
Univ.-Prof. Dr. Maria-Regina Kecht (Emerita, Rice University, Houston, TX)
Prof.in, Dr. Mag. Sabrina Luimpöck (Fachhochschule Burgenland)
Univ.-Prof. DDr. Michael Getzner (Technische Universität Wien)
Ao Univ.-Prof. Dr. Georg Gratzer (Universität für Bodenkultur Wien – Inst. o. Forest Ecology)
Univ.-Prof.i.R. Dr.techn. Wolfgang Hirschberg (ehem. Technische Universität Graz)
em. Univ.Prof. Dr. Dr.hc Helga Kromp-Kolb (Universität für Bodenkultur Wien)
HS-Prof. Dr. Matthias Kowasch (Pädagogische Hochschule Steiermark)
Univ.-Prof. Axel Maas (Universität Graz)
Univ.-Prof. Dr. René Mayrhofer (Johannes Kepler Universität Linz)
Prof. Dr. Markus Öhler (Universität Wien)
Univ.-Prof. Susanne Pernicka (Johannes Kepler Universität Linz – Inst. f. Soziologie)
Univ.-Prof. Dr. Alfred Posch (Universität Graz)
Univ.-Prof. Volker Quaschning
Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Klaus Rieser (Universität Graz)
Univ.-Prof. Dr. Michael Rosenberger (Katholische Privatuniversität Linz – Inst. f. Moraltheologie)
Prof. Christa Schleper
Univ.-Prof. Dr. Henning Schluß (Universität Wien – Inst. f. Bildungswissenschaft)
a.o. Univ.-Prof. Dr. Ruth Simsa (Wirtschaftsuniversität Wien)
Prof. Dr. Ulrike Stamm (Pädagogische Hochschule Oberösterreich)
Univ.-Prof. Mag. Dr. Günther Stocker (Universität Wien – Inst. f. Germanistik)
Ao. Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Harald Vacik (Universität für Bodenkultur Wien – Inst. f. Waldbau)
Univ.-Prof. Eva Vetter (Universität Wien)
Hon.-Prof. Dr. Johannes Weber (Universität f. angewandte Kunst Wien)
Univ.-Prof. Dr. Dietmar W. Winkler (Universität Salzburg – Theologische Fakultät)
Ernest Aigner, PhD (Wirtschaftsuniversität Wien)
Dr. Ilse Bartosch (ehem. Universität Wien)
Dr.nat.techn. Benedikt Becsi (Universität für Bodenkultur Wien)
Dr. Bernhard Binder-Hammer (Technische Universität Wien)
Dr. Hubert Bratl
Dr. Lukas Brunner (Universität Wien – Inst. f. Meteorologie und Geophysik)
Mag. Dr. Michael Bürkle
Dr. Renate Christ (IPCC Secretariat retired)
Dr. Rachel Dale (Universität f. Weiterbildung Krems)
Assoc. Prof. Dr. Ika Darnhofer PhD (Universität für Bodenkultur Wien – Inst. f. Agrar- und Forstökonomie)
Dr. Monika Dörfler (NUHAG)
Univ.-Prof. Dr. Stefan Dullinger (Universität Wien)
Assoc. Prof. Dr. Kirsten v. Elverfeldt (Alpen-Adria-Universität Klagenfurt)
Assoc.-Prof. Dr. Franz Essl (Universität für Bodenkultur Wien – Dep. f. Botanik und Biodiversitätsforschung)
Assoc. Prof. MMag. Dr. Harald A. Friedl (Fachhochschule JOANNEUM – Inst. f. Gesundheit und Tourismus Management)
Dr. Florian Freistetter (Science Buster)
Ass. Prof. Mag. Dr. Herbert Formayer (Universität für Bodenkultur Wien – Inst. f. Meteorologie und Klimatologie)
Dr. Stefan Forstner (Bundesforschungszentrum für Wald, Wien)
Dr. Patrick Forstner (Medizinische Universität Graz)
Dr.in Friederike Frieß (Universität für Bodenkultur Wien)
Vor bald 50 Jahren erstellten Beschäftigte des britischen Großkonzerns „Lucas Aerospace“ einen detaillierten Plan für die Umstellung von militärischer Produktion auf klima-, umwelt- und menschenfreundliche freundliche Produkte. Sie forderten das Recht auf „gesellschaftlich nützliche Arbeit“. Das Beispiel zeigt, dass die Klimabewegung mit Erfolg auf die Beschäftigten in nicht so klimafreundlichen Industrien zugehen könnte.
Unsere Gesellschaft erzeugt viele Produkte, die für die Umwelt und damit für die Menschen schädlich sind. Gängigste Beispiele sind Verbrennungsmotoren, die vielen Plastikprodukte oder die Chemikalien in vielen Reinigungs- und Kosmetikartikeln. Andere Produkte werden auf umweltschädliche Weise produziert, vor allem, indem Energie aus fossilen Rohstoffen zu ihrer Erzeugung verwendet wird, oder weil Abgase, Abwässer oder feste Abfälle in die Umwelt gelangen. Von manchen Produkten wird einfach zu viel hergestellt, man denke nur an Fast Fashion und andere Wegwerfprodukte und an all die Produkte vom Laptop bis zum Turnschuh, die viel länger halten könnten, wenn sie nicht schon von Anfang an dafür designt würden, schnell zu veralten oder kaputt zu gehen (man nennt das geplante Obsoleszenz). Oder man denke an die landwirtschaftlichen Produkte, die in der Erzeugung umweltschädlich und im (übermäßigen) Konsum gesundheitsschädlich sind, wie die riesigen Mengen an Fleischprodukten aus Massentierhaltung oder die Produkte der Tabakindustrie.
An all diesen Produkten hängen aber Arbeitsplätze. Und von diesen Arbeitsplätzen hängt das Einkommen vieler Menschen ab und von diesem Einkommen ihr Wohlergehen und das ihrer Familien.
Viele Beschäftigte wünschen sich mehr Mitsprache, um ihr Unternehmen umweltfreundlicher und sozialer zu gestalten
Viele Menschen sehen durchaus die Gefahren der Klimakatastrophe und der Umweltzerstörung, vielen ist auch bewusst, dass ihr Job nicht unbedingt der klima- und umweltfreundlichste ist. Laut einer aktuellen Umfrage unter 2.000 Beschäftigten in den USA und ebenso vielen in Großbritannien sind zwei Drittel der Befragten der Meinung, dass das Unternehmen, in dem sie arbeiten, „nicht genug Anstrengungen unternimmt, Umweltprobleme und soziale Probleme anzugehen“. 45 % (UK) und 39 % (US) sind der Meinung, dass den Spitzenmanagern diese Anliegen gleichgültig sind und sie nur auf ihren eigenen Gewinn aus sind. Die große Mehrheit möchte lieber in einem Unternehmen arbeiten, das „einen positiven Einfluss auf die Welt hat“ und ungefähr die Hälfte würde erwägen, den Job zu wechseln, wenn die Werte des Unternehmens nicht mit ihren eigenen Werten übereinstimmen. Von den unter 40jährigen würde fast die Hälfte dafür sogar Einkommenseinbußen in Kauf nehmen und zwei Drittel von ihnen wünschen sich, mehr Einfluss darauf zu haben, dass ihre Unternehmen „sich zum Besseren verändern“1.
Wie kann man in der Krise Arbeitsplätze erhalten?
Ein Beispiel dafür, wie Beschäftigte ganz konkret versuchen können, ihren Einfluss geltend zu machen, bietet der berühmte „Lucas Plan“.
In den 1970er Jahren befand sich die britische Industrie in einer schweren Krise. Sie war in ihrer Produktivität und damit in ihrer Wettbewerbsfähigkeit hinter andere Industrienationen zurückgefallen. Die Unternehmen reagierten darauf mit Rationalisierungsmaßnahmen, Betriebszusammenlegung und Massenentlassungen.2 Auch die Beschäftigen des Rüstungsunternehmens Lucas Aerospace sahen sich von einer massiven Entlassungswelle bedroht. Das hing einerseits mit der allgemeinen Krise der Industrie zusammen, andererseits auch damit, dass die damalige Labour-Regierung plante, die Rüstungsausgaben einzuschränken. Lucas Aerospace produzierte Komponenten für die wichtigsten Unternehmen der militärischen Luftfahrt in Großbritannien. Ungefähr die Hälfte seines Umsatzes machte das Unternehmen im militärischen Sektor. Von 1970 bis 1975 baute Lucas Aerospace 5.000 von ursprünglich 18.000 Jobs ab, viele Beschäftigte sahen sich praktisch über Nacht ohne Arbeit.3
„Shop Stewards“ schließen sich zusammen
Im Angesicht der Krise hatten die „Shop Stewards“ der 13 Produktionsstandorte ein „Combine Comittee“ gegründet. Den Begriff „Shop Stewards“ kann man nur ungenau mit „Betriebsräte“ übersetzen. Die britischen Shop Stewards hatten keinen Kündigungsschutz und auch keine institutionalisierten betrieblichen Mitspracherechte. Sie wurden direkt von ihren Kolleg:innen gewählt und waren ihnen direkt verantwortlich. Sie konnten auch jederzeit mit einfacher Mehrheit abgewählt werden. Sie vertraten ihre Kolleg:innen sowohl gegenüber der Unternehmensführung, als auch gegenüber den Gewerkschaften. Die Shop Stewards waren den Gewerkschaften gegenüber nicht weisungsgebunden, aber sie repräsentierten sie gegenüber den Kolleg:innen und kassierten zum Beispiel die Mitgliedsbeiträge ein.4
Das ungewöhnliche am Lucas Combine war, dass es Shop Stewards sowohl der gelernten und ungelernten Arbeiter:innen als auch Shop Stewards der Konstrukteur:innen und Designer:innen zusammenbrachte, die in unterschiedlichen Gewerkschaften organisiert waren.
In ihrem Wahlprogramm vor 1974 hatte sich die Labour Party das Ziel gesetzt, die Rüstungsausgaben zu senken. Das Lucas Combine begrüßte dieses Ziel, obwohl es bedeutete, dass laufende Projekte von Lucas Aerospace bedroht waren. Die Beschäftigten von Lucas wurden durch die Regierungspläne nur bestärkt in dem Wunsch, lieber zivile Produkte herzustellen. Als Labour im Februar 1974 an die Regierung zurückkehrte, verstärkte das Combine seinen Aktivismus und setzte ein Treffen mit dem Industrieminister Tony Benn durch, der von ihren Argumenten durchaus beeindruckt war. Allerdings setzte die Labour Party auf Verstaatlichung der Luftfahrtindustrie. Dem standen die Lucas-Beschäftigten skeptisch gegenüber. Nicht der Staat sollte die Kontrolle über die Produktion haben, sondern die Beschäftigten selber.5
Bestandsaufnahme über Wissen, Fähigkeiten und Einrichtungen im Unternehmen
Einer der Shop Stewards war der Konstrukteur Mike Cooley (1934-2020). In seinem Buch „Architect or Bee? The Human Price of Technology“ erzählt er: „Wir setzten einen Brief auf, der detailliert die Zusammensetzung der Belegschaft nach Alter und Qualifikationen beschrieb, die Werkzeugmaschinen, Ausrüstungen und Labors, die uns zur Verfügung standen, dazu den wissenschaftlichen Stab und seine Design-Kapazitäten.“ Der Brief ging an 180 führende Autoritäten, Institutionen, Universitäten, Gewerkschaften und andere Organisationen, die sich schon einmal zu Fragen eines sozial verantwortlichen Umgangs mit Technologie geäußert hatten, mit der Frage: „Was könnte eine Belegschaft mit diesen Fähigkeiten und Einrichtungen erzeugen, das im Interesse der breiten Bevölkerung wäre?“. Nur vier von ihnen antworteten.6
Wir müssen die Belegschaft fragen
„Darauf taten wir, was wir von Anfang an hätten tun sollen: Wir fragten unsere Belegschaftsmitglieder, was sie meinten, dass sie produzieren sollten.“ Dabei sollten die Befragten nicht nur ihre Rolle als Produzent:innen, sondern auch als Konsument:innen bedenken. Die Projektidee wurde über die Shop Stewards in die einzelnen Produktionsstätten getragen, in „Teach Ins“ und Massenversammlung der Belegschaft vorgestellt.
Innerhalb von vier Wochen wurden von den Lucas-Beschäftigten 150 Vorschläge eingereicht. Diese Vorschläge wurden geprüft und mündeten zum Teil in konkrete Konstruktionspläne, Kosten- und Gewinnberechnungen und sogar einige Prototypen. Im Jänner 1976 wurde der Lucas-Plan der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Financial Times beschrieb ihn als einen „der radikalsten Alternativpläne, die Arbeiter jemals für ihr Unternehmen aufgestellt haben.“7
Der Plan
Der Plan umfasste sechs Bände, jeder zu ca. 200 Seiten. Das Lucas Combine strebte einen Mix von Produkten an: Produkte, die in sehr kurzer Zeit produziert werden konnten und solche, die langfristige Entwicklung benötigten. Produkte, die im globalen Norden (damals: „Metropole“) genutzt werden konnten, und solche, die den Bedürfnissen des globalen Südens (damals: „dritte Welt“) angepasst wären. Und schließlich sollte es einen Mix geben von Produkten, die nach den Kriterien der Marktwirtschaft profitabel wären und solchen, die nicht notwendig profitabel, aber gesellschaftlich von großem Nutzen wären.8
Medizinische Produkte
Noch in der Zeit vor dem Lucas Plan hatten Lucas-Mitarbeiter für Kinder mit Spina Bifida, einer angeborenen Schädigung des Rückenmarks, das „Hobcart“ entwickelt. Ein Rollstuhl, so war die Überlegung, würde die Kinder von anderen abheben. Das Hobcart, das aussah wie ein Go-Cart, sollte ihnen ermöglichen, mit gleichaltrigen auf Augenhöhe zu spielen. Die australische Spina Bifida Association wollte 2.000 davon bestellen, aber Lucas weigerte sich, das Produkt zu realisieren. Die Konstruktion des Hobcart war so einfach gehalten, dass es später von Jugendlichen in einer Jugendstrafanstalt hergestellt werden konnte, mit dem zusätzlichen Nutzen, den straffälligen Jugendlichen das Bewusstsein einer sinnvollen Beschäftigung zu vermitteln.9
David Smith und John Casey mit ihren Hobcarts. Quelle: Wikipedia https://en.wikipedia.org/wiki/File:Hobcarts.jpg
Weitere konkrete Vorschläge für Medizinprodukte waren: ein transportables lebenserhaltendes System für Menschen, die einen Herzinfarkt erlitten haben, mit dem die Zeit bis zum Eintreffen im Spital überbrückt werden kann, oder ein Heimdialysegerät für Menschen mit Nierenfehlfunktion, das ihnen den mehrmals wöchentlichen Besuch in der Klinik ersparen konnte. Großbritannien war damals massiv unterversorgt mit Dialysegeräten, laut Cooley starben deswegen jährlich 3.000 Menschen. Im Gebiet von Birmingham, schrieb er, erhielt man keinen Platz in einer Dialyseklinik wenn man unter 15 oder über 45 Jahre alt war.10 Eine Zweigfirma von Lucas erzeugte Dialysegeräte für Spitäler, die als die besten galten, die in Großbritannien zu haben waren.11 Lucas wollte den Betrieb an eine Schweizer Firma verkaufen doch die Belegschaft verhinderte das, indem sie mit Streik drohte und gleichzeitig einige Parlamentarier:innen einschalteten. Der Lucas-Plan forderte, die Produktion der Dialysegeräte um 40 % zu steigern. „Wir halten es für skandalös, dass Menschen sterben, weil ihnen kein Dialysegerät zur Verfügung steht, während diejenigen, die diese Geräte produzieren könnten, von Arbeitslosigkeit bedroht sind“.12
Erneuerbare Energie
Eine große Produktgruppe betraf Systeme für erneuerbare Energie. So sollten die aerodynamischen Kenntnisse aus der Produktion von Flugzeugen für die Konstruktion von Windkraft-Turbinen eingesetzt werden. Verschiedene Formen von Sonnenkollektoren wurden entwickelt und in einem Niedrig-Energie-Haus des Designers Clive Latimer praktisch erprobt. Dieses Haus war so konzipiert, dass es von den Besitzer:innen mit Unterstützung durch qualifizierte Arbeiter:innen selbst gebaut werden konnte.13 In einem Gemeinschaftsprojekt mit der Gemeine Milton Keynes wurden Wärmepumpen entwickelt und die Prototypen in einigen der gemeindeeigenen Wohnhäuser eingebaut. Die Wärmepumpen wurden direkt mit Erdgas betrieben anstatt mit durch Erdgas erzeugtem Strom, was eine weitaus verbesserte Energiebilanz brachte.14
Mobilität
Im Bereich der Mobilität entwickelten die Lucas-Beschäftigten einen benzin-elektrischen Hybridmotor. Das Prinzip (das übrigens Ferdinand Porsche schon 1902 entwickelte): Ein kleiner Verbrennungsmotor, der mit optimaler Drehzahl läuft, versorgt den Elektromotor mit Strom. Dadurch sollte weniger Kraftstoff verbraucht werden als beim Verbrenner und es würden kleinere Batterien gebraucht als beim reinen Elektrofahrzeug. Ein Prototyp wurde am Queen Mary College in London gebaut und erfolgreich getestet, ein Vierteljahrhundert bevor Toyota den Prius auf den Markt brachte.15
Ein weiteres Projekt war ein Bus, der sowohl das Schienennetz als auch das Straßennetz benutzen konnte. Durch die Gummiräder konnte er größere Steigungen überwinden als eine Lokomotive mit Stahlrädern. Dadurch sollte es möglich sein, Schienenstränge an die Landschaft anzupassen anstatt Hügel zu durchschneiden und Täler mit Brücken zu verbauen. Das würde auch den Bau neuer Eisenbahnstrecken im globalen Süden verbilligen. Nur kleine stählerne Führungsräder hielten das Fahrzeug auf den Schienen. Diese konnten eingezogen werden, wenn das Fahrzeug von der Schiene auf die Straße wechselte. Ein Prototyp wurde auf der East Kent Railway mit Erfolg getestet.16
Der Straßen-Schienen-Bus der Lucas Aerospace Beschäftigten. Quelle: Wikipedia, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Lucas_Aerospace_Workers_Road-Rail_Bus,_Bishops_Lydeard,_WSR_27.7.1980_(9972262523).jpg
„Stillschweigendes Wissen“ erhalten
Ein anderer Schwerpunkt waren „telechirische“ Geräte, also ferngesteuerte Geräte, die die Bewegungen der menschlichen Hand auf Greifer übertragen. Sie sollten zum Beispiel bei Reparaturarbeiten unter Wasser verwendet werden, um die Unfallgefahr für die Arbeiter:innen zu reduzieren. Einen multifunktionalen Roboter für diese Arbeiten zu programmieren hatte sich als nahezu unmöglich erwiesen. Einen sechseckigen Schraubenkopf zu erkennen, den richtigen Schraubenschlüssel auszuwählen und die richtige Kraft anzuwenden, erfordert einen gewaltigen Programmieraufwand. Doch ein geübter menschlicher Arbeiter kann diese Arbeit ausführen „ohne darüber nachzudenken“. Cooley nannte das „stillschweigendes Wissen“ ( („tacit knowledge“). Den am Lucas-Plan Beteiligten ging es auch darum, dieses Erfahrungswissen von Arbeiter:innen zu erhalten, anstatt es durch Digitalisierung zu verdrängen.17
Produkte für den globalen Süden
Typisch für die Denkweise der Lucas-Beschäftigten war das Projekt einer Allround-Kraftmaschine für den Einsatz im globalen Süden. „Zur Zeit ist unser Handel mit diesen Ländern im wesentlichen neokolonialistisch“, schrieb Cooley. „Wir streben danach, Formen von Technologie einzuführen, die sie von uns abhängig machen“. Die Allround-Kraftmaschine sollte unterschiedliche Brennstoffe verwenden können, von Holz bis Methangas. Sie sollte mit einem speziellen Getriebe ausgestattet sein, das variable Output-Geschwindigkeiten ermöglichte: Mit hoher Geschwindigkeit konnte es ein Stromaggregat für nächtliche Beleuchtung antreiben, mit geringerer Geschwindigkeit einen Kompressor für pneumatische Geräte oder Hebevorrichtungen und mit sehr geringer Geschwindigkeit konnte es eine Pumpe für Bewässerung antreiben. Die Komponenten waren für eine Betriebsdauer von 20 Jahren ausgelegt, das Handbuch sollte die Benutzer:innen befähigen, Reparaturen selbst auszuführen.18
Was ist gesellschaftlich nützlich?
Die Lucas-Beschäftigten gaben keine akademische Definition von „gesellschaftlich nützlicher Arbeit“, aber ihre Vorstellungen unterschieden sich deutlich von denen des Managements. Das Management schrieb, dass es „nicht akzeptieren kann, daß [sic] Flugzeuge, zivile und militärische, nicht sozial nützlich sein sollen. Zivilflugzeuge werden zu Geschäfts- und Vergnügungszwecken gebraucht und es ist aus Verteidigungszwecken notwendig, militärische Flugzeuge zu unterhalten. (…) Wir beharren darauf, daß [sic] alle Produkte von Lucas Aerospace sozial nützlich sind.“19
Die Parole der Lucas-Beschäftigten dagegen lautete: „Weder Bomben noch stempeln gehen, sondern Konversion!“20
Einige wesentliche Merkmale von sozial nützlichen Produkten kristallisierten sich heraus:
Aufbau, Funktionsweise und Wirkung der Produkte sollten möglichst verständlich sein.
Sie sollten reparierbar sein, möglichst einfach und robust sein und auf lange Haltbarkeit ausgelegt..
Erzeugung, Gebrauch und Reparatur sollten energiesparend, materialsparend und ökologisch nachhaltig sein.
Die Produktion sollte die Zusammenarbeit zwischen Menschen als Erzeuger:innen und Konsument:innen fördern, ebenso die Zusammenarbeit zwischen Nationen und Staaten.
Produkte sollten hilfreich für Minderheiten und benachteiligte Menschen sein.
Produkte für die „Dritte Welt“ (den globalen Süden) sollten gleichberechtigte Beziehungen ermöglichen.
Produkte sollten eher nach ihrem Gebrauchswert als nach ihrem Tauschwert bewertet werden.
In der Produktion, im Gebrauch und in der Reparatur sollte nicht nur auf möglichste Effizienz geachtet werden, sondern auch auf den Erhalt und die Weitergabe von Kompetenzen und Wissen.
Die Unternehmensleitung weigert sich
Der Lucas-Plan scheiterte einerseits am Widerstand der Firmenleitung und an ihrer Weigerung, das Combine Committee als Verhandlungspartner anzuerkennen. So lehnte die Firmenleitung die Produktion von Wärmepumpen ab, weil sie nicht profitabel sei. Dabei hatten die Lucas-Beschäftigten in Erfahrung gebracht, dass das Unternehmen eine amerikanische Consulting-Firma mit einem Bericht beauftragt hatte, und dieser Bericht besagte, dass der Markt für Wärmepumpen in der damaligen Europäischen Gemeinschaft bis Ende der 1980er Jahre eine Milliarde Pfund betragen würde. „Lucas war also bereit, auf einen solchen Markt zu verzichten, nur um zu demonstrieren, dass Lucas, und nur Lucas, zu entscheiden hatte, was produziert wurde, wie es produziert wurde und in wessen Interesse es produziert wurde.“21
Die Unterstützung durch die Gewerkschaften ist uneinheitlich
Die Unterstützung des Combine durch britischen Gewerkschaften war sehr uneinheitlich. Die Transportarbeitergewerkschaft (TGWU) unterstützte den Plan. Angesichts der erwarteten Kürzung der Rüstungsausgaben forderte sie die Shop Stewards in anderen Betrieben auf, die Ideen des Lucas-Plans aufzugreifen. Während der größte Dachverband, der Trade Union Congress (TUC) anfänglich Unterstützung signalisierte, fühlten sich verschiedene kleinere Gewerkschaften vom Combine in ihrem Vertretungsanspruch übergangen. Eine standort- und spartenübergreifende Organisation wie das Combine passte nicht in die nach Sparten und geographischen Gebieten aufgesplitterte Struktur der Gewerkschaften. Als größtes Hindernis erwies sich die Haltung der „Confederation of Shipbuilding and Engineering Unions“ (CSEU), die darauf bestand, alle Kontakte zwischen Gewerkschaftler:innen und Regierungsvertreter:innen zu kontrollieren. Die Confederation sah ihre Aufgabe nur darin, Arbeitsplätze zu erhalten, ungeachtet der Produkte.
Die Regierung verfolgt andere Interessen
Die Labour-Regierung selbst war eher an Großbritanniens führender Rolle in der Rüstungsindustrie interessiert als an alternativer Produktion. Nach dem Sturz von Labour und der Übernahme der Regierung durch die Konservative Partei unter Margaret Thatcher waren die Aussichten auf Verwirklichung des Plans auf null gesunken.22
Das Vermächtnis des Lucas-Plans
Dennoch hat der Lucas-Plan ein Vermächtnis hinterlassen, das bis heute in der Friedens-, Umwelt- und Gewerkschaftsbewegung diskutiert wird. Der Plan inspirierte auch die Gründung des „Centre for Alternative Industrial and Technological Systems“ (CAITS) am „Northeast London Polytechnic“ (heute University of North East London) und das Unit for the Development of Alternative Products (UDAP) am Coventry Polytechnic. Mike Cooley, einer der treibenden Shop Stewards, wurde 1981 mit dem „Right Livelihood Award“ (auch als „Alternativer Nobelpreis“ bekannt) ausgezeichnet.23 Im selben Jahr wurde er von Lucas Aerospace gekündigt. Als Direktor der Abteilung Technologie des Greater London Enterprise Board konnte er weiter für die Entwicklung menschengerechter Technologien tätig sein.
Lucas Plan documentary: 'The Story of the Lucas Aerospace Shop Stewards Alternative Corporate Plan'
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1978 gab die Open University, die größte staatliche Universität Großbritanniens, die Filmdokumentation „Doesn’t anybody want to know?“ in Auftrag, in der Shop Stewards, Ingenieure, gelernte und ungelernte Arbeiter zu Wort kommen.
Umwelt- und menschenfreundliche Produktion kann nur gemeinsam mit den Beschäftigten gestaltet werden
Das Beispiel des Lucas-Plans sollte die Klimagerechtigkeitsbewegung ermutigen, gerade auch auf die Beschäftigten in den „nicht klimafreundlichen“ Industrien und Produktionen zuzugehen. Der APCC-Special-Report „Strukturen für ein klimafreundliches Leben“ hält fest: „Umstellungsprozesse im Bereich der Erwerbsarbeit hin zu einem klimafreundlichen Leben können durch betrieblich und politisch begleitete und am klimafreundlichen Leben orientierte, aktive Teilhabe der Belegschaft erleichtert werden“.24
Den Lucas-Beschäftigten war von Anfang an klar, dass ihr Plan nicht die ganze Industrielandschaft Großbritanniens umwälzen würde: „Unsere Intentionen sind weitaus maßvoller: Wir wollen die Grundvoraussetzungen unserer Gesellschaft ein wenig in Frage stellen und dazu einen kleinen Beitrag leisten, indem wir zeigen, dass Arbeiter bereit sind, für das Recht auf Arbeit an Produkten zu kämpfen, die menschliche Probleme wirklich lösen, statt sie selbst erst hervorzubringen.“25
Quellen
Cooley, Mike (1987): Architect or Bee? The Human Price of Technology. London.
Löw-Beer, Peter (1981): Industrie und Glück: Der Alternativplan von Lucas Aerospace. Mit einem Beitrag von Alfred Sohn-Rethel: Produktionslogik gegen Aneignungspolitik. Berlin.
Mc Loughlin, Keith (2017): Socially useful production in the defence industry: the Lucas Aerospace combine committee and the Labour government, 1974–1979. In: Contemporary British History 31 (4), S. 524–545. DOI: 10.1080/13619462.2017.1401470.
Dole queue or useful projects? In: New Scientist, vol 67, 3.7.1975:10-12.
Linz, 21. März 2023, 7.45 Uhr. Den zweiten Tag in Folge sind die Menschen der Letzten Generation auf der Straße, um in der eskalierenden Klimakrise erste Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung einzufordern: Tempo 100 auf der Autobahn, und ein Verbot neuer Öl- und Gasbohrungen. Sie brachten den Verkehr auf der Waldeggstraße und der Wiener Straße friedlich zum Stillstand, unterstützt von solidarischen Wissenschaftler:innen, Parents For Future und der Radlobby.
Lisa Aigelsperger, Ernährungswissenschaftlerin, steht als Teil der Scientists for Future hinter den Protesten: “Meine zwei Kinder sind 6 und 10 Jahre alt. Ich wünsche mir, dass sie auf dieser Welt noch eine Zukunft haben. Die Fakten sind seit Jahrzehnten bekannt; in Afrika habe ich mit eigenen Augen gesehen, was die Klimakrise heute schon anrichtet.“ Die Ernährungswissenschaftlerin arbeitet bei Südwind OÖ und kennt die Zusammenhänge zwischen Klima und Hungerkatastrophen.
Professor Andreas Janko vom Institut für Staatsrecht an der JKU im ORF-Interview zur Frage, ob die Proteste rechtens sind: „Rechtswidrig ist es, allerdings: die Aktivist*innen sehen aufgrund ihrer großen Besorgnis keine andere Möglichkeit mehr, und das ist genau das Wesen von zivilem Ungehorsam.“ Ob härtere Sanktionen eine abschreckende Wirkung haben würden? „Das kommt darauf an, in welcher Höhe man sie verhängen würde, aber ich gehe mal davon aus, dass hier die Besorgnis so groß ist, dass man eben ganz bewusst auch diese Rechtsbrüche in Kauf nimmt, und dass ein Drehen an der Sanktionenschraube wahrscheinlich nichts bewirken würde.“ Ob es nicht gangbarere legale Alternativen für Aktivist*innen gäbe, ihren Unmut kundzutun, die nicht so viel Wirbel auslösen? „Wir haben ein Demonstrationsrecht, und das kann man auch völlig rechtsmäßig und rechtskonform ausüben, mit Anmeldung, da sind auch Straßenblockaden unter Umständen möglich, oder man kann auch wo anders demonstrieren gehen. Allerdings will man natürlich das Aufsehen und die Aufmerksamkeit. Andere Aktionen werden als zu wenig effektiv eingestuft, genauso wie auch die bloße Teilnahme an ganz klassischen, vor allem direktdemokratischen Elementen: wir wissen, natürlich kann man bei uns Volksbegehren stellen, nur, wir wissen auch, die Volksbegehren sind ein Wunsch ans Parlament, und entscheiden werden am Ende die Abgeordneten, und da geht es den Aktivist*innen einfach zu wenig schnell.“
Professor Alois Birklbauer vom Institut für Strafrechtswissenschaften an der JKU spricht Respekt für die Proteste aus: „Die Proteste sind ungeheuer wichtig, weil sonst der Diskurs über die Klimakrise nicht in dem Ausmaß existieren würde in dem es notwendig ist.“ Birklbauer zum Begriff „Klimaterroristen“: „Wenn man beachtet, dass das, was wirklich geschädigt wird, das Klima ist, könnte ich sagen, dass die größten Terroristen in der Regierung sitzen.“
Jelena Saf von der Letzten Generation: “Gestern erst hat der Weltklimarat seinen Bericht veröffentlicht, und die Warnung könnte nicht deutlicher sein. Der Zusammenbruch unserer Lebensgrundlagen schreitet mit rasendem Tempo voran; in den verwundbarsten Gebieten sind mehr als 3 Milliarden Menschen umittelbar bedroht. Unsere Regierung baut weiter an der Autobahn in die Klimahölle, statt wenigstens die billigsten, einfachsten Schritte in eine überlebbare Zukunft zu setzen. Allein mit Tempo 100 könnten wir jedes Jahr 460.000 Tonnen CO2 einsparen, und gleichzeitig dank weniger Lärm und Schadstoffen die Lebensqualität in Österreich verbessern.” In den OÖ Nachrichten: Heute hätte sie bemerkt, dass die Leute im Stau anfingen, miteinander über die Notwendigkeit der Proteste zu diskutieren. „Das hat mich gefreut„, denn auch hier wurde Solidarität sichtbar.
Die Letzte Generation ist fest entschlossen, ihren zivilen Widerstand deutlich auszuweiten, falls die Fakten von Politiker:innen wie Bundeskanzler Nehammer noch länger ignoriert werden: Nehammer höre lieber auf einen diskreditierten Klimaleugner. Kein Wunder also, dass Österreich seine Klimaziele Jahr für Jahr krachend verfehle und auf Strafzahlungen in Milliardenhöhe zusteuere.
Wie bedrohlich die Lage ist, stellte UN-Generalsekretär Antonio Guterres anlässlich der gestrigen Veröffentlichung der Zusammenfassung des Weltklimarats-Berichts klar: “Die Menschheit steht auf dünnem Eis – und dieses Eis schmilzt schnell. Jedes Land muss Teil der Lösung sein. Wer von anderen verlangt, sich zuerst zu bewegen, stellt die Menschheit an letzte Stelle.”
Die Scientists for Future OÖ stellen sich entschlossen hinter die Forderungen der Klimaaktivist:innen und zeigen sich solidarisch mit den Menschen, die für eine lebenswerte Zukunft für alle eintreten.
Die Treibhausgasemissionen stammen großteils aus Kohlenstoffdioxid (CO2), das bei der Verbrennung von Öl, Gas und Kohle entsteht. Für die Einhaltung der Klimaziele ist es erforderlich, diese fossilen Energiequellen bis 2040 zur Gänze durch erneuerbare Energiequellen wie Wasserkraft, Windkraft, Sonnenenergie und Biomasse zu ersetzen. Dazu braucht es einen massiven Ausbau der erneuerbaren Energiequellen. Das ist nur zu schaffen, wenn gleichzeitig der Energiebedarf gesenkt wird.
Am Beispiel einer Beleuchtung: Lampen nur dann einschalten, wenn sie wirklich benötigt werden (Reduktion durch Suffizienz), für die Beleuchtung effiziente Leuchtmittel wie LED-Lampen verwenden (Reduktion durch Effizienz), versorgt mit Ökostrom (erneuerbare Energie). Bei Autofahrten bedeutet Suffizienz, sie auf das Nötigste zu reduzieren durch Ausbau und Nutzung von Alternativen (öffentlicher Verkehr, Radfahren, zu Fuß gehen). Eine möglichst effiziente Nutzung wird durch gemeinsame Fahrten und eine energiesparende Fahrweise erzielt. Die erneuerbare Energie in Form von Ökostrom lädt die E-Fahrzeuge. Ähnlich auch beim Heizen: so wenig warm, so wenig Räume und so wenig Zeit wie möglich (Suffizienz), mit guter Wärmedämmung von Wänden, Fenstern und Türen, Stoß- statt Dauerlüftung (Effizienz), und eine Heizung mit Wärmepumpe aus Ökostrom oder mit Biomasse aus nachhaltiger Produktion (Pellets, Holz).
Nur wenn jeweils alle drei Säulen (Suffizienz, Effizienz und erneuerbar) berücksichtigt werden, ist ein vollständiger Umstieg auf erneuerbare Energien auch machbar. Um mehr Effizienz zu erreichen und erneuerbare Energien zu nutzen, ist es oft mit einmaligen Entscheidungen getan (z.B. Wechsel des Stromanbieters, Wärmedämmung verbessern, Gas- durch Pelletsheizung ersetzen, Anschaffung eines E-Autos). Mehr Suffizienz bedeutet jedoch in vielen Fällen, dass wir unser Verhalten anpassen müssen. Oft reicht es, Gewohnheiten zu hinterfragen und achtsamer, vorausschauender zu handeln.
Mit einer positiven persönlichen Grundeinstellung gelingt es, in einem “weniger” auch mehr Lebensqualität zu sehen. Von der Politik braucht es jedenfalls die Entschlossenheit, alle drei Säulen zu berücksichtigen, und die generellen Rahmenbedingungen dafür zu setzen: mit bloßen Aufrufen zu freiwilligen Verhaltensänderungen (Beispiel: Tempo 100 auf Autobahnen) und Belohnungen (Beispiel: Förderungen für bessere Wärmedämmung) ist es nicht getan. Die Aufgabe für die Politik ist es vielmehr, Klimaschutz gesetzlich zu verankern, und der Bevölkerung zu erklären, warum es das braucht.
Dieser Essay beruht auf einem Vortrag von Martin Auer (Scientists for Future Österreich) bei den Linzer Friedensgesprächen am 27. Jänner 2023.
Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 hörte und las man oft Sätze wie: „Erneuerbare Energien sichern Frieden“. Eine typische Argumentation ist diese: „Öl und Gas heizen nicht nur den Klimawandel an, sie befeuern auch militärische Konflikte in aller Welt. Wer Frieden schaffen will, muss deshalb die Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen beseitigen – durch Investitionen in saubere Energiequellen wie Sonne und Wind.“1
Dabei wird leider übersehen, dass für die Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien und für dessen Speicherung große Mengen „kritischer Metalle“ gebraucht werden, wie Kupfer, Lithium, Kobalt, Nickel und Seltenerdmetalle. Und diese sind sehr ungleich in der Erdkruste verteilt. Drei Viertel der Gewinnung von Lithium, Kobalt und Seltenen Erden finden in China, der Demokratischen Republik Kongo und im Lithiumdreieck Chile-Argentinien-Bolivien statt.2
Rohstoffe sind eine strategische Sicherheitsfrage
In einem Papier von 2020 hat die Europäische Kommission festgehalten: „Der Zugang zu Rohstoffen ist eine strategische Sicherheitsfrage für Europa, um den „Green Deal“ zu verwirklichen. (…) Europas Übergang zu Klimaneutralität könnte an die Stelle der heutigen Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen die Abhängigkeit von Rohstoffen setzen, von denen wir viele aus dem Ausland beziehen und um die die globale Konkurrenz immer erbitterter wird.“3
Die Ukraine ist reich an Lithium und anderen Mineralien
Im Juli 2021 hatte die EU mit der Ukraine ein strategisches Abkommen zur Gewinnung und Verarbeitung von kritischen Rohstoffen und Erzeugung von Batterien geschlossen4. Die Ukraine verfügt über große Reserven von Lithium, Kobalt, Beryllium und Seltenerdmetallen, die vom Ukrainian Geological Survey mit 6.700 Millionen Euro bewertet werden5. Das Lithium-Vorkommen wird mit 500.000 Tonnen als eines der größten der Welt eingeschätzt.
Lithiumvorkommen in der Ukraine Quelle: Ukrainian Geological Survey
Im Februar 2022 hat Russland dann die Ukraine überfallen. Das größte Vorkommen liegt in den seit Februar 2022 von Russland besetzten Gebieten im Osten in der Oblast Donetsk. Laut der Politologin Olivia Lazard (Carnegie Europe) geht es Putin unter anderem darum, der EU den Zugang zu diesen Vorräten abzuschneiden. Russland verfügt selbst über große Reserven an kritischen Rohstoffen und strebt danach, mit deren Hilfe wieder ein mächtiger Player auf dem Weltmarkt zu werden. Die Wagner-Söldnertruppe ist übrigens auch in mineralreichen Ländern in Afrika aktiv, wie Mosambik, Zentrafrikanische Republik, Madagaskar und Mali.6
Die EU verklagt Indonesien wegen Zugang zu Nickel
Ein anderer kritischer Rohstoff ist Nickel. Im Dezember 2022 hat die Welthandelsorganisation (WTO) einer Klage der EU gegen Indonesien stattgegeben. Indonesien hatte 2020 ein Gesetz erlassen, das die Ausfuhr von Nickel verbietet und verlangt, dass Nickelerz in Indonesien raffiniert werden muss. Dagegen hatte die EU geklagt. Das, wogegen Indonesien sich wehrt, ist das klassische koloniale Muster: Rohstoffe werden im globalen Süden gewonnen, aber die Wertschöpfung findet im globalen Norden statt. Unternehmensprofite, Steuern, Arbeitsplätze wandern also in den Norden. „Wir wollen ein entwickeltes Land werden, wir wollen Arbeitsplätze schaffen“, erklärte der indonesische Präsident. Die EU aber will koloniale Muster aufrechterhalten.7
Lithiumproduktion schädigt die Landwirtschaft der Indigenen in Chiles Atacamawüste
Der zweitgrößte Lithiumproduzent ist derzeit Chile (nach Australien). In der Atacama Wüste, einer der trockensten der Erde, wird Lithiumkarbonat als Salzsole aus dem Boden hochgepumpt. Die Sole lässt man in großen Becken verdunsten. Laut Bergbau-Kommission der chilenischen Regierung wurde dem Grundwasser in der Atacama zwischen 2000 und 2015 viermal so viel Wasser entzogen, wie auf natürliche Weise in Form von Regen- oder Schmelzwasser in das Gebiet gelangte. Für die Landwirtschaft der Indigenen in den Oasen wird das Wasser immer knapper. Die Indigenen wurden auch zu den Lithiumprojekten nicht konsultiert. Das verstößt gegen die UN-Konvention für indigene Völker.8
Lithium und der Putsch in Bolivien
Die größten Lithiumreserven liegen unter der Salzwüste Salar de Uyuni in Bolivien. Allerdings werden sie bisher kaum abgebaut. Die sozialistische Regierung von Evo Morales hat Lithium zum strategischen Rohstoff erklärt mit dem langfristigen Ziel, Bolivien zu einem weltweit führenden Hersteller von Batterien zu machen, also die Wertschöpfung im Land zu behalten. Es gab hier zunächst einen Konflikt mit lokalen Kräften der Provinz Potosí, wo die Vorkommen liegen. Diese wollten möglichst bald von Lizenzgebühren profitieren und waren auch mit der Wahl des strategischen Partners für die Erschließung nicht einverstanden. Das sollte die deutsche Firma ACI Systems sein, die auch Tesla mit Batterien beliefert, und die sich verpflichtete, auch eine Fabrik für Batterien für den südamerikanischen Markt zu bauen und bolivianische Mitarbeiter:innen auszubilden und zu qualifizieren. Das sollte einerseits einen Technologietransfer für Bolivien bringen, andererseits sollte durch das Joint Venture natürlich auch Deutschland Zugang zum begehrten Lithium bekommen.
Der Konflikt zwischen Potosí und der Zentralregierung wurde mit Demonstrationen, Hungerstreiks und blutigen Polizeieinsätzen ausgetragen. Morales stoppte schließlich den Vertrag mit ACI.9 Bei den kurz darauf folgenden Präsidentenwahlen, zu denen Morales zum vierten Mal antrat, behauptete die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die die Wahl überwachen sollte, Wahlbetrug festgestellt zu haben. Der Vorwurf wurde später widerlegt. Rechte Kräfte nahmen den angeblichen Wahlbetrug am 10. November 2019 als Vorwand für einen Putsch.10 Die OAS wird zu 60 Prozent von den USA finanziert. Morales beschuldigte also die USA, hinter dem Putsch zu stehen. Die TrumpAdministration begrüßte den Putsch offiziell.
Nur am Rand: Elon Musk tweetete einige Zeit später: „Wir putschen gegen wen wir wollen, schluckt das!“11
Die Putschregierung annullierte den Vertrag mit ACI endgültig und machte so den Weg frei für den Ausverkauf bolivianischen Lithiums an transnationale Konzerne. Die investigative Plattform „Declassified“ berichtete von hektischen Aktivitäten der britischen Botschaft nach dem Putsch, um in Verhandlungen über Lithium einzutreten.12
Der Widerstand gegen den Putsch war aber stark genug, um Neuwahlen zu erzwingen. Diese Wahlen fanden 2020 statt und wurden von Luis Arce, einem Parteigenosse von Morales gewonnen, diesmal mit unbestreitbarem Vorsprung, und die Verhandlungen mit ACI wurden wieder aufgenommen mit dem Ziel, bessere Bedingungen für Bolivien zu erreichen.13
Widerstand gegen Lithiumabbau in Europa
Die EU strebt natürlich auch danach, den Bedarf an kritischen Mineralien im Inneren und im näheren Umkreis zu decken. Doch hier stößt der Lithiumabbau auf prinzipiellen Widerstand.
So ist Barroso, eine Landschaft im Norden Portugals, die von der FAO zum „Landwirtschaftlichen Kulturerbe“ erklärt worden ist, vom Lithium-Gewinnung im Tagebau bedroht.
In Serbien haben die Proteste gegen geplanten Lithiumabbau dazu geführt, dass die Regierung die Lizenz für den Großkonzern Rio Tinto aufgehoben hat.
Das Rennen um kritische Rohstoffe
Warum ist das Rennen um kritische Rohstoffe so erbittert?
Laut einer Prognose der Investment-Bank Goldman Sachs sollen im Jahr 2050 drei Milliarden PKWs auf dem Planeten unterwegs sein, also mehr als doppelt so viele wie heute, davon 19 % Elektrofahrzeuge und 9 % mit Wasserstoff oder mit Flüssiggas betrieben.
Abbildung 1: PKW im Jahr 2050 laut Goldman Sachs Orange: Verbrenner, blau: Elektroautos, gelb: alternative Kraftstoffe (z.B. Wasserstoff) Quelle: https://www.fuelfreedom.org/cars-in-2050/
Das Szenario der Internationalen Energieagentur sagt, es müssen 33 % E-Autos sein. Die Gesamtzahl von drei Milliarden Autos wird aber nicht in Frage gestellt.14 Niemand fragt sich: „Wie können wir mit dem auskommen, was wir haben?“, sondern man schätzt den Bedarf an diesen kritischen Rohstoffen auf Grund des vorhergesagten Wirtschaftswachstums, und da ist der Druck, sich diese Ressourcen zu beschaffen, natürlich umso größer.
Laut OECD soll die gesamte Weltwirtschaft sich bis 2050 verdoppeln, von heute 100 Billionen Dollar auf 200 Billionen, in Kaufkraft gemessen.15 Wir sollen also 2050 doppelt so viel von allem herstellen und verbrauchen wie heute. Das bedeutet aber, dass sich der Bedarf an Rohstoffen generell auch verdoppeln wird, leicht gemildert durch verbessertes Recycling.
Eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung von Wissenschaftler:innen der Universität Valladolid kam zum Ergebnis: Wenn man den gegenwärtigen Trend zur E-Mobilität in die Zukunft fortschreibt, würde der akkumulierte Verbrauch an Lithium bis 2050 120 % der jetzt bekannten Reserven ausmachen. Bei einem Szenarium mit hohem Anteil an E-Autos beträgt diese Zahl 300 %, bei einem Szenario mit Schwergewicht auf leichten E-Fahrzegen wie E-Bikes knapp unter 100 %, und nur bei einem Degrowth-Szenario würden wir bis 2050 erst 50 % der Vorkommen abgebaut haben. Ähnlich sehen die Ergebnisse für Kobalt und Nickel aus.16
Abbildung 2: Quelle: Pulido-Sánchez, Daniel; Capellán-Pérez, Iñigo; Castro, Carlos de; Frechoso, Fernando (2022): Material and energy requirements of transport electrification. In: Energy Environ. Sci. 15 (12), S. 4872–4910 https://pubs.rsc.org/en/content/articlelanding/2022/EE/D2EE00802E
Eine bloße Änderung der Energiebasis wird also am Wettlauf um Ressourcen nichts ändern. Er wird sich nur verlagern von Öl und Kohle auf andere Materialien. Und es geht bei diesem Wettlauf nicht nur darum, die Verfügung über die Rohstoffe zu bekommen, sondern auch um die Beherrschung des Marktes.
Die Beherrschung der Märkte
Ich möchte auf ein historisches Beispiel verweisen: Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze schreibt über die Ziele des späteren deutschen Reichskanzler Gustav Stresemann als Reichstagsabgeordneter im 1. Weltkrieg: Die Ausweitung des deutschen Hoheitsgebiets durch die Eingliederung Belgiens, der französischen Küste bis Calais, Marokko und zusätzlichen Gebieten im Osten fand er ‚notwendig‘, weil sie Deutschland eine adäquate Plattform für den Wettbewerb mit Amerika verschaffen konnte. Keine Volkswirtschaft, die nicht über einen garantierten Markt von mindestens 150 Millionen Abnehmern verfügte, würde sich mit den Vorteilen der Massenproduktion in den USA messen können.17
Das ist die Logik, die den Ersten und Zweiten Weltkrieg bestimmte, das ist die Logik, die die Ausweitung der EU bestimmt, das ist die Logik, die den Krieg Russlands gegen die Ukraine bestimmt, das ist die Logik, die den Konflikt zwischen den USA und China bestimmt. Es ist nicht so, dass derjenige, der besser und günstiger produziert, den Markt beherrschen wird, sondern umgekehrt, wer den größeren Markt beherrscht, kann die wirtschaftlichen Vorteile der Massenproduktion besser ausnützen und sich gegen die Konkurrenz durchsetzen.
Es geht in den Kriegen der Neuzeit nicht nur darum, wer wem Ressourcen wegnehmen kann, wer wessen Arbeitskraft ausbeuten kann, sondern auch – und vielleicht sogar in erster Linie – darum, wer wem was verkaufen kann. Das ist die Logik einer Wirtschaftsweise, die auf Konkurrenz beruht und auf dem Einsatz von Kapital zur Erzeugung von noch mehr Kapital. Da geht es gar nicht um die Gier von bösen Kapitalisten, sondern um die Struktur der Wirtschaftsweise: Wenn Sie ein Unternehmen leiten, müssen Sie Gewinne machen, um in Innovationen investieren zu können, damit sie nicht hinter der Konkurrenz zurückbleiben. Die Villa und die Yacht sind angenehme Nebenerscheinungen, aber das Ziel ist die Vermehrung des Kapitals, um im Geschäft bleiben zu können. Innovationen führen dazu, dass Sie entweder mit derselben Arbeit mehr produzieren können, oder dasselbe mit weniger Arbeit. Aber da ihr Produkt durch die Innovation billiger wird, müssen Sie mehr davon verkaufen, um die nötigen Gewinne für neue Investitionen zu machen. Dabei werden Sie noch vom Staat und von den Gewerkschaften unterstützt, denn wenn Sie Ihren Absatz nicht ausweiten können, gehen Arbeitsplätze verloren. Sie dürfen sich nicht fragen: Braucht die Welt mein Produkt eigentlich, ist das gut für die Menschen? Sondern Sie fragen sich, wie kann ich die Leute dazu bringen, es zu kaufen? Durch Werbung, dadurch, dass ich es künstlich schnell veralten oder kaputtgehen lasse, dadurch, dass ich die Konsument:innen über die wahren Eigenschaften im Unklaren lasse, dass ich sie danach süchtig mache, wie im Fall der Tabakindustrie, oder dass ich überhaupt, wie im Fall von Panzern und dergleichen, es von den Steuerzahler:innen bezahlen lasse. Natürlich bringt die kapitalistische Wirtschaftsweise auch gute und nützliche Produkte hervor, aber es ist für die Verwertung des Kapitals unerheblich, ob das Produkt nützlich oder schädlich ist, solange es verkaufbar ist.
Die Grenzen des Planeten und die Grenzen des Nachbarn
Diese Wirtschaftsweise muss zwangsläufig an die Grenzen des Planeten stoßen, und sie muss immer wieder an die Grenzen des Nachbarn stoßen. Dieses Wirtschaftssystem erlaubt uns nicht zu sagen: So, wir haben jetzt eigentlich genügend von allem, mehr brauchen wir nicht. Eine „Degrowth“-Wirtschaftsweise, eine Wirtschaftsweise, die nicht zu unendlichem Wachstum tendiert, muss prinzipiell anders organisiert sein. Und das Prinzip muss sein: Der Kreis der Konsument:innen und Produzent:innen – und und mit Produzent:innen meine ich jene, die die Arbeit machen – muss demokratisch bestimmen, was, wie, in welcher Qualität, in welcher Menge produziert wird. Welche Bedürfnisse sind grundlegend und unverzichtbar, was ist fein, wenn man es hat, und was ist überflüssiger Luxus? Wie können wir die wahren Bedürfnisse mit möglichst geringem Einsatz von Energie, Material und öder Routinearbeit befriedigen?
Wie lässt sich das organisieren? Ein funktionierendes Beispiel scheint es bis jetzt auf der Welt nicht zu geben. Vielleicht ist ein Denkanstoß der Klimarat der Bürger:innen. Das waren in Österreich 100 zufällig und repräsentativ für die Gesellschaft ausgewählte Menschen, die – von Expert:innen beraten – Vorschläge ausgearbeitet haben, wie Österreich seine Klimaziele erreichen könnte. Leider hat dieser Rat keine Macht, seine Vorschläge durchzusetzen. Solche Bürger:innenräte, die sowohl über wirtschaftliche als auch über politische Entscheidungen beraten, könnte es auf allen Ebenen der Gesellschaft geben, auf Gemeinde- Landes-, Bundesebene und auch auf europäischer Ebene. Und über ihre Empfehlungen müsste dann auch demokratisch abgestimmt werden. Die Unternehmen müssten auf das Gemeinwohl verpflichtet werden anstatt auf den Shareholder-Value. Und wenn privatwirtschaftliche Unternehmen das nicht leisten können oder wollen, müssen ihre Aufgaben durch genossenschaftliche, kommunale oder staatliche Unternehmen übernommen werden. Nur eine solche Wirtschaftsweise wird nicht an die Grenzen des Planeten und nicht an die Grenzen des Nachbarn stoßen. Nur eine solche Wirtschaftsweise kann daher die Voraussetzungen für dauerhaften Frieden schaffen.
Gesichtet: Petra Seibert
Titelfoto: Bucha, Ukraine, April 2022: Rodrigo Abd via flickr, CC BY
16 Pulido-Sánchez, Daniel; Capellán-Pérez, Iñigo; Castro, Carlos de; Frechoso, Fernando (2022): Material and energy requirements of transport electrification. In: Energy Environ. Sci. 15 (12), S. 4872–4910. DOI: 10.1039/D2EE00802E
17 Tooze, Adam (2006): Ökonomie der Zerstörung, München
Wolfgang Schöfberger, Professor am Institut für Organische Chemie der Johannes Kepler Universität Linz
Die Welt-Meteorologie Organisation (WMO) hat einen neuen Klimabericht veröffentlicht und warnt erneut vor dem Überschreiten der 1,5 °C-Schwelle [1]. Demnach könnten die Durchschnittstemperaturen schon in den nächsten fünf Jahren zeitweise die Marke von 1,5 Grad überschreiten. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies in den nächsten fünf Jahre mindestens einmal passiert, läge bei 50 %. Der Wert von 1,5°C ist ein Indikator für den Punkt, an dem die Klimaauswirkungen für die Menschen und den gesamten Planeten zunehmend schädlich werden. Da die Reduktion der CO2-Emissionen alleine leider nicht ausreichen wird, müssen auch andere Wege wie z.B. die Speicherung und Verwertung von CO2 verstärkt angegangen werden. Ein möglicher Ansatz dazu ist die Verwertung durch eine elektrochemische Reduktion von Kohlendioxid zu Brennstoffen wie Methan, Methanol, Ethanol, einer sogenannten „Dream Reaction“, an der bereits seit mehr als einem Jahrhundert geforscht wird. Wenn die elektrische Energie, die für diese Umwandlung notwendig ist, aus erneuerbaren Energien aufgebracht werden kann, wird ein völlig nachhaltiger und klimafreundlicher Zyklus ermöglicht. Das Team des „SchoefbergerLabs“ an der Johannes Kepler Universität Linz hat neue molekulare Katalysatoren erfunden, die CO2 effizient auf günstigen Kohlenstoff-Papier-Elektroden in Kohlenmonoxid (CO), Ethylen, Methanol, Ethanol oder Essigsäure umwandeln können. Die so entstandenen Produkte können unter Verwendung bestehender Technologien in eine Reihe nützlicher Chemikalien umgewandelt werden, wodurch ein effizienter Weg zur Nutzung von CO2 offensteht. Langzeitversuche an einer typischen Rauchgasmischung (CO2, NOx, O2, O2, CO) bestätigten, dass die Katalysatoren aktiv bleiben und ein Hochskalieren des Prozesses möglich ist. Im Rahmen eines FFG Projekts wird nun eine Versuchsanlage an der JKU gebaut und bis Ende 2023 fertiggestellt. Diese Laboranlage wird danach für Unternehmen zu Demonstrationszwecken zugänglich sein.
Die wissenschaftlichen Arbeiten werden vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF), der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) und dem Land Oberösterreich unterstützt. Die Forschungsergebnisse wurden unter anderem in den Fachjournalen Nature Communications und Angewandte Chemie publiziert. [2-4]
Molecular Cobalt Corrole Complex for the Heterogeneous Electrocatalytic Reduction of Carbon Dioxide, S. Gonglach, W. Schöfberger* et al., Nat. Commun. 2019, 3864. https://doi.org/10.1038/s41467-019-11868-5
Electrocatalytic Reduction of CO2 to Acetic Acid by a Molecular Manganese Corrole Complex, S. Gonglach, W. Schöfberger* et al., Angew. Chem. 2020, 59, 26, 10527. https://doi.org/10.1002/anie.202000601
Tuning the Electronic Properties of Homoleptic Silver(I) bis-BIAN Complexes towards Efficient Electrocatalytic CO2, Reduction, D. Krisch, W. Schöfberger* et al. 2022, Catalysts 12, 5: 545. https://doi.org/10.3390/catal12050545
In Graz haben Aktivist:innen der Letzten Generation heute früh durch eine Straßenblockade auf die dramatischen Klimafolgen hingewiesen, auf die unser Planet ohne deutlichen Klimaschutz zusteuert. Zahlreiche Wissenschafter:innen waren vor Ort. Sie bringen damit zum Ausdruck, dass die Klimasorgen mehr als berechtigt sind. Bereits im März 2019 haben über 26.000 Wissenschafter:innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz – davon rund 2000 aus Österreich – eine unmissverständliche und klare Stellungnahme unterschrieben: Die Sorgen der jungen Menschen sind berechtigt. Vier Jahre später ist die Klimakrise weiter gefährlich angewachsen und diese Sorgen ernst zu nehmen ist dringlicher denn je. In unseren wissenschaftlichen Studien sehen wir, wie zerstörerisch die Folgen für uns alle sein werden, wenn wir nicht umgehend für viel mehr Klimaschutz sorgen. Wir schließen daraus, dass ein volles Bewusstsein über diese Folgen bei einer breiten Mehrheit zu wohl wesentlich mehr Klimaschutz führen würde, als wir derzeit in Österreich beobachten können. Wir sehen es daher als unsere Verantwortung als Bürger:innen, auf diese Folgen hinzuweisen, und dies auch als Wissenschafter:innen auf Einladung aller gesellschaftlichen Kräfte zu tun. Mit den Aktivist:innen der Letzten Generation sind wir dazu auch im Austausch, wie nächste Schritte einer Umsetzung und gesellschaftlichen Entscheidung hin zu deutlich mehr Klimaschutz gelingen können. Klug gestaltet bringt Klimaschutz zudem mehr von vielem: von Gesundheit über Arbeitsplätze bis zu Lebensqualität. Während die Protestform umstritten ist, zeigen Beispiele aus der Geschichte, dass ziviler Ungehorsam ein wesentlicher Katalysator sein kann für wichtige gesellschaftliche Änderungen, deren Resultate uns heute völlig normal erscheinen, wie etwa Frauenwahlrecht und Bürger:innenrechte. Die Situation ist heute im Hinblick auf die Klimafolgen kritisch – gesellschaftliche Diskussion und gemeinsame Entscheidungen sind daher in unser aller ureigenstem Interesse.
Univ.-Prof. Dr. Karl Steininger, Klimaökonom Assoz.-Prof. Dr. Thomas Brudermann, Nachhaltigkeitsforscher Univ.-Prof. Anke Strüver, PhD, Stadtgeographin
Das Originaldokument mit den weiteren Unterzeichner:innen:
Es ist nicht leicht, in Österreich klimafreundlich zu leben. In allen Bereichen der Gesellschaft, von Arbeit und Pflege über Wohnen bis zu Mobilität, Ernährung und Freizeit sind tiefgreifende Veränderungen notwendig, um dauerhaft ein gutes Leben für alle zu ermöglichen, ohne die Grenzen des Planeten zu sprengen. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen zu diesen Fragen haben österreichische Top-Wissenschaftler:innen in zweijähriger Arbeit zusammengetragen, gesichtet und bewertet. So ist dieser Bericht entstanden, der Antwort geben soll auf die Frage: Wie können die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so gestaltet werden, dass ein klimafreundliches Leben möglich ist?
Koordiniert hat die Arbeit am Bericht Dr. Ernest Aigner, der auch Scientist for Future ist. Im °CELSIUS-Interview gibt er Auskunft über die Entstehung, den Inhalt und die Ziele des Berichts. (Weitere Interviews mit Autor:innen zu den verschiedenen Themenfeldern werden folgen)
°CELSIUS: Erste Frage: Was ist dein Hintergrund, was sind die Gebiete, auf denen du arbeitest?
Ernest Aigner Foto: Martin Auer
ERNEST AIGNER: Bis letzten Sommer war ich an der Wirtschaftsuniversität Wien am Department für Sozioökonomie angestellt. Mein Hintergrund ist ökologische Ökonomie, also ich habe sehr viel zu der Schnittstelle Klima, Umwelt und Wirtschaft gearbeitet – aus verschiedenen Blickwinkeln – und im Rahmen dessen habe ich eben in den letzten beiden Jahren – von 2020 bis 2022 – den Bericht „Strukturen für ein Klimafreundliches Leben“ mit herausgegeben und koordiniert. Jetzt bin bei der „Gesundheit Österreich GmbH“ in der Abteilung „Klima und Gesundheit“, in der wir zum Zusammenhang Klimaschutz und Gesundheitsschutz arbeiten.
°CELSIUS: Das ist ein Bericht des APCC, des „Austrian Panel on Climate Change“. Was ist das APCC und wer ist das?
ERNEST AIGNER: Das APCC ist sozusagen das österreichische Pendant zum Intergovernmental Panel on Climate Change, auf Deutsch „Weltklimarat“. Das APCC ist angesiedelt an das CCCA, das ist das Zentrum für Klimaforschung in Österreich, und dieses gibt die APCC-Berichte heraus. Der erste von 2014 war ein allgemeiner Bericht, der den Stand der Klimaforschung in Österreich so zusammenfasst, dass Entscheidungstragende und auch die Öffentlichkeit informiert werden, was die Wissenschaft zum Klima im breitesten Sinne zu sagen hat. In regelmäßigen Abständen werden Special Reports herausgegeben, die sich mit speziellen Themenfeldern beschäftigen. Es hat zum Beispiel einen Special Report gegeben zu „Klima und Tourismus“, dann hat es einen zum Thema Gesundheit gegeben, und der kürzlich veröffentlichte „Strukturen für ein klimafreundliches Leben“ fokussiert auf Strukturen.
Strukturen: Was ist eine „Straße“?
°CELSIUS: Was sind „Strukturen“? Das kling furchtbar abstrakt.
ERNEST AIGNER: Ganz genau, es ist furchtbar abstrakt, und wir hatten selbstverständlich viele Debatten dazu. Ich würde einmal sagen, zwei Dimensionen sind besonders für diesen Bericht: Das eine ist, dass es ein sozialwissenschaftlicher Bericht ist. Die Klimaforschung wird ja oft sehr stark von den Naturwissenschaften geprägt, weil sie sich mit Meteorologie beschäftigt und mit Geowissenschaften und so weiter, und dieser Bericht ist ganz klar in den Sozialwissenschaften verankert und argumentiert eben, dass sich Strukturen verändern müssen. Und Strukturen sind all jene Rahmenbedingungen, die das alltägliche Leben prägen und gewisse Handlungen ermöglichen, gewisse Handlungen verunmöglichen, manche Handlungen nahelegen und andere Handlungen eher nicht nahelegen.
Ein klassisches Beispiel ist ein Straße. Da würde man zuerst über Infrastruktur nachdenken, das ist also alles Physische, aber dann gibt es auch das ganze rechtliche Regelwerk, also die Rechtsnormen. Die machen die Straße erst zur Straße, und so ist der rechtliche Rahmen auch eine Struktur. Dann ist natürlich auch eine Voraussetzung um die Straße benutzen zu können, das Eigentum an einem Auto zu haben beziehungsweise die Möglichkeit, eines zu kaufen. Insofern spielen auch Preise eine zentrale Rolle, Preise und Steuern und Förderungen, auch diese stellen eine Struktur dar. Ein weiterer Aspekt ist natürlich, ob Straßen oder das Benutzen von Straßen mit dem Auto positiv oder negativ dargestellt wird – wie darüber gesprochen wird. In dem Sinn kann man über mediale Strukturen sprechen. Selbstverständlich spielt auch eine Rolle, wer die größeren Autos fährt, wer die kleineren, wer mit dem Rad fährt. Insofern spielt auch soziale und räumliche Ungleichheit in der Gesellschaft eine Rolle – also wo man lebt und welche Möglichkeiten man hat. So kann man aus sozialwissenschaftlicher Perspektive systematisch verschiedene Strukturen abarbeiten und sich die Frage stellen, inwiefern diese jeweiligen Strukturen in den jeweiligen Fachgebieten ein klimafreundliches Leben erschweren oder erleichtern. Und das war der Zweck dieses Berichts.
Vier Sichtweisen auf Strukturen
°CELSIUS: Der Bericht ist ja einerseits strukturiert nach Handlungsfeldern und andererseits nach Herangehensweisen, also z. B. über den Markt oder über tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen oder technologische Innovationen. Kann man das ein bisschen näher ausführen?
Sichtweisen
Marktperspektive: Preissignale für klimafreundliches Leben… Innovationsperspektive: soziotechnische Erneuerung von Produktions- und Konsumptionssystemen… Bereitstellungsperspektive: Bereitstellungssysteme, die suffiziente und resiliente Praktiken und Lebensformen erleichtern… Gesellschafts-Natur-Perspektive: Verhältnis Mensch und Natur, Kapitalakkumulation, soziale Ungleichheit…
ERNEST AIGNER: Ja, im ersten Abschnitt werden verschiedene Herangehensweisen bzw. Theorien beschrieben. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht ist es klar, dass verschiedene Theorien nicht zum selben Ergebnis kommen. Insofern können verschiedene Theorien in unterschiedliche Gruppen eingeteilt werden. Wir im Bericht schlagen vier Gruppen vor, vier verschiedene Herangehensweisen. Die eine Herangehensweise, die viel in der öffentlichen Debatte ist, ist der Fokus auf Preismechanismen und auf Marktmechanismen. Eine zweite, die zunehmend Aufmerksamkeit erhält, aber nicht so prominent ist, sind die verschiedenen Versorgungsmechanismen und Bereitstellungsmechanismen: Wer die Infrastruktur bereitstellt, wer den Rechtsrahmen bereitstellt, wer die Versorgung mit Dienstleistungen und Gütern bereitstellt. Eine dritte Perspektive, die wir in der Literatur identifiziert haben, ist der Fokus auf Innovationen im breiten Sinn, also zum einen natürlich technische Aspekte von Innovationen, aber auch alle sozialen Mechanismen, die damit einhergehen. Zum Beispiel bei der Etablierung von Elektroautos oder E-Scootern verändert sich nicht nur die Technik, die dem zugrunde liegt, sondern auch die sozialen Verhältnisse. Die vierte Dimension, das ist die Gesellschaft-Natur-Perspektive, das ist das Argument, dass man auf große wirtschaftliche und geopolitische und soziale langfristige Trends achten muss. Dann wird erkenntlich, wieso Klimapolitik in vielerlei Hinsicht nicht so erfolgreich ist, wie man erhoffen würde. Zum Beispiel Wachstumszwänge, aber auch geopolitische Gemengelagen, demokratiepolitische Fragestellungen. Also wie die Gesellschaft sich auch zum Planeten verhält, wie wir die Natur verstehen, ob wir die Natur als eine Ressource verstehen oder uns als Teil der Natur verstehen. Das wäre die Gesellschafts-Natur-Perspektive.
Die Handlungsfelder
Aufbauend auf diesen vier Perspektiven gibt es die Handlungsfelder. Da sind die, die oft in der Klimapolitik diskutiert werden: Mobilität, Wohnen, Ernährung, und dann noch mehrere andere, bisher nicht so oft diskutierte, wie zum Beispiel das Thema Erwerbsarbeit, das Thema Sorgearbeit.
Handlungsfelder
Wohnen, Ernährung, Mobilität, Erwerbsarbeit, Sorgearbeit, Freizeit und Urlaub
Dann versucht der Bericht Strukturen zu identifizieren, die diese Handlungsfelder prägen. Zum Beispiel der Rechtsrahmen ist prägend dafür, wie klimafreundlich gewohnt wird. Die Governance-Mechanismen, zum Beispiel der Föderalismus, wer welche Entscheidungskompetenzen hat, welche Rolle die EU hat, sind prägend, inwiefern Klimaschutz durchgesetzt wird oder wie rechtsverbindlich ein Klimaschutzgesetz eingeführt wird – oder eben auch nicht. Dann geht’s weiter: wirtschaftliche Produktionsprozesse oder die Wirtschaft als solches, Globalisierung als eine globale Struktur, Finanzmärkte als eine globale Struktur, soziale und räumliche Ungleichheit, die Versorgung mit sozialstaatlichen Dienstleistungen, und selbstverständlich ist auch die Raumplanung ein wesentliches Kapitel. Bildung, wie das Bildungssystem funktioniert, ob es auch auf Nachhaltigkeit ausgerichtet ist oder nicht, inwiefern die notwendigen Kompetenzen beigebracht werden. Dann die Frage der Medien und der Infrastrukturen, wie das Mediensystem aufgebaut ist und welche Rolle Infrastrukturen haben.
Strukturen, die in allen Handlungsfeldern klimafreundliches Handeln behindern oder fördern
Recht, Governance und politische Beteiligung, Innovationssystem und -politik, Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, Globale Warenketten und Arbeitsteilung, Geld- und Finanzsystem, Soziale und räumliche Ungleichheit, Sozialstaat und Klimawandel, Raumplanung, Mediendiskurse und -strukturen, Bildung und Wissenschaft, netzgebundene Infrastrukturen
Transformationspfade : Wie kommen wir von hier nach dort?
All das, von den Betrachtungsweisen, zu den Handlungsfelder, zu den Strukturen, wird in einem letzten Kapitel verbunden zu Transformationspfaden. Die noch einmal systematisch aufbereiten, welche Gestaltungsoptionen besonders das Potential haben, Klimaschutz voranzutreiben, welche sich gegenseitig befruchten, wo es eventuell Widersprüche gibt, und das zentrale Ergebnis dieses Kapitels ist, dass sehr viel Potential darin liegt, dass man verschiedene Herangehensweisen in Verbindung bringt und verschiedene Gestaltungsoptionen unterschiedlicher Strukturen zusammen denkt. Damit schließt der Bericht als Gesamtes.
Mögliche Wege zur Transformation
Leitplanken für eine klimafreundliche Marktwirtschaft (Bepreisung von Emissionen und Ressourcenverbrauch, Abschaffung klimaschädlicher Subventionen, Technologieoffenheit) Klimaschutz durch koordinierte Technologieentwicklung (staatlich koordinierte technologische Innovationspolitik zur Effizienzsteigerung) Klimaschutz als staatliche Vorsorge (staatlich koordinierte Maßnahmen zur Ermöglichung klimafreundlichen Lebens, z. B. durch Raumordnung, Investition in öffentlichen Verkehr; rechtliche Regelungen zur Einschränkung klimaschädlicher Praktiken) Klimafreundliche Lebensqualität durch soziale Innovation (gesellschaftliche Neuorientierung, regionale Wirtschaftskreisläufe und Suffizienz)
Klimapolitik geschieht auf mehr als einer Ebene
°CELSIUS: Der Bericht ist ja sehr stark auf Österreich und Europa bezogen. Die globale Situation wird behandelt, insofern es da eine Wechselwirkung gibt.
ERNEST AIGNER: Ja, das Besondere an diesem Bericht ist, dass er sich auf Österreich bezieht. Das ist ja schon – aus meiner Sicht – eine der Schwächen dieser IPCC-Weltklimarat-Berichte, dass sie inhärent immer eine globale Perspektive als Ausgangspunkt nehmen müssen. Danach gibt es schon auch Unterkapitel für jeweilige Regionen wie Europa, ganz viel Klimapolitik passiert aber auf anderen Ebenen, sei es jetzt Gemeinde, Bezirk, Land, Bund, EU… Also der Bericht bezieht sich stark auf Österreich. Das ist auch der Zweck der Übung, allerdings wird Österreich schon als Teil einer globalen Wirtschaft verstanden. Deswegen gibt es auch das Kapitel über Globalisierung und ein Kapitel, das sich auf globale Finanzmärkte bezieht.
°CELSIUS: Es heißt auch „Strukturen für ein klimafreundliches Leben“ und nicht für ein nachhaltiges Leben. Die Klimakrise ist ja aber Teil einer umfassenden Nachhaltigkeitskrise. Ist das historisch bedingt, weil es das Austrian Panel on Climate Change ist, oder gibt’s da noch eine andere Begründung?
ERNEST AIGNER: Ja, das ist im Prinzip der Grund. Es handelt sich um einen Klimabericht, deswegen richtet sich der Fokus auf das klimafreundliche Leben. Allerdings, wenn man sich den aktuellen IPCC-Bericht ansieht oder die gegenwärtige Klimaforschung, kommt man relativ schnell zum Schluss, dass der reine Fokus auf Treibhausgasemissionen tatsächlich nicht zielführend sein wird. Daher haben wir uns auf Berichtsebene dafür entschieden, das klimafreundliche Leben wie folgt zu verstehen: „Klimafreundliches Leben sichert dauerhaft ein Klima, das ein gutes Leben innerhalb planetarer Grenzen ermöglicht.“ In diesem Verständnis ist zum einen die Betonung darauf, dass es eine klare Ausrichtung am guten Leben gibt, was bedeutet, dass soziale Grundbedürfnisse gesichert sein müssen, eine Grundversorgung besteht, dass Ungleichheit reduziert wird. Das ist die soziale Dimension. Auf der anderen Seite die Frage der planetaren Grenzen, da geht es nicht nur darum, die Treibhausgas-Emissionen zu reduzieren, sondern dass auch die Biodiversitätskrise eine Rolle spielt, oder Phosphor- und Nitratkreisläufe usw., und in diesem Sinne das klimafreundliche Leben deutlich breiter verstanden wird.
Ein Bericht nur für die Politik?
°CELSIUS: An wen wendet sich eigentlich der Bericht? Wer ist der Adressat?
Der Bericht wurde am 28. 11. 2022 der Öffentlichkeit vorgestellt Prof. Karl Steininger (Herausgeber), Martin Kocher (Arbeitsminister), Leonore Gewessler (Umweltministerin), Prof. Andreas Novy (Herausgeber) Foto: BMK / Cajetan Perwein
ERNEST AIGNER: Der Adressat sind zum einen all jene, die Entscheidungen treffen, die ein klimafreundliches Leben erleichtern oder erschweren. Das ist natürlich nicht bei allen gleich. Zum einen auf jeden Fall die Politik, gerade jene Politiker:innen, die besondere Kompetenzen haben, offensichtlich das Klimaschutzministerium, aber selbstverständlich auch das Arbeits- und Wirtschaftsministerium oder Sozial- und Gesundheitsministerium, auch das Bildungsministerium. Also die jeweiligen Fachkapitel adressieren die jeweiligen Ministerien. Aber auch auf Länderebene all jene, die die Kompetenzen haben, auch auf Gemeindeebene, und selbstverständlich entscheiden auch Unternehmen in vielerlei Hinsicht, ob klimafreundliches Leben ermöglicht oder erschwert wird. Offensichtliches Beispiel ist, ob die jeweiligen Lade-Infrastrukturen zur Verfügung stehen. Weniger diskutierte Beispiele sind, ob die Arbeitszeitarrangements überhaupt ermöglichen, klimafreundlich zu leben. Ob ich so arbeiten kann, dass ich mich in meiner Freizeit oder im Urlaub klimafreundlich fortbewegen kann, ob der Arbeitgeber Home-Office ermöglicht oder erlaubt, mit welchen Rechten das in Verbindung steht. Das sind dann auch Adressat:innen…
Protest, Widerstand und öffentliche Debatte sind zentral
…und selbstverständlich die öffentliche Debatte. Weil tatsächlich ganz klar aus diesem Bericht hervorkommt, dass Protest, Widerstand, öffentliche Debatte und mediale Aufmerksamkeit zentral sein werden, um klimafreundliches Leben zu erreichen. Und der Bericht versucht zu einer fundierten öffentlichen Debatte beizutragen. Mit dem Ziel, dass sich die Debatte am aktuellen Stand der Forschung orientiert, dass sie relativ nüchtern die Ausgangssituation analysiert und versucht, Gestaltungsoptionen auszuhandeln und koordiniert umzusetzen.
Foto: Tom Poe
°CELSIUS: Und wird jetzt der Bericht in den Ministerien gelesen?
ERNEST AIGNER: Das kann ich nicht beurteilen, weil ich nicht weiß, was in den Ministerien gelesen wird. Wir sind mit unterschiedlichen Akteuren in Kontakt, und zum Teil haben wir schon auch gehört, dass die Zusammenfassung zumindest von Referent:innen gelesen worden ist. Ich weiß, die Zusammenfassung ist schon sehr oft heruntergeladen worden, wir bekommen immer wieder Anfragen zu verschiedenen Themen, aber selbstverständlich würden wir uns noch mehr mediale Aufmerksamkeit wünschen. Es gab eine Pressekonferenz mit Herrn Kocher und Frau Gewessler. Das wurde auch medial rezipiert. Es gibt immer wieder Zeitungsartikel dazu, aber selbstverständlich ist aus unserer Sicht da noch Raum nach oben. Insbesondere kann auf den Bericht sehr oft verwiesen werden, wenn gewisse Argumente eingebracht werden, die aus klimapolitischer Sicht nicht haltbar sind.
Die gesamte wissenschaftliche Community war einbezogen
°CELSIUS: Wie war denn eigentlich die Vorgangsweise? Da sind 80 Forschende beteiligt gewesen, aber die haben jetzt nicht eine neue Forschung begonnen. Was haben die gemacht?
ERNEST AIGNER: Ja, es handelt sich bei dem Bericht um kein originäres wissenschaftliches Projekt, sondern um eine Zusammenfassung der gesamten relevanten Forschung in Österreich. Das Projekt wird gefördert vom Klimafonds, der auch dieses APCC-Format vor 10 Jahren in die Wege geleitet hat. Dann wird ein Prozess initiiert, wo sich Forschende bereit erklären, unterschiedliche Rollen einzunehmen. Dann wurden die Mittel für die Koordination beantragt, und im Sommer 2020 hat dann der konkrete Prozess begonnen.
Wie auch beim IPCC ist das eine sehr systematische Vorgehensweise. Zum einen gibt es drei Ebenen von Autor:innen: Es gibt die Hauptautor:innen, eine Ebene darunter die Leitautor:innen und eine Ebene darunter die beitragenden Autor:innen. Die koordinierenden Autor:innen haben die Hauptverantwortung über das jeweilige Kapitel, beginnen einen ersten Entwurf zu schreiben. Dieser Entwurf wird dann von allen anderen Autor:innen kommentiert. Die Hauptautor:innen müssen auf die Kommentare reagieren. Die Kommentare werden eingearbeitet. Dann wird ein weiterer Entwurf geschrieben und die gesamte wissenschaftliche Community wird gebeten, wiederum Kommentare abzugeben. Die Kommentare werden wieder beantwortet und eingearbeitet, und im nächsten Schritt wird dasselbe Prozedere nochmal gemacht. Und am Ende werden externe Akteure dazu geholt und gebeten, zu sagen ob alle Kommentare adäquat behandelt worden sind. Das sind noch einmal andere Forscher:innen.
°CELSIUS: Das heißt, es waren jetzt nicht nur die 80 Autor:innen beteiligt?
ERNEST AIGNER: Nein, es waren noch 180 Reviewer:innen. Aber das ist nur der wissenschaftliche Prozess. Alle Argumente, die im Bericht verwendet werden, müssen literaturbasiert sein. Forscher:innen können nicht ihre eigene Meinung schreiben, oder was sie denken, was stimmt, sondern tatsächlich können sie nur Argumente machen, die sich so auch in der Literatur wiederfinden, und sie müssen diese Argumente dann auf Basis der Literatur einschätzen. Sie müssen sagen: Dieses Argument wird von der gesamten Literatur geteilt und es gibt sehr viel Literatur dazu, also das gilt als gesichert. Oder sie sagen: Da gibt’s nur eine Publikation dazu, nur schwache Evidenz, es gibt widersprüchliche Ansichten, dann müssen sie das auch anführen. Insofern handelt es sich um eine bewertende Zusammenfassung des Stands der Forschung mit Hinblick auf die wissenschaftliche Qualität zur jeweiligen Aussage.
Alles, was in dem Bericht steht, basiert auf einer Literaturquelle, und insofern sind die Aussagen immer mit Hinblick auf die Literatur zu lesen und auch zu verstehen. Wir haben dann auch darauf geachtet, dass in der Zusammenfassung für Entscheidungstragende jeder Satz für sich steht und immer klar ist, auf welches Kapitel sich dieser Satz bezieht, und im jeweiligen Kapitel kann dann recherchiert werden, auf welche Literatur sich dieser Satz bezieht.
Stakeholder aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wurden eingebunden
Bis jetzt habe ich nur über den wissenschaftlichen Prozess gesprochen. Es hat begleitend einen sehr umfassenden Stakeholderprozes gegeben, und im Rahmen dessen hat es auch einen Online-Workshop und zwei physische Workshops mit jeweils 50 bis 100 Stakeholder:innen gegeben.
°CELSIUS: Wer waren die? Wo kamen die her?
ERNEST AIGNER: Aus Wirtschaft und Politik, aus der Klimagerechtigkeitsbewegung, aus Verwaltung, Unternehmen, Zivilgesellschaft – aus unterschiedlichsten Akteursfeldern. Also möglichst breit aufgestellt und immer in Bezug zu den jeweiligen Themenfeldern.
°CELSIUS: Diese Menschen, die ja keine Wissenschaftler:innen waren, die mussten sich da jetzt durcharbeiten?
ERNEST AIGNER: Da gab es verschiedene Zugänge. Der eine war, dass man online die jeweiligen Kapitel kommentiert. Die mussten sich da durcharbeiten. Der andere war, dass wir Workshops organisiert haben, um einen besseren Einblick zu bekommen, was die Stakeholder brauchen, also welche Informationen für sie hilfreich sind, und zum anderen ob sie noch Hinweise haben, welche Quellen wir noch beachten sollen. Die Ergebnisse des Stakeholderprozesses wurden in einem eigenen Stakeholderbericht veröffentlicht.
Ergebnisse aus dem Stakeholder-Workshop
Viel freiwillige unbezahlte Arbeit steckt in dem Bericht
°CESLSIUS: Also insgesamt ein sehr aufwendiger Prozess.
ERNEST AIGNER: Das ist nichts, was man einfach nur kurz hinschreibt. Diese Zusammenfassung für Entscheidungsträger:innen, da haben wir fünf Monate daran gearbeitet… Es sind gesamt ´gut 1000 bis 1500 Kommentare eingearbeitet worden, und es haben 30 Autor:innen wirklich mehrmals gelesen und bis auf jedes Detail abgestimmt. Und dieser Prozess passiert nicht im luftleeren Raum, ist aber tatsächlich im Wesentlichen unbezahlt geschehen, das muss man schon auch sagen. Die Bezahlung für diesen Prozess betraf die Koordination, also ich war finanziert. Die Autor:innen haben eine kleine Anerkennung bekommen, die nie und nimmer ihre Aufwände reflektiert. Die Reviewer:innen haben keine finanziellen Mittel erhalten, die Stakeholder:innen auch nicht.
Eine wissenschaftliche Basis für den Protest
°CELSIUS: Wie kann die Klimagerechtigkeitsbewegung diesen Bericht nützen?
ERNEST AIGNER: Ich denke der Bericht kann auf sehr viele Arten genutzt werden. Man sollte ihn auf jeden Fall ganz stark in die öffentliche Debatte einbringen, auch die Politik darauf hinweisen, was alles möglich ist und was nötig ist. Da werden ganz viele Gestaltungsoptionen aufgezeigt. Ein wesentlicher Punkt ist hier auch: Der Bericht verweist sehr explizit darauf, dass, wenn es kein stärkeres Engagement aller Akteure gibt, dass die Klimaziele schlicht verfehlt werden. Das ist der Stand der Forschung, da gibt es Einigkeit im Bericht, und diese Message muss an die Öffentlichkeit kommen. Die Klimagerechtigkeitsbewegung wird sehr viele Argumente finden, wie klimafreundliches Leben im Zusammenhang mit Einkommens- und Vermögensungleichheit betrachtet werden kann. Auch welche Bedeutung die globale Dimension hat. Es gibt viele Argumente dazu, die die Beiträge der Klimagerechtigkeitsbewegung schärfen und auf eine bessere wissenschaftliche Basis stellen können.
Foto: Tom Poe
Es gibt auch eine Nachricht in dem Bericht, die lautet: „Durch Kritik und Protest hat die Zivilgesellschaft Klimapolitik ab 2019 weltweit zeitweise ins Zentrum öffentlicher Debatten gebracht“, also da ist schon relativ klar, dass das wesentlich ist. „Wesentlich hierfür war das koordinierte Handeln sozialer Bewegungen wie z. B. Fridays for Future, das zur Folge hatte, dass der Klimawandel als gesellschaftliches Problem diskutiert wird. Diese Entwicklung hat neue klimapolitische Gestaltungsspielräume eröffnet. Umweltbewegungen können ihr Potential allerdings nur dann entfalten, wenn sie von einflussreichen politischen Akteur_innen innerhalb und außerhalb der Regierung unterstützt werden.“ Das ist schon der nächste Aspekt: Die Bewegung baut Druck auf und kann Veränderungen herbeiführen, allerdings braucht es auch Akteure, die in den jeweiligen entscheidungsträchtigen Positionen sitzen, die dann auch tatsächlich Veränderungen umsetzen können.
°CELSIUS: Jetzt ist die Bewegung ja auch darauf aus, diese Entscheidungsstrukturen, die Machtverhältnisse zu verändern. Also zum Beispiel wenn man sagt: Na ja, Klimarat der Bürger:innen ist schön und gut, aber der braucht auch Kompetenzen, der braucht auch Entscheidungsbefugnisse. So etwas wäre eigentlich eine sehr große Veränderung in unseren demokratischen Strukturen.
ERNEST AIGNER: Ja, der Bericht sagt wenig bis nichts aus zum Klimarat, weil er gleichzeitig stattgefunden hat, insofern gibt es da keine Literatur, die aufgegriffen werden könnte. An und für sich würde ich dir da schon recht geben, aber nicht literaturbasiert, sondern aus meinem Hintergrund heraus.
°CELSIUS: Vielen Dank für das Gespräch!
Der Bericht wird Anfang 2023 als Open Access Buch bei Springer Spektrum erscheinen. Bis dahin sind die jeweiligen Kapitel auf der Homepage des CCCA verfügbar.
Kommen wir nur mit Energie aus erneuerbaren Quellen aus?
Um die globale Erwärmung einzuschränken wird es notwendig sein, die Energiegewinnung aus fossilen Brennstoffen drastisch zu reduzieren oder ganz zu beenden. Aber kann der globale Energiebedarf überhaupt nur mit erneuerbaren Quellen gedeckt werden? Um diese Frage zu beantworten, muss man sich zuerst die Frage stellen, wie viel Energie die Menschheit eigentlich braucht und in Zukunft brauchen wird. Dazu gibt es unterschiedliche Modelle und Szenarien, in manchen bleibt der Energiebedarf in etwa gleich, in manchen wird er ansteigen und in anderen sinken. Laut einer Prognose von Statista wird bis 2050 global jährlich fast anderthalbmal so viel Energie verbraucht werden, wie noch 2020.
„Die Forschung meines Teams folgt dem Prinzip eines stetigen Anstiegs der Energiedienstleistungen“ gibt auch Christian Breyer Scientists4Future gegenüber Auskunft. Der Professor für Solarwirtschaft an der finnischen LUT Universität ist einer der Autor:innen eines kürzlich erschienenen Papers[1], das die bisherige Forschung über Energiesysteme zusammenfasst, die zu 100% aus erneuerbarer Energie bestehen. Die zentrale These: Bis 2050 wäre es durchaus möglich, den globalen Energiebedarf kostengünstig mit erneuerbaren Quellen zu decken. Wichtige Elemente dabei sind neben der Gewinnung von nutzbarer Energie auch die Fähigkeit, sie zu speichern und die Art und Weise, wie sie verbraucht wird. Professor Breyer geht etwa von einer verstärkten Elektrifizierung aus: „teilweise reduziert das den finalen Energiebedarf (man denke an Fahrzeuge mit Elektrobatterien gegen Verbrennungsfahrzeuge) und es reduziert auch massiv den Bedarf an primärer Energie, durch das Auslaufenlassen von ineffizienten Verbrennungsprozessen“. Auch beim Heizen und Kühlen wären moderne Wärmepumpen effizienter, als heute übliche Prozesse und diese gesteigerte Effizienz sei wichtig, denn dass ein Großteil der Menschen ihren Lebenswandel ändern und zum Beispiel weniger oft ins Flugzeug steigen wird, glaubt Breyer nicht.
Die Energiequellen der Zukunft: Wind, Sonne & Wasser
Bei der Energiegewinnung selbst werden laut Paper vorwiegend Photovoltaik und Windräder zum Einsatz kommen. Auf regionaler oder nationaler Ebene soll aber auch Wasserkraft eine Rolle spielen. Bereits jetzt gewinnen einige (vor allem kleinere) Länder wie Albanien, Costa Rica, Norwegen oder Island ihren Strom fast ausschließlich aus Wasserkraftwerken. Die Länder Paraguay und Bhutan produzieren sogar so viel Strom aus Wasserkraft, dass ein großer Teil davon exportiert werden kann. In einigen größeren Ländern fußt außerdem regional fast die gesamte Stromerzeugung auf Wasserkraft, etwa auf Tasmanien, in Teilen des amerikanischen Bundesstaates Washington und in mehreren Provinzen Kanadas. Wieder andere Länder, etwa Äthiopien und die Demokratische Republik Kongo haben zwar Wasserkraftwerke, die einen Großteil des verfügbaren Stroms produzieren, allerdings hat hier bei weitem nicht die gesamte Bevölkerung Zugang zu Stromverbrauch. Dies könnte sich in Zukunft noch verschärfen, denn der Klimawandel stellt für diese Art von Energiegewinnung ein Problem dar.
„Trockenperioden sind eine große Herausforderung für Länder, die auf Wasserkraft setzen, gar keine Zweifel“ so Breyer. Allerdings: „In unseren Studien haben wir bemerkt, dass die Kombination mit solarer PV und Windkraft eine große Hilfe sind, das Risiko auszubalancieren. Vielleicht wird in solchen Ländern eine strategische Reserve für Dürre-Jahre gebraucht“. Auch andere Probleme mit Wasserkraft werden im Paper beschrieben, denn durch den Bau von Staudämmen müssen teilweise indigene Bevölkerungsgruppen umgesiedelt werden. Überhaupt sind Stauseen ein großer Eingriff in die Natur und können eine große Belastung für die Biodiversität sein (Hinweis: Scientists4Future veranstaltete zum Thema Naturschutz/Landschaftsschutz vs. Klimaschutz am 29.09.2022 einen Talk for Future, der bald auch hier nachgesehen werden kann). Aus diesem Grund hat sich Professor Breyer etwa gegen den Bau der Grand-Inga-Dämme in der Demokratischen Republik Kongo ausgesprochen, die eine Gefährdung für hunderte endemische Spezies bedeuten würde.
Auch Bioenergie aus Energiepflanzen oder Biokraftstoffen erteilt Breyer eine Absage. Diese stünden „in einem massiven Konflikt mit Biodiversität und Nahrungssicherheit“ und hätten eine extrem niedrige Energieeffizienz. In seinen Modellen verwendet Breyer nur Bioenergie aus Abfällen und Nebenprodukten, weist aber darauf hin, dass andere Wissenschaftler hier unterschiedliche Ansätze verwenden würden.
Verfügbarkeit und Effizienz der Energiegewinnung sind heutzutage keine Argumente mehr gegen erneuerbare Energien
Neben potentiellen Schäden an der Biodiversität werden auch andere Kritikpunkte an der Idee, Energie nur aus erneuerbaren Quellen zu gewinnen, in dem neuen Paper diskutiert. Kein unlösbares Problem ist laut den Autor:innen beispielsweise die von Kritiker:innen oft angeführte Tatsache, dass Solar- und Windkraftwerke nicht durchgehend ihre Höchstleistungen liefern können. Hier gäbe es nämlich eine Reihe von Maßnahmen, die zur Stabilisierung der Energieverfügbarkeit beitragen können. Ein Beispiel ist die Erzeugung von Wasserstoff zu Zeiten, wo mehr Strom erzeugt wird, als verbraucht werden kann. Dieser Wasserstoff kann dann wieder in Energie umgewandelt werden, wenn der Stromverbrauch die -erzeugung übersteigt. Auch die Kritiken, dass Strom aus Photovoltaik und Wasserkraft zu teuer, oder der energetische Return on Investment zu gering wäre, sind laut den Autor:innen veraltet und würden durch neue Technologien immer mehr an Bedeutung verlieren.
Die größten Problempunkte: Rohstoffgewinnung und -Entsorgung
Gewichtiger sei die Frage nach der Rohstoffgewinnung für den Bau von Anlagen. Doch auch hier könnte durch neue Strategien und Technologien Abhilfe geschafft werden. Ein Beispiel ist Lithium, das etwa in Batterien verwendet wird. Hier wird ein mögliches Recyclingsystem für Lithium angeführt, außerdem wäre es möglich, dass die Kosten für die Extraktion von Lithium aus Meerwasser in Zukunft deutlich sinken werden, oder dass der Bedarf sinkt, weil etwa Batterien, die stattdessen auf Natrium-Ionen basieren, praktikabler werden. Auch andere Materialien, wie Kobalt, Silber oder Magnete aus Neodym und Dysprosium, die beim Bau von Windturbinen und Elektrofahrzeugen verwendet werden, könnten bei Knappheit durch leichter verfügbare Ressourcen ersetzt werden.
Ein zusätzliches Problem ist die Entsorgung von Bauteilen, da diese oft giftige Schwermetalle enthalten. Dies verstärkt sich dadurch, dass etwa Photovoltaikanlagen oft schon vorzeitig entsorgt werden, weil neue Generationen der Anlagen mit besserer Leistung auf den Markt kommen. Auch bei der Erzeugung von Solarpanelen ist die Belastung durch toxische Komponenten ein Problem. Hier muss auch der Aspekt der sozialen Gerechtigkeit genannt werden, denn während vor allem wohlhabende Bevölkerungsschichten die Möglichkeit haben, auf eigenen Dächern Photovoltaikanlagen zu installieren und so vom erzeugten Strom zu profitieren, trifft die gesundheitliche Belastung vor allem die Arbeiter:innen, die an der Herstellung, Installation und später der Entsorgung der Anlagen beteiligt sind.
Dennoch: Erneuerbare Energien sind insgesamt deutlich weniger schädlich als fossile Brennstoffe
Allen Kritikpunkten kann laut Breyer und seinen Koautor:innen jedenfalls eines entgegengestellt werden: „Erneuerbare Energie ist immer noch in fast jeder Hinsicht weniger schädlich, als fossile Brennstoffe“ und während Probleme bei Letzteren möglicherweise inhärent und unlösbar sind, könnten sie bei erneuerbarer Energie verhindert, oder zumindest minimiert werden. Dass beispielsweise Ressourcen auf der Welt ungleich verteilt sind, trifft etwa auch auf Erdöl-Vorkommen zu und auch hier sind Länder mit besonders hohen Fördermengen nicht immer Musterschüler, wenn es um soziale Gerechtigkeit oder Einhalten der Menschenrechte geht. Und während einige seltene Elemente sich grundsätzlich aus alten Solarpanelen oder Batterien zurückgewinnen lassen, ist das bei fossilen Brennstoffen, wenn sie einmal verbrannt sind, nicht mehr möglich.
[1] Breyer, Christian et al (2022).: On the History and Future of 100% Renewable Energy Systems Research- In: IEEE Access 10. Online: https://ieeexplore.ieee.org/document/9837910
Die Klimakrise ist eine Gesundheitskrise – daher braucht es klimakompetente Gesundheitsberufe. Ein breites Bündnis von 30 Organisationen im Gesundheitsbereich fordert in einem offenen Brief die zuständigen Ministerien auf, dafür die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen.
Ein breites Bündnis aus Vertreter:innen von Organisationen im Gesundheitsbereich präsentierte am 28.2. bei einer Pressekonferenz ihren offenen Brief. Dieser ruft die Politik dazu auf, die Rahmenbedingungen für eine rasche Umsetzung von Klimakompetenzen in die Aus-, Fort- und Weiterbildung aller im Gesundheitssektor Tätigen zu schaffen. Im Rahmen der Pressekonferenz wurden Details zu den Forderungen des offenen Briefes, sowie zur Notwendigkeit der Vermittlung von Klimakompetenzen aus Sicht der einzelnen Berufsgruppen präsentiert.
In einleitenden Worten erklärte Willi Haas von der Universität für Bodenkultur Wien, dass die Klimakrise die größte Bedrohung für die öffentliche Gesundheit im 21. Jahrhundert, global, in Europa und auch in Österreich sei. Eine der zentralen Voraussetzungen, um diesen klimabedingten Gesundheitskrisen zu begegnen, sei ein Gesundheitssektor, der kompetent handeln kann, so Willi Haas.
Beispiele für die gesundheitlichen Folgen der Klimakrise, sind etwa eine Zunahme von Hitzesterblichkeit und Mangelernährung, sowie eine Ausbreitung von Infektionskrankheiten und ein Anstieg von Atemwegserkrankungen und Allergien.
Elisabeth Steiner von der FH Campus Wien erläutert dazu, dass es in Österreich bisher an einer flächendeckenden Integration gesundheitsbezogener Klimakompetenzen in den Lehrplänen der Gesundheitsberufe fehle. Trotz ambitionierter Einzelinitiativen mangelt es in Österreich an einer strukturellen Grundlage für eine rasche Eingliederung des Themas Klimagesundheit in die Aus-, Fort- und Weiterbildung der Gesundheitsberufe. Daher wird im nun präsentierten offenen Brief die Entwicklung von Kompetenzprofilen für alle im Gesundheitssektor Tätigen verlangt. In diesem Zusammenhang wird auch der Aufbau von fundiertem Fachwissen für Lehrende, genauso wie die in Ausbildung befindlichen Kolleg:innen gleichermaßen gefordert. Andrea Stitzel von der FH Kärnten fasst die finale Forderung des offenen Briefes zusammen: “Um diesen Mangel grundlegend zu beheben, müssen alle Stakeholder – Politik, Berufsverbände und Ausbildungsinstitutionen – kooperieren und berufsspezifische wie berufsübergreifende curriculare Vorgaben für die Gesundheitsberufe entwickeln.”
Am Podium gaben Vertreter:innen der einzelnen Gesundheitsberufe Einblick in ihre Sichtweisen. Unter den Berufsangehörigen des gehobenen medizinisch-technischen Dienstes (MTD) bestehe der große Wunsch, sich weiteres Wissen und zusätzliche Kompetenzen anzueignen, um für Krisensituationen, die durch den Klimawandel ausgelöst werden, gut gerüstet zu sein und die Bevölkerung auch in Ausnahmesituationen mit dringend notwendigen Gesundheitsdienstleistungen entsprechend versorgen zu können, erklärte Gabriele Jaksch vom Dachverband der MTD Österreichs. Heinz Fuchsig von der Österreichischen Ärztekammer formulierte es kurz und prägnant: “Ärztinnen und Ärzte wollen und sollen vorbereitet sein.” So können sie nicht nur für neue Herausforderungen, wie beispielsweise Hitzerkrankungen gewappnet sein, sondern auch glaubwürdig die gesundheitlichen Vorteile eines klimafreundlichen Lebensstils vermitteln und attraktivieren, ergänzte Heinz Fuchsig. Elisabeth Potzmann vom Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverband berichtete von der Notwendigkeit, in Zukunft einzelne Berufsbilder stärker zu etablieren: “Community und Disaster Nurses werden im Angesicht des Klimawandels benötigt.” Community Nurses kümmern sich um die Versorgung von Patient:innen außerhalb des Krankenhauses, Disaster Nurses dagegen sind spezialisierte Pflegekräfte, die für die Versorgung von Patient:innen in Notfallsituationen wie etwa Naturkatastrophen ausgebildet sind.
Es brauche dringend ein starkes proaktives Bekenntnis von Seiten der Politik zu einem klimakompetenten Gesundheitssektor, so Johanna Schauer-Berg von Health for Future Austria. Die breite Unterstützung von 30 Organisationen aus diversen Bereichen des Gesundheitssektors, zeige eindeutig die Relevanz und Dringlichkeit der Forderungen des offenen Briefes, betonte Johanna Schauer-Berg abschließend.