Stellungnahme der Wissenschaft zur europäischen Erdgaspolitik und Erdgaskonferenz in Wien

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Lesedauer 5 Minuten

Fossiles Erdgas, welches hauptsächlich aus Methan besteht, ist über einen Betrachtungszeitraum von 20 Jahren etwa 85 mal klimaschädlicher als CO2. Die Konzentration von Methan in der Atmosphäre ist in jüngster Vergangenheit so stark angestiegen wie nie zuvor.

Obgleich Erdgas bei der Verbrennung in CO2 (und Wasser) umgewandelt wird, entweichen erhebliche Mengen von Methan bei der Förderung und dem Transport von Erdgas in die Atmosphäre. Das hat verheerende Folgen für das Klima. Diese sogenannten Leakages (Lecks) werden viel zu selten berücksichtigt, wenn es um die Klimabilanz von Erdgas geht. 

Häufig wird Erdgas als Brückentechnologie und als die klimafreundliche Alternative zu Kohle und Öl dargestellt. Berücksichtigt man jedoch die Methan-Verluste und Emissionen beim Transport, so ist Erdgas ähnlich klimaschädlich wie Kohle. Klar ist, dass für die Stabilisierung des Klimas die Emissionen von CO2 auf null gesenkt werden müssen. Damit ist auch klar, dass Erdgas keine Brücke in die Zukunft darstellt, sondern ein Teil der fossilen Vergangenheit und Gegenwart ist, die wir dringend überwinden müssen.

Die Zeit läuft ab. Bereits in wenigen Jahren werden wir so viel Methan, CO2 und andere Treibhausgase in der Atmosphäre haben, dass die Erwärmung 1,5°C übersteigen wird. Jenseits des 1,5°C-Limits ist die Stabilität des Klimas in Gefahr. Mit jedem weiteren zehntel Grad steigt diese Gefahr weiter an. Ein stabiles Klima ist das Fundament unserer Zivilisation. Ein instabiles Klima bringt sie auf vielfache Weise durch Verteilungskämpfe, Flucht und Krieg ins Wanken und irgendwann zum Einsturz. Unser Handeln in den nächsten Jahren entscheidet, wie groß diese Gefahr für unsere Kinder, Enkelkinder und alle weiteren Generationen sein wird.

Derzeit wird in Europa, auch bedingt durch den menschenverachtenden Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, in übertriebenem Maße in neue Gasinfrastruktur investiert. Ungeachtet der Lehren, die man aus den Ereignissen des letzten Jahres ziehen müsste, propagieren politische und wirtschaftliche Akteure in Europa bis heute das Festhalten und den Ausbau an Infrastruktur für fossiles Erdgas. Diese Politik ist bar jeder wissenschaftlicher Grundlage und Vernunft und kann nur durch blindes Festhalten an alten Ideologien erklärt werden.

Aus wissenschaftlicher Sicht sind die Ängste und Befürchtungen all jener, die diese politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen mit Sorge sehen und ihnen aktiv entgegentreten, völlig gerechtfertigt. Der Protest gegen den weiteren Ausbau von Erdgas-Infrastruktur und für einen Ausstieg aus Erdgas sowie allen fossilen Energieträgern auf dem allerschnellsten Weg zeugt von Vernunft, das Festhalten an Kohle, Öl und Gas hingegen zeugt von ideologischer Verblendung. Um diese Verblendung rechtzeitig zu überwinden, sind angesichts der enormen Bedrohungslage und Dringlichkeit sämtliche gewaltfreien Protestformen aus Sicht der unterzeichnenden Wissenschaftler:innen gerechtfertigt.


 Unterzeichner:innen

Koordinationsteam der Scientists for Future Wien 

 Health for Future

  1. Personen
  2. Prof. Dr. Elske Ammenwerth
  3. Univ.-Prof. Dr. Enrico Arrigoni (Technische Universität Graz)
  4. Hon.-Prof. Martin Auer, B.A.
  5. Prof. Dr.phil. Dr.h.c. mult. Bruno Buchberger (Johannes Kepler Universität Linz; RISC; Academy of Europe)
  6. Prof. Dr. Reinhold Christian (geschäftsführender Präsident des Forums Wissenschaft & Umwelt)
  7. Univ.-Prof. Dr. Giuseppe Delmestri (Wirtschaftsuniversität Wien)
  8. Prof. (FH) Dr. Johannes Jäger (Fachhochschule des BFI Wien)
  9. Ao. Univ.-Prof. Dr. Jürgen Kurt Friedel, (Universität für Bodenkultur Wien)
  10. Univ.-Prof. Dr. Barbara Gasteiger Klicpera (Universität Graz)
  11. Univ.-Prof. Dr. Maria-Regina Kecht (Emerita, Rice University, Houston, TX)
  12. Prof.in, Dr. Mag. Sabrina Luimpöck (Fachhochschule Burgenland)
  13. Univ.-Prof. DDr. Michael Getzner (Technische Universität Wien)
  14. Ao Univ.-Prof. Dr. Georg Gratzer (Universität für Bodenkultur Wien – Inst. o. Forest Ecology)
  15. Univ.-Prof.i.R. Dr.techn. Wolfgang Hirschberg (ehem. Technische Universität Graz)
  16. em. Univ.Prof. Dr. Dr.hc Helga Kromp-Kolb (Universität für Bodenkultur Wien)
  17. HS-Prof. Dr. Matthias Kowasch (Pädagogische Hochschule Steiermark)
  18. Univ.-Prof. Axel Maas (Universität Graz)
  19. Univ.-Prof. Dr. René Mayrhofer (Johannes Kepler Universität Linz)
  20. Prof. Dr. Markus Öhler (Universität Wien)
  21. Univ.-Prof. Susanne Pernicka (Johannes Kepler Universität Linz – Inst. f. Soziologie)
  22. Univ.-Prof. Dr. Alfred Posch (Universität Graz)
  23. Univ.-Prof. Volker Quaschning
  24. Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Klaus Rieser (Universität Graz)
  25. Univ.-Prof. Dr. Michael Rosenberger (Katholische Privatuniversität Linz – Inst. f. Moraltheologie)
  26. Prof. Christa Schleper
  27. Univ.-Prof. Dr. Henning Schluß (Universität Wien – Inst. f. Bildungswissenschaft)
  28. a.o. Univ.-Prof. Dr. Ruth Simsa (Wirtschaftsuniversität Wien)
  29. Prof. Dr. Ulrike Stamm (Pädagogische Hochschule Oberösterreich)
  30. Univ.-Prof. Mag. Dr. Günther Stocker (Universität Wien – Inst. f. Germanistik)
  31. Ao. Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Harald Vacik (Universität für Bodenkultur Wien – Inst. f. Waldbau)
  32. Univ.-Prof. Eva Vetter (Universität Wien)
  33. Hon.-Prof. Dr. Johannes Weber (Universität f. angewandte Kunst Wien)
  34. Univ.-Prof. Dr. Dietmar W. Winkler (Universität Salzburg – Theologische Fakultät)
  35. Ernest Aigner, PhD (Wirtschaftsuniversität Wien)
  36. Dr. Ilse Bartosch (ehem. Universität Wien)
  37. Dr.nat.techn. Benedikt Becsi (Universität für Bodenkultur Wien)
  38. Dr. Bernhard Binder-Hammer (Technische Universität Wien)
  39. Dr. Hubert Bratl
  40. Dr. Lukas Brunner (Universität Wien – Inst. f. Meteorologie und Geophysik)
  41. Mag. Dr. Michael Bürkle
  42. Dr. Renate Christ (IPCC Secretariat retired)
  43. Dr. Rachel Dale (Universität f. Weiterbildung Krems)
  44. Assoc. Prof. Dr. Ika Darnhofer PhD (Universität für Bodenkultur Wien – Inst. f. Agrar- und Forstökonomie)
  45. Dr. Monika Dörfler (NUHAG)
  46. Univ.-Prof. Dr. Stefan Dullinger (Universität Wien)
  47. Assoc. Prof. Dr. Kirsten v. Elverfeldt (Alpen-Adria-Universität Klagenfurt)
  48. Assoc.-Prof. Dr. Franz Essl (Universität für Bodenkultur Wien – Dep. f. Botanik und Biodiversitätsforschung)
  49. Assoc. Prof. MMag. Dr. Harald A. Friedl (Fachhochschule JOANNEUM – Inst. f. Gesundheit und Tourismus Management)
  50. Dr. Florian Freistetter (Science Buster)
  51. Ass. Prof. Mag. Dr. Herbert Formayer (Universität für Bodenkultur Wien – Inst. f. Meteorologie und Klimatologie)
  52. Dr. Stefan Forstner (Bundesforschungszentrum für Wald, Wien)
  53. Dr. Patrick Forstner (Medizinische Universität Graz)
  54. Dr.in Friederike Frieß (Universität für Bodenkultur Wien)
  55. Dr.in Manuela Gamsjäger (Pädagogische Hochschule Oberösterreich)
  56. Mag. Dr. Helmut Franz Geroldinger (MAS)
  57. Assoc. Prof. DI. Dr. Günter Getzinger (Technische Universität Graz)
  58. Mag. Dr. Marion Greilinger
  59. DI. Dr. Franz Greimel (IHG, Universität für Bodenkultur)
  60. Assoc. Prof. Dr. Gregor Gorkiewicz (Medizinische Universität Graz)
  61. Dr. Gregor Hagedorn (Mitbegründer S4F, Akad. Dir. am Museum für Naturkunde Berlin)
  62. Dr. Thomas Griffiths (Universität Wien – Dep. f. Lithosphärenforschung)
  63. Ass. Prof. MMag. Ulrike Haele (Ak. d. Bildenden Künste Wien, NDU St. Pölten)
  64. Dr. Stefan Hagel (ÖAI / ÖAW)
  65. Assist.-Prof. Dr. Daniel Hausknost (Wirtschaftsuniversität Wien)
  66. Mag. Dr. Friedrich Hinterberger (Universität für Angewandte Kunst)
  67. Dr. Sara Hintze (Universität für Bodenkultur Wien)
  68. Dr. Stefan Hörtenhuber (Universität für Bodenkultur – Dep. f. Nachhaltige Agrarsystem)
  69. Dr. Silvia Hüttner
  70. Dr. Daniel Huppmann (IIASA)
  71. Dr. Klaus Jäger
  72. Dr. Andrea Jany (Universität Graz)
  73. Assoc. Prof. Dr. Christina Kaiser (Universität Wien)
  74. Univ.-Doz. Dr. Dietmar Kanatschnig
  75. Melina Kerou, PhD (Senior Scientist, University of Vienna)
  76. DI Dr. Lukas Daniel Klausner (Fachhochschule St. Pölten – Inst. f. IT-Sicherheitsforschung, Cent. f. A.I.)
  77. Prof. Dr. Margarete Lazar 
  78. MMag. Dr. Verena Liszt-Rohlf (Fachhochschule Burgenland GmbH)
  79. Dr. Mag. MM. Margarete Maurer (S4F, Präsidentin d. Vereins interdisziplinäre Forsch. und Praxis)
  80. Assoc. Univ.-Prof. Dr. Uwe Monkowius (Johannes Kepler Universität Linz)
  81. DI. Dr. Michael Mühlberger
  82. Dr. Heinz Nabielek (Forschungszentrum Jülich, retired)
  83. DI. Dr. Georg Neugebauer (Universität für Bodenkultur Wien)
  84. Dr. Christian Nosko (KPH Wien/Krems)
  85. Mag. Dr. Ines Omann (ÖFSE Wien)
  86. Priv. Doz. DDr. Isabella Pali (Veterinärmedizinische Universität; Medizinische Universität Wien)
  87. Ass. Prof. Beatrix Pfanzagl (Medizinische Universität Wien)
  88. Dr. Barbara Plank (Universität für Bodenkultur Wien)
  89. Dr. Christian Peer (Technische Universität Wien)
  90. Dr. Jagoda Pokryszka (Medizinische Universität Wien)
  91. Dr. Edith Roxanne Powell (LSE)
  92. Dr. Thomas Quinton
  93. Dr. Nicoulas Roux (Universität für Bodenkultur Wien)
  94. Dr. Gertraud Malsiner-Walli (Wirtschaftsuniversität Wien – Inst. f. Statistik und Mathematik)
  95. Priv. Doz. Dr. Martin Rubey (Technische Universität Wien – Inst. f. diskrete Mathematik und Geometrie)
  96. Dr. Helmut Sattmann (Naturhistorisches Museum)
  97. Dr. Patrick Scherhaufer (Universität für Bodenkultur Wien)
  98. Dr. Hannes Schmidt (Universität Wien)
  99. Assoc. Prof. DI. Dr. Josef Schneider (Technische Universität Graz)
  100. Dr. Matthias Schwarz M.Sc. M.Sc.
  101. DI. Dr. Sigrid Schwarz (Vizepräsidentin der Österreichischen Bodenkundlichen Gesellschaft,  Univ. Lekt.)
  102. Dr. René Sedmik (Technische Universität Wien)
  103. Dr. Barbara Smetschka (Universität für Bodenkultur Wien)
  104. Dr. Ena Smidt (Universität für Bodenkultur Wien)
  105. Maximilian Sohmen, PhD (Medizinische Universität Innsbruck – Inst. o. Biomedical Physics)
  106. Dr. Johannes Söllner
  107. Assoc. Prof. Dr. Reinhard Steurer (Universität für Bodenkultur Wien)
  108. Dr. Leonore Theuer (Juristin)
  109. Dr.med.vet. Maria Sophia Unterköfler (Veterinärmedizinische Universität Wien)
  110. Doz. Dr. Tilman Voss (Scientists for Future – Fachgruppe Politik und Recht)
  111. Dr. Johannes Waldmüller (ZSI Wien)
  112. Dr. Anja Westram
  113. Dr. Dominik Wiedenhofer (Universität für Bodenkultur Wien)
  114. DI. Dr. David Wöss (Universität für Bodenkultur Wien)
  115. Mag. Heidemarie Amon (AECC-Biologie)
  116. Franz Aschauer, M.Sc
  117. DI Stefan Auer (Universität für Bodenkultur Wien) 
  118. Pamela Baur, M.Sc. (Universität Wien)
  119. Mag. Dieter Bergmayr (KPH Wien/Krems)
  120. Fabian Dremel, M.Sc.
  121. Christof Falkenberg, M.Sc. (Universität für Bodenkultur Wien)
  122. Gwen Göltl, M.A. (Universität Wien – Institut für Soziologie)
  123. Mag. Peter Gringinger (CEnvP, RPGeo)
  124. DI Martin Hasenhündl, B.Sc. (Technische Universität, Institut für Wasserbau und Ingenieurhydrologie)
  125. DI. Bernhard Heilmann (AIT)
  126. Jennifer Hennenfeind, M.Sc.
  127. DI. Ines Hinterleitner
  128. Mag. Hans Holzinger
  129. Julian Hörndl, M.Sc. (Universität Salzburg – Fachb. Chemie und Physik der Materialien)
  130. DI. Christina Hummel (Universität für Bodenkultur Wien)
  131. Lisa Kaufmann, Mag.a  (Universität für Bodenkultur Wien – Institut für Soziale Ökologie)
  132. Dipl. Geoökol. Steffen Kittlaus (Technische Universität – Inst. f. Wassergüte und Ressourcenmanagement)
  133. Julia Knogler, M.A. (Universität für Bodenkultur Wien – Zentrum für globalen Wandel und Nachhaltigkeit)
  134. Dipl.Ing. Bernhard Koch(Universität für Bodenkultur Wien)
  135. Jana Katharina Köhler, M.Sc B.Sc, (Universität Wien)Mag.a (FH) 
  136. Andrea Kropik, MSc (Fachhochschule Campus Wien)
  137. DI. Barbara Laa (Technische Universität Wien)
  138. Hans-Peter Manser MA, (MDW, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien)
  139. DI. Alfred Mar (Universität für Bodenkultur Wien)
  140. Mag. Mirijam MockMaximilian Muhr, M.Sc. (Universität für Bodenkultur Wien)
  141. Mag. Elisabeth Mühlbacher
  142. Max Nutz M.Sc.
  143. Markus Palzer-Khomenko, M.Sc.
  144. Katharina Perny, M.Sc. (Universität für Bodenkultur Wien – Inst. f. Meteorologie und Klimatologie) 
  145. Martin Pühringer, M.Sc. (NLW, Universität Salzburg)
  146. Mag. Ines Clarissa Schuster
  147. DI Arthur Schwesig
  148. Mag. Bernhard Spuller
  149. Eva Straus, M.Sc.
  150. Ivo Sabor, M.Sc. (Fachhochschule JOANNEUM – Inst. f. Energie-, Verkehrs- und Umweltmanagement)
  151. Florian Weidinger, M.Sc. (Universität für Bodenkultur Wien)
  152. Roman Bisko, B.Sc.
  153. Maria Mayrhans, B.Sc.
  154. Jana Plöchl, B.Sc.
  155. Thomas Wurz, B.A.
  156. Anika Bausch, B.Sc. M.A.

Titelbild: Gerd Altmann auf Pixabay



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Windräder und Wärmepumpen statt Rüstungsproduktion: der Lucas-Plan
von Martin Auer

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Lesedauer 10 Minuten

Vor bald 50 Jahren erstellten Beschäftigte des britischen Großkonzerns „Lucas Aerospace“ einen detaillierten Plan für die Umstellung von militärischer Produktion auf klima-, umwelt- und menschenfreundliche freundliche Produkte. Sie forderten das Recht auf „gesellschaftlich nützliche Arbeit“. Das Beispiel zeigt, dass die Klimabewegung mit Erfolg auf die Beschäftigten in nicht so klimafreundlichen Industrien zugehen könnte.

Unsere Gesellschaft erzeugt viele Produkte, die für die Umwelt und damit für die Menschen schädlich sind. Gängigste Beispiele sind Verbrennungsmotoren, die vielen Plastikprodukte oder die Chemikalien in vielen Reinigungs- und Kosmetikartikeln. Andere Produkte werden auf umweltschädliche Weise produziert, vor allem, indem Energie aus fossilen Rohstoffen zu ihrer Erzeugung verwendet wird, oder weil Abgase, Abwässer oder feste Abfälle in die Umwelt gelangen. Von manchen Produkten wird einfach zu viel hergestellt, man denke nur an Fast Fashion und andere Wegwerfprodukte und an all die Produkte vom Laptop bis zum Turnschuh, die viel länger halten könnten, wenn sie nicht schon von Anfang an dafür designt würden, schnell zu veralten oder kaputt zu gehen (man nennt das geplante Obsoleszenz). Oder man denke an die landwirtschaftlichen Produkte, die in der Erzeugung umweltschädlich und im (übermäßigen) Konsum gesundheitsschädlich sind, wie die riesigen Mengen an Fleischprodukten aus Massentierhaltung oder die Produkte der Tabakindustrie.

An all diesen Produkten hängen aber Arbeitsplätze. Und von diesen Arbeitsplätzen hängt das Einkommen vieler Menschen ab und von diesem Einkommen ihr Wohlergehen und das ihrer Familien.

Viele Beschäftigte wünschen sich mehr Mitsprache, um ihr Unternehmen umweltfreundlicher und sozialer zu gestalten

Viele Menschen sehen durchaus die Gefahren der Klimakatastrophe und der Umweltzerstörung, vielen ist auch bewusst, dass ihr Job nicht unbedingt der klima- und umweltfreundlichste ist. Laut einer aktuellen Umfrage unter 2.000 Beschäftigten in den USA und ebenso vielen in Großbritannien sind zwei Drittel der Befragten der Meinung, dass das Unternehmen, in dem sie arbeiten, „nicht genug Anstrengungen unternimmt, Umweltprobleme und soziale Probleme anzugehen“. 45 % (UK) und 39 % (US) sind der Meinung, dass den Spitzenmanagern diese Anliegen gleichgültig sind und sie nur auf ihren eigenen Gewinn aus sind. Die große Mehrheit möchte lieber in einem Unternehmen arbeiten, das „einen positiven Einfluss auf die Welt hat“ und ungefähr die Hälfte würde erwägen, den Job zu wechseln, wenn die Werte des Unternehmens nicht mit ihren eigenen Werten übereinstimmen. Von den unter 40jährigen würde fast die Hälfte dafür sogar Einkommenseinbußen in Kauf nehmen und zwei Drittel von ihnen wünschen sich, mehr Einfluss darauf zu haben, dass ihre Unternehmen „sich zum Besseren verändern“1.

Wie kann man in der Krise Arbeitsplätze erhalten?

Ein Beispiel dafür, wie Beschäftigte ganz konkret versuchen können, ihren Einfluss geltend zu machen, bietet der berühmte „Lucas Plan“.

In den 1970er Jahren befand sich die britische Industrie in einer schweren Krise. Sie war in ihrer Produktivität und damit in ihrer Wettbewerbsfähigkeit hinter andere Industrienationen zurückgefallen. Die Unternehmen reagierten darauf mit Rationalisierungsmaßnahmen, Betriebszusammenlegung und Massenentlassungen.2 Auch die Beschäftigen des Rüstungsunternehmens Lucas Aerospace sahen sich von einer massiven Entlassungswelle bedroht. Das hing einerseits mit der allgemeinen Krise der Industrie zusammen, andererseits auch damit, dass die damalige Labour-Regierung plante, die Rüstungsausgaben einzuschränken. Lucas Aerospace produzierte Komponenten für die wichtigsten Unternehmen der militärischen Luftfahrt in Großbritannien. Ungefähr die Hälfte seines Umsatzes machte das Unternehmen im militärischen Sektor. Von 1970 bis 1975 baute Lucas Aerospace 5.000 von ursprünglich 18.000 Jobs ab, viele Beschäftigte sahen sich praktisch über Nacht ohne Arbeit.3

„Shop Stewards“ schließen sich zusammen

Im Angesicht der Krise hatten die „Shop Stewards“ der 13 Produktionsstandorte ein „Combine Comittee“ gegründet. Den Begriff „Shop Stewards“ kann man nur ungenau mit „Betriebsräte“ übersetzen. Die britischen Shop Stewards hatten keinen Kündigungsschutz und auch keine institutionalisierten betrieblichen Mitspracherechte. Sie wurden direkt von ihren Kolleg:innen gewählt und waren ihnen direkt verantwortlich. Sie konnten auch jederzeit mit einfacher Mehrheit abgewählt werden. Sie vertraten ihre Kolleg:innen sowohl gegenüber der Unternehmensführung, als auch gegenüber den Gewerkschaften. Die Shop Stewards waren den Gewerkschaften gegenüber nicht weisungsgebunden, aber sie repräsentierten sie gegenüber den Kolleg:innen und kassierten zum Beispiel die Mitgliedsbeiträge ein.4

Die Mitglieder des Lucas Combine 1977
Quelle: https://lucasplan.org.uk/lucas-aerospace-combine/

Das ungewöhnliche am Lucas Combine war, dass es Shop Stewards sowohl der gelernten und ungelernten Arbeiter:innen als auch Shop Stewards der Konstrukteur:innen und Designer:innen zusammenbrachte, die in unterschiedlichen Gewerkschaften organisiert waren.

In ihrem Wahlprogramm vor 1974 hatte sich die Labour Party das Ziel gesetzt, die Rüstungsausgaben zu senken. Das Lucas Combine begrüßte dieses Ziel, obwohl es bedeutete, dass laufende Projekte von Lucas Aerospace bedroht waren. Die Beschäftigten von Lucas wurden durch die Regierungspläne nur bestärkt in dem Wunsch, lieber zivile Produkte herzustellen. Als Labour im Februar 1974 an die Regierung zurückkehrte, verstärkte das Combine seinen Aktivismus und setzte ein Treffen mit dem Industrieminister Tony Benn durch, der von ihren Argumenten durchaus beeindruckt war. Allerdings setzte die Labour Party auf Verstaatlichung der Luftfahrtindustrie. Dem standen die Lucas-Beschäftigten skeptisch gegenüber. Nicht der Staat sollte die Kontrolle über die Produktion haben, sondern die Beschäftigten selber.5

Bestandsaufnahme über Wissen, Fähigkeiten und Einrichtungen im Unternehmen

Einer der Shop Stewards war der Konstrukteur Mike Cooley (1934-2020). In seinem Buch „Architect or Bee? The Human Price of Technology“ erzählt er: „Wir setzten einen Brief auf, der detailliert die Zusammensetzung der Belegschaft nach Alter und Qualifikationen beschrieb, die Werkzeugmaschinen, Ausrüstungen und Labors, die uns zur Verfügung standen, dazu den wissenschaftlichen Stab und seine Design-Kapazitäten.“ Der Brief ging an 180 führende Autoritäten, Institutionen, Universitäten, Gewerkschaften und andere Organisationen, die sich schon einmal zu Fragen eines sozial verantwortlichen Umgangs mit Technologie geäußert hatten, mit der Frage: „Was könnte eine Belegschaft mit diesen Fähigkeiten und Einrichtungen erzeugen, das im Interesse der breiten Bevölkerung wäre?“. Nur vier von ihnen antworteten.6

Wir müssen die Belegschaft fragen

„Darauf taten wir, was wir von Anfang an hätten tun sollen: Wir fragten unsere Belegschaftsmitglieder, was sie meinten, dass sie produzieren sollten.“ Dabei sollten die Befragten nicht nur ihre Rolle als Produzent:innen, sondern auch als Konsument:innen bedenken. Die Projektidee wurde über die Shop Stewards in die einzelnen Produktionsstätten getragen, in „Teach Ins“ und Massenversammlung der Belegschaft vorgestellt.

Innerhalb von vier Wochen wurden von den Lucas-Beschäftigten 150 Vorschläge eingereicht. Diese Vorschläge wurden geprüft und mündeten zum Teil in konkrete Konstruktionspläne, Kosten- und Gewinnberechnungen und sogar einige Prototypen. Im Jänner 1976 wurde der Lucas-Plan der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Financial Times beschrieb ihn als einen „der radikalsten Alternativpläne, die Arbeiter jemals für ihr Unternehmen aufgestellt haben.“7

Der Plan

Der Plan umfasste sechs Bände, jeder zu ca. 200 Seiten. Das Lucas Combine strebte einen Mix von Produkten an: Produkte, die in sehr kurzer Zeit produziert werden konnten und solche, die langfristige Entwicklung benötigten. Produkte, die im globalen Norden (damals: „Metropole“) genutzt werden konnten, und solche, die den Bedürfnissen des globalen Südens (damals: „dritte Welt“) angepasst wären. Und schließlich sollte es einen Mix geben von Produkten, die nach den Kriterien der Marktwirtschaft profitabel wären und solchen, die nicht notwendig profitabel, aber gesellschaftlich von großem Nutzen wären.8

Medizinische Produkte

Noch in der Zeit vor dem Lucas Plan hatten Lucas-Mitarbeiter für Kinder mit Spina Bifida, einer angeborenen Schädigung des Rückenmarks, das „Hobcart“ entwickelt. Ein Rollstuhl, so war die Überlegung, würde die Kinder von anderen abheben. Das Hobcart, das aussah wie ein Go-Cart, sollte ihnen ermöglichen, mit gleichaltrigen auf Augenhöhe zu spielen. Die australische Spina Bifida Association wollte 2.000 davon bestellen, aber Lucas weigerte sich, das Produkt zu realisieren. Die Konstruktion des Hobcart war so einfach gehalten, dass es später von Jugendlichen in einer Jugendstrafanstalt hergestellt werden konnte, mit dem zusätzlichen Nutzen, den straffälligen Jugendlichen das Bewusstsein einer sinnvollen Beschäftigung zu vermitteln.9

David Smith und John Casey mit ihren Hobcarts. Quelle: Wikipedia https://en.wikipedia.org/wiki/File:Hobcarts.jpg

Weitere konkrete Vorschläge für Medizinprodukte waren: ein transportables lebenserhaltendes System für Menschen, die einen Herzinfarkt erlitten haben, mit dem die Zeit bis zum Eintreffen im Spital überbrückt werden kann, oder ein Heimdialysegerät für Menschen mit Nierenfehlfunktion, das ihnen den mehrmals wöchentlichen Besuch in der Klinik ersparen konnte. Großbritannien war damals massiv unterversorgt mit Dialysegeräten, laut Cooley starben deswegen jährlich 3.000 Menschen. Im Gebiet von Birmingham, schrieb er, erhielt man keinen Platz in einer Dialyseklinik wenn man unter 15 oder über 45 Jahre alt war.10 Eine Zweigfirma von Lucas erzeugte Dialysegeräte für Spitäler, die als die besten galten, die in Großbritannien zu haben waren.11 Lucas wollte den Betrieb an eine Schweizer Firma verkaufen doch die Belegschaft verhinderte das, indem sie mit Streik drohte und gleichzeitig einige Parlamentarier:innen einschalteten. Der Lucas-Plan forderte, die Produktion der Dialysegeräte um 40 % zu steigern. „Wir halten es für skandalös, dass Menschen sterben, weil ihnen kein Dialysegerät zur Verfügung steht, während diejenigen, die diese Geräte produzieren könnten, von Arbeitslosigkeit bedroht sind“.12

Erneuerbare Energie

Eine große Produktgruppe betraf Systeme für erneuerbare Energie. So sollten die aerodynamischen Kenntnisse aus der Produktion von Flugzeugen für die Konstruktion von Windkraft-Turbinen eingesetzt werden. Verschiedene Formen von Sonnenkollektoren wurden entwickelt und in einem Niedrig-Energie-Haus des Designers Clive Latimer praktisch erprobt. Dieses Haus war so konzipiert, dass es von den Besitzer:innen mit Unterstützung durch qualifizierte Arbeiter:innen selbst gebaut werden konnte.13 In einem Gemeinschaftsprojekt mit der Gemeine Milton Keynes wurden Wärmepumpen entwickelt und die Prototypen in einigen der gemeindeeigenen Wohnhäuser eingebaut. Die Wärmepumpen wurden direkt mit Erdgas betrieben anstatt mit durch Erdgas erzeugtem Strom, was eine weitaus verbesserte Energiebilanz brachte.14

Mobilität

Im Bereich der Mobilität entwickelten die Lucas-Beschäftigten einen benzin-elektrischen Hybridmotor. Das Prinzip (das übrigens Ferdinand Porsche schon 1902 entwickelte): Ein kleiner Verbrennungsmotor, der mit optimaler Drehzahl läuft, versorgt den Elektromotor mit Strom. Dadurch sollte weniger Kraftstoff verbraucht werden als beim Verbrenner und es würden kleinere Batterien gebraucht als beim reinen Elektrofahrzeug. Ein Prototyp wurde am Queen Mary College in London gebaut und erfolgreich getestet, ein Vierteljahrhundert bevor Toyota den Prius auf den Markt brachte.15

Ein weiteres Projekt war ein Bus, der sowohl das Schienennetz als auch das Straßennetz benutzen konnte. Durch die Gummiräder konnte er größere Steigungen überwinden als eine Lokomotive mit Stahlrädern. Dadurch sollte es möglich sein, Schienenstränge an die Landschaft anzupassen anstatt Hügel zu durchschneiden und Täler mit Brücken zu verbauen. Das würde auch den Bau neuer Eisenbahnstrecken im globalen Süden verbilligen. Nur kleine stählerne Führungsräder hielten das Fahrzeug auf den Schienen. Diese konnten eingezogen werden, wenn das Fahrzeug von der Schiene auf die Straße wechselte. Ein Prototyp wurde auf der East Kent Railway mit Erfolg getestet.16

Der Straßen-Schienen-Bus der Lucas Aerospace Beschäftigten. Quelle: Wikipedia, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Lucas_Aerospace_Workers_Road-Rail_Bus,_Bishops_Lydeard,_WSR_27.7.1980_(9972262523).jpg

„Stillschweigendes Wissen“ erhalten

Ein anderer Schwerpunkt waren „telechirische“ Geräte, also ferngesteuerte Geräte, die die Bewegungen der menschlichen Hand auf Greifer übertragen. Sie sollten zum Beispiel bei Reparaturarbeiten unter Wasser verwendet werden, um die Unfallgefahr für die Arbeiter:innen zu reduzieren. Einen multifunktionalen Roboter für diese Arbeiten zu programmieren hatte sich als nahezu unmöglich erwiesen. Einen sechseckigen Schraubenkopf zu erkennen, den richtigen Schraubenschlüssel auszuwählen und die richtige Kraft anzuwenden, erfordert einen gewaltigen Programmieraufwand. Doch ein geübter menschlicher Arbeiter kann diese Arbeit ausführen „ohne darüber nachzudenken“. Cooley nannte das „stillschweigendes Wissen“ ( („tacit knowledge“). Den am Lucas-Plan Beteiligten ging es auch darum, dieses Erfahrungswissen von Arbeiter:innen zu erhalten, anstatt es durch Digitalisierung zu verdrängen.17

Produkte für den globalen Süden

Typisch für die Denkweise der Lucas-Beschäftigten war das Projekt einer Allround-Kraftmaschine für den Einsatz im globalen Süden. „Zur Zeit ist unser Handel mit diesen Ländern im wesentlichen neokolonialistisch“, schrieb Cooley. „Wir streben danach, Formen von Technologie einzuführen, die sie von uns abhängig machen“. Die Allround-Kraftmaschine sollte unterschiedliche Brennstoffe verwenden können, von Holz bis Methangas. Sie sollte mit einem speziellen Getriebe ausgestattet sein, das variable Output-Geschwindigkeiten ermöglichte: Mit hoher Geschwindigkeit konnte es ein Stromaggregat für nächtliche Beleuchtung antreiben, mit geringerer Geschwindigkeit einen Kompressor für pneumatische Geräte oder Hebevorrichtungen und mit sehr geringer Geschwindigkeit konnte es eine Pumpe für Bewässerung antreiben. Die Komponenten waren für eine Betriebsdauer von 20 Jahren ausgelegt, das Handbuch sollte die Benutzer:innen befähigen, Reparaturen selbst auszuführen.18

Was ist gesellschaftlich nützlich?

Die Lucas-Beschäftigten gaben keine akademische Definition von „gesellschaftlich nützlicher Arbeit“, aber ihre Vorstellungen unterschieden sich deutlich von denen des Managements. Das Management schrieb, dass es „nicht akzeptieren kann, daß [sic] Flugzeuge, zivile und militärische, nicht sozial nützlich sein sollen. Zivilflugzeuge werden zu Geschäfts- und Vergnügungszwecken gebraucht und es ist aus Verteidigungszwecken notwendig, militärische Flugzeuge zu unterhalten. (…) Wir beharren darauf, daß [sic] alle Produkte von Lucas Aerospace sozial nützlich sind.“19

Die Parole der Lucas-Beschäftigten dagegen lautete: „Weder Bomben noch stempeln gehen, sondern Konversion!“20

Einige wesentliche Merkmale von sozial nützlichen Produkten kristallisierten sich heraus:

  • Aufbau, Funktionsweise und Wirkung der Produkte sollten möglichst verständlich sein.
  • Sie sollten reparierbar sein, möglichst einfach und robust sein und auf lange Haltbarkeit ausgelegt..
  • Erzeugung, Gebrauch und Reparatur sollten energiesparend, materialsparend und ökologisch nachhaltig sein.
  • Die Produktion sollte die Zusammenarbeit zwischen Menschen als Erzeuger:innen und Konsument:innen fördern, ebenso die Zusammenarbeit zwischen Nationen und Staaten.
  • Produkte sollten hilfreich für Minderheiten und benachteiligte Menschen sein.
  • Produkte für die „Dritte Welt“ (den globalen Süden) sollten gleichberechtigte Beziehungen ermöglichen.
  • Produkte sollten eher nach ihrem Gebrauchswert als nach ihrem Tauschwert bewertet werden.
  • In der Produktion, im Gebrauch und in der Reparatur sollte nicht nur auf möglichste Effizienz geachtet werden, sondern auch auf den Erhalt und die Weitergabe von Kompetenzen und Wissen.

Die Unternehmensleitung weigert sich

Der Lucas-Plan scheiterte einerseits am Widerstand der Firmenleitung und an ihrer Weigerung, das Combine Committee als Verhandlungspartner anzuerkennen. So lehnte die Firmenleitung die Produktion von Wärmepumpen ab, weil sie nicht profitabel sei. Dabei hatten die Lucas-Beschäftigten in Erfahrung gebracht, dass das Unternehmen eine amerikanische Consulting-Firma mit einem Bericht beauftragt hatte, und dieser Bericht besagte, dass der Markt für Wärmepumpen in der damaligen Europäischen Gemeinschaft bis Ende der 1980er Jahre eine Milliarde Pfund betragen würde. „Lucas war also bereit, auf einen solchen Markt zu verzichten, nur um zu demonstrieren, dass Lucas, und nur Lucas, zu entscheiden hatte, was produziert wurde, wie es produziert wurde und in wessen Interesse es produziert wurde.“21

Die Unterstützung durch die Gewerkschaften ist uneinheitlich

Die Unterstützung des Combine durch britischen Gewerkschaften war sehr uneinheitlich. Die Transportarbeitergewerkschaft (TGWU) unterstützte den Plan. Angesichts der erwarteten Kürzung der Rüstungsausgaben forderte sie die Shop Stewards in anderen Betrieben auf, die Ideen des Lucas-Plans aufzugreifen. Während der größte Dachverband, der Trade Union Congress (TUC) anfänglich Unterstützung signalisierte, fühlten sich verschiedene kleinere Gewerkschaften vom Combine in ihrem Vertretungsanspruch übergangen. Eine standort- und spartenübergreifende Organisation wie das Combine passte nicht in die nach Sparten und geographischen Gebieten aufgesplitterte Struktur der Gewerkschaften. Als größtes Hindernis erwies sich die Haltung der „Confederation of Shipbuilding and Engineering Unions“ (CSEU), die darauf bestand, alle Kontakte zwischen Gewerkschaftler:innen und Regierungsvertreter:innen zu kontrollieren. Die Confederation sah ihre Aufgabe nur darin, Arbeitsplätze zu erhalten, ungeachtet der Produkte.

Die Regierung verfolgt andere Interessen

Die Labour-Regierung selbst war eher an Großbritanniens führender Rolle in der Rüstungsindustrie interessiert als an alternativer Produktion. Nach dem Sturz von Labour und der Übernahme der Regierung durch die Konservative Partei unter Margaret Thatcher waren die Aussichten auf Verwirklichung des Plans auf null gesunken.22

Das Vermächtnis des Lucas-Plans

Dennoch hat der Lucas-Plan ein Vermächtnis hinterlassen, das bis heute in der Friedens-, Umwelt- und Gewerkschaftsbewegung diskutiert wird. Der Plan inspirierte auch die Gründung des „Centre for Alternative Industrial and Technological Systems“ (CAITS) am „Northeast London Polytechnic“ (heute University of North East London) und das Unit for the Development of Alternative Products (UDAP) am Coventry Polytechnic. Mike Cooley, einer der treibenden Shop Stewards, wurde 1981 mit dem „Right Livelihood Award“ (auch als „Alternativer Nobelpreis“ bekannt) ausgezeichnet.23 Im selben Jahr wurde er von Lucas Aerospace gekündigt. Als Direktor der Abteilung Technologie des Greater London Enterprise Board konnte er weiter für die Entwicklung menschengerechter Technologien tätig sein.

Lucas Plan documentary: 'The Story of the Lucas Aerospace Shop Stewards Alternative Corporate Plan'

Mit Klick auf das Bild wird eine Verbindung zu Youtube hergestellt und es werden deren Datenschutzbestimmungen wirksam!
1978 gab die Open University, die größte staatliche Universität Großbritanniens, die Filmdokumentation „Doesn’t anybody want to know?“ in Auftrag, in der Shop Stewards, Ingenieure, gelernte und ungelernte Arbeiter zu Wort kommen.

Umwelt- und menschenfreundliche Produktion kann nur gemeinsam mit den Beschäftigten gestaltet werden

Das Beispiel des Lucas-Plans sollte die Klimagerechtigkeitsbewegung ermutigen, gerade auch auf die Beschäftigten in den „nicht klimafreundlichen“ Industrien und Produktionen zuzugehen. Der APCC-Special-Report „Strukturen für ein klimafreundliches Leben“ hält fest: „Umstellungsprozesse im Bereich der Erwerbsarbeit hin zu einem klimafreundlichen Leben können durch betrieblich und politisch begleitete und am klimafreundlichen Leben orientierte, aktive Teilhabe der Belegschaft erleichtert werden“.24

Den Lucas-Beschäftigten war von Anfang an klar, dass ihr Plan nicht die ganze Industrielandschaft Großbritanniens umwälzen würde: „Unsere Intentionen sind weitaus maßvoller: Wir wollen die Grundvoraussetzungen unserer Gesellschaft ein wenig in Frage stellen und dazu einen kleinen Beitrag leisten, indem wir zeigen, dass Arbeiter bereit sind, für das Recht auf Arbeit an Produkten zu kämpfen, die menschliche Probleme wirklich lösen, statt sie selbst erst hervorzubringen.“25

Quellen

Cooley, Mike (1987): Architect or Bee? The Human Price of Technology. London.

APCC (2023): Zusammenfasung für Entscheidungstragende In: Special Report: Strukturen für ein klimafreundliches Leben. Berlin/Heidelberg.: Springer Spektrum. Online: https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=4225480

Löw-Beer, Peter (1981): Industrie und Glück: Der Alternativplan von Lucas Aerospace. Mit einem Beitrag von Alfred Sohn-Rethel: Produktionslogik gegen Aneignungspolitik. Berlin.

Mc Loughlin, Keith (2017): Socially useful production in the defence industry: the Lucas Aerospace combine committee and the Labour government, 1974–1979. In: Contemporary British History 31 (4), S. 524–545. DOI: 10.1080/13619462.2017.1401470.

Dole queue or useful projects? In: New Scientist, vol 67, 3.7.1975:10-12.

Salesbury, Brian (o.J.): Story of the Lucas Plan. https://lucasplan.org.uk/story-of-the-lucas-plan/

Wainwright, Hilary/Elliot, Dave (2018 [1982]): The Lucas Plan: A new trade unionism in the making? Nottingham.

Gesichtet: Christian Plas
Titelfoto: Worcester Radical Films


1 2023 Net Positive Employee Barometer: https://www.paulpolman.com/wp-content/uploads/2023/02/MC_Paul-Polman_Net-Positive-Employee-Barometer_Final_web.pdf

2 Löw-Beer 1981: 20-25

3 McLoughlin 2017: 4

4 Löw-Beer 1981: 34

5 McLoughlin 2017:6

6 Cooley 1987: 118

7 Financial Times, 23.1.1976, zit. nach https://notesfrombelow.org/article/bringing-back-the-lucas-plan

8 Cooley 1987: 119

9 New Scientist 1975, vol 67: 11.

10 Cooley 1987: 127.

11 Wainwright/Elliot 2018:40.

12 Wainwright/Elliot 2018: 101.

13 Cooley 1987: 121

14 Cooley 1982: 121-122

15 Cooley 1987: 122-124.

16 Cooley 1987: 126-127

17 Cooley 1987: 128-129

18 Cooley 1987: 126-127

19 Löw-Beer 1981: 120

20 McLoughlin 2017: 10

21 Cooley 1987: 140

22 McLoughlin 2017: 11-14

23 Salesbury o.J.

24 APCC 2023: 17.

25 Lucas Aerospace Combine Plan, zit. nach Löw-Beer (1982): 104



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Klimakatastrophe und Konflikte um kritische Rohstoffe
von Martin Auer

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Lesedauer 8 Minuten

Dieser Essay beruht auf einem Vortrag von Martin Auer (Scientists for Future Österreich) bei den Linzer Friedensgesprächen am 27. Jänner 2023.

Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 hörte und las man oft Sätze wie: „Erneuerbare Energien sichern Frieden“. Eine typische Argumentation ist diese: „Öl und Gas heizen nicht nur den Klimawandel an, sie befeuern auch militärische Konflikte in aller Welt. Wer Frieden schaffen will, muss deshalb die Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen beseitigen – durch Investitionen in saubere Energiequellen wie Sonne und Wind.“1

Dabei wird leider übersehen, dass für die Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien und für dessen Speicherung große Mengen „kritischer Metalle“ gebraucht werden, wie Kupfer, Lithium, Kobalt, Nickel und Seltenerdmetalle. Und diese sind sehr ungleich in der Erdkruste verteilt. Drei Viertel der Gewinnung von Lithium, Kobalt und Seltenen Erden finden in China, der Demokratischen Republik Kongo und im Lithiumdreieck Chile-Argentinien-Bolivien statt.2

Rohstoffe sind eine strategische Sicherheitsfrage

In einem Papier von 2020 hat die Europäische Kommission festgehalten: „Der Zugang zu Rohstoffen ist eine strategische Sicherheitsfrage für Europa, um den „Green Deal“ zu verwirklichen. (…) Europas Übergang zu Klimaneutralität könnte an die Stelle der heutigen Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen die Abhängigkeit von Rohstoffen setzen, von denen wir viele aus dem Ausland beziehen und um die die globale Konkurrenz immer erbitterter wird.“3

Die Ukraine ist reich an Lithium und anderen Mineralien

Im Juli 2021 hatte die EU mit der Ukraine ein strategisches Abkommen zur Gewinnung und Verarbeitung von kritischen Rohstoffen und Erzeugung von Batterien geschlossen4. Die Ukraine verfügt über große Reserven von Lithium, Kobalt, Beryllium und Seltenerdmetallen, die vom Ukrainian Geological Survey mit 6.700 Millionen Euro bewertet werden5. Das Lithium-Vorkommen wird mit 500.000 Tonnen als eines der größten der Welt eingeschätzt.

Lithiumvorkommen in der Ukraine
Quelle: Ukrainian Geological Survey

Im Februar 2022 hat Russland dann die Ukraine überfallen. Das größte Vorkommen liegt in den seit Februar 2022 von Russland besetzten Gebieten im Osten in der Oblast Donetsk. Laut der Politologin Olivia Lazard (Carnegie Europe) geht es Putin unter anderem darum, der EU den Zugang zu diesen Vorräten abzuschneiden. Russland verfügt selbst über große Reserven an kritischen Rohstoffen und strebt danach, mit deren Hilfe wieder ein mächtiger Player auf dem Weltmarkt zu werden. Die Wagner-Söldnertruppe ist übrigens auch in mineralreichen Ländern in Afrika aktiv, wie Mosambik, Zentrafrikanische Republik, Madagaskar und Mali.6

Die EU verklagt Indonesien wegen Zugang zu Nickel

Ein anderer kritischer Rohstoff ist Nickel. Im Dezember 2022 hat die Welthandelsorganisation (WTO) einer Klage der EU gegen Indonesien stattgegeben. Indonesien hatte 2020 ein Gesetz erlassen, das die Ausfuhr von Nickel verbietet und verlangt, dass Nickelerz in Indonesien raffiniert werden muss. Dagegen hatte die EU geklagt. Das, wogegen Indonesien sich wehrt, ist das klassische koloniale Muster: Rohstoffe werden im globalen Süden gewonnen, aber die Wertschöpfung findet im globalen Norden statt. Unternehmensprofite, Steuern, Arbeitsplätze wandern also in den Norden. „Wir wollen ein entwickeltes Land werden, wir wollen Arbeitsplätze schaffen“, erklärte der indonesische Präsident. Die EU aber will koloniale Muster aufrechterhalten.7

Lithiumproduktion schädigt die Landwirtschaft der Indigenen in Chiles Atacamawüste

Der zweitgrößte Lithiumproduzent ist derzeit Chile (nach Australien). In der Atacama Wüste, einer der trockensten der Erde, wird Lithiumkarbonat als Salzsole aus dem Boden hochgepumpt. Die Sole lässt man in großen Becken verdunsten. Laut Bergbau-Kommission der chilenischen Regierung wurde dem Grundwasser in der Atacama zwischen 2000 und 2015 viermal so viel Wasser entzogen, wie auf natürliche Weise in Form von Regen- oder Schmelzwasser in das Gebiet gelangte. Für die Landwirtschaft der Indigenen in den Oasen wird das Wasser immer knapper. Die Indigenen wurden auch zu den Lithiumprojekten nicht konsultiert. Das verstößt gegen die UN-Konvention für indigene Völker.8

Lithium und der Putsch in Bolivien

Die größten Lithiumreserven liegen unter der Salzwüste Salar de Uyuni in Bolivien. Allerdings werden sie bisher kaum abgebaut. Die sozialistische Regierung von Evo Morales hat Lithium zum strategischen Rohstoff erklärt mit dem langfristigen Ziel, Bolivien zu einem weltweit führenden Hersteller von Batterien zu machen, also die Wertschöpfung im Land zu behalten. Es gab hier zunächst einen Konflikt mit lokalen Kräften der Provinz Potosí, wo die Vorkommen liegen. Diese wollten möglichst bald von Lizenzgebühren profitieren und waren auch mit der Wahl des strategischen Partners für die Erschließung nicht einverstanden. Das sollte die deutsche Firma ACI Systems sein, die auch Tesla mit Batterien beliefert, und die sich verpflichtete, auch eine Fabrik für Batterien für den südamerikanischen Markt zu bauen und bolivianische Mitarbeiter:innen auszubilden und zu qualifizieren. Das sollte einerseits einen Technologietransfer für Bolivien bringen, andererseits sollte durch das Joint Venture natürlich auch Deutschland Zugang zum begehrten Lithium bekommen.

Der Konflikt zwischen Potosí und der Zentralregierung wurde mit Demonstrationen, Hungerstreiks und blutigen Polizeieinsätzen ausgetragen. Morales stoppte schließlich den Vertrag mit ACI.9 Bei den kurz darauf folgenden Präsidentenwahlen, zu denen Morales zum vierten Mal antrat, behauptete die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die die Wahl überwachen sollte, Wahlbetrug festgestellt zu haben. Der Vorwurf wurde später widerlegt. Rechte Kräfte nahmen den angeblichen Wahlbetrug am 10. November 2019 als Vorwand für einen Putsch.10 Die OAS wird zu 60 Prozent von den USA finanziert. Morales beschuldigte also die USA, hinter dem Putsch zu stehen. Die TrumpAdministration begrüßte den Putsch offiziell.

Nur am Rand: Elon Musk tweetete einige Zeit später: „Wir putschen gegen wen wir wollen, schluckt das!“11

Die Putschregierung annullierte den Vertrag mit ACI endgültig und machte so den Weg frei für den Ausverkauf bolivianischen Lithiums an transnationale Konzerne. Die investigative Plattform „Declassified“ berichtete von hektischen Aktivitäten der britischen Botschaft nach dem Putsch, um in Verhandlungen über Lithium einzutreten.12

Der Widerstand gegen den Putsch war aber stark genug, um Neuwahlen zu erzwingen.
Diese Wahlen fanden 2020 statt und wurden von Luis Arce, einem Parteigenosse von Morales gewonnen, diesmal mit unbestreitbarem Vorsprung, und die Verhandlungen mit ACI wurden wieder aufgenommen mit dem Ziel, bessere Bedingungen für Bolivien zu erreichen.13

Widerstand gegen Lithiumabbau in Europa

Die EU strebt natürlich auch danach, den Bedarf an kritischen Mineralien im Inneren und im näheren Umkreis zu decken. Doch hier stößt der Lithiumabbau auf prinzipiellen Widerstand.

So ist Barroso, eine Landschaft im Norden Portugals, die von der FAO zum „Landwirtschaftlichen Kulturerbe“ erklärt worden ist, vom Lithium-Gewinnung im Tagebau bedroht.

In Serbien haben die Proteste gegen geplanten Lithiumabbau dazu geführt, dass die Regierung die Lizenz für den Großkonzern Rio Tinto aufgehoben hat.

Das Rennen um kritische Rohstoffe

Warum ist das Rennen um kritische Rohstoffe so erbittert?

Laut einer Prognose der Investment-Bank Goldman Sachs sollen im Jahr 2050 drei Milliarden PKWs auf dem Planeten unterwegs sein, also mehr als doppelt so viele wie heute, davon 19 % Elektrofahrzeuge und 9 % mit Wasserstoff oder mit Flüssiggas betrieben.

Abbildung 1: PKW im Jahr 2050 laut Goldman Sachs
Orange: Verbrenner, blau: Elektroautos, gelb: alternative Kraftstoffe (z.B. Wasserstoff)
Quelle: https://www.fuelfreedom.org/cars-in-2050/

Das Szenario der Internationalen Energieagentur sagt, es müssen 33 % E-Autos sein. Die Gesamtzahl von drei Milliarden Autos wird aber nicht in Frage gestellt.14 Niemand fragt sich: „Wie können wir mit dem auskommen, was wir haben?“, sondern man schätzt den Bedarf an diesen kritischen Rohstoffen auf Grund des vorhergesagten Wirtschaftswachstums, und da ist der Druck, sich diese Ressourcen zu beschaffen, natürlich umso größer.

Laut OECD soll die gesamte Weltwirtschaft sich bis 2050 verdoppeln, von heute 100 Billionen Dollar auf 200 Billionen, in Kaufkraft gemessen.15 Wir sollen also 2050 doppelt so viel von allem herstellen und verbrauchen wie heute. Das bedeutet aber, dass sich der Bedarf an Rohstoffen generell auch verdoppeln wird, leicht gemildert durch verbessertes Recycling.

Eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung von Wissenschaftler:innen der Universität Valladolid kam zum Ergebnis: Wenn man den gegenwärtigen Trend zur E-Mobilität in die Zukunft fortschreibt, würde der akkumulierte Verbrauch an Lithium bis 2050 120 % der jetzt bekannten Reserven ausmachen. Bei einem Szenarium mit hohem Anteil an E-Autos beträgt diese Zahl 300 %, bei einem Szenario mit Schwergewicht auf leichten E-Fahrzegen wie E-Bikes knapp unter 100 %, und nur bei einem Degrowth-Szenario würden wir bis 2050 erst 50 % der Vorkommen abgebaut haben. Ähnlich sehen die Ergebnisse für Kobalt und Nickel aus.16

Abbildung 2: Quelle: Pulido-Sánchez, Daniel; Capellán-Pérez, Iñigo; Castro, Carlos de; Frechoso, Fernando (2022): Material and energy requirements of transport electrification. In: Energy Environ. Sci. 15 (12), S. 4872–4910
https://pubs.rsc.org/en/content/articlelanding/2022/EE/D2EE00802E

Eine bloße Änderung der Energiebasis wird also am Wettlauf um Ressourcen nichts ändern. Er wird sich nur verlagern von Öl und Kohle auf andere Materialien. Und es geht bei diesem Wettlauf nicht nur darum, die Verfügung über die Rohstoffe zu bekommen, sondern auch um die Beherrschung des Marktes.

Die Beherrschung der Märkte

Ich möchte auf ein historisches Beispiel verweisen: Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze schreibt über die Ziele des späteren deutschen Reichskanzler Gustav Stresemann als Reichstagsabgeordneter im 1. Weltkrieg: Die Ausweitung des deutschen Hoheitsgebiets durch die Eingliederung Belgiens, der französischen Küste bis Calais, Marokko und zusätzlichen Gebieten im Osten fand er ‚notwendig‘, weil sie Deutschland eine adäquate Plattform für den Wettbewerb mit Amerika verschaffen konnte. Keine Volkswirtschaft, die nicht über einen garantierten Markt von mindestens 150 Millionen Abnehmern verfügte, würde sich mit den Vorteilen der Massenproduktion in den USA messen können.17

Das ist die Logik, die den Ersten und Zweiten Weltkrieg bestimmte, das ist die Logik, die die Ausweitung der EU bestimmt, das ist die Logik, die den Krieg Russlands gegen die Ukraine bestimmt, das ist die Logik, die den Konflikt zwischen den USA und China bestimmt. Es ist nicht so, dass derjenige, der besser und günstiger produziert, den Markt beherrschen wird, sondern umgekehrt, wer den größeren Markt beherrscht, kann die wirtschaftlichen Vorteile der Massenproduktion besser ausnützen und sich gegen die Konkurrenz durchsetzen.

Es geht in den Kriegen der Neuzeit nicht nur darum, wer wem Ressourcen wegnehmen kann, wer wessen Arbeitskraft ausbeuten kann, sondern auch – und vielleicht sogar in erster Linie – darum, wer wem was verkaufen kann. Das ist die Logik einer Wirtschaftsweise, die auf Konkurrenz beruht und auf dem Einsatz von Kapital zur Erzeugung von noch mehr Kapital. Da geht es gar nicht um die Gier von bösen Kapitalisten, sondern um die Struktur der Wirtschaftsweise: Wenn Sie ein Unternehmen leiten, müssen Sie Gewinne machen, um in Innovationen investieren zu können, damit sie nicht hinter der Konkurrenz zurückbleiben. Die Villa und die Yacht sind angenehme Nebenerscheinungen, aber das Ziel ist die Vermehrung des Kapitals, um im Geschäft bleiben zu können. Innovationen führen dazu, dass Sie entweder mit derselben Arbeit mehr produzieren können, oder dasselbe mit weniger Arbeit. Aber da ihr Produkt durch die Innovation billiger wird, müssen Sie mehr davon verkaufen, um die nötigen Gewinne für neue Investitionen zu machen. Dabei werden Sie noch vom Staat und von den Gewerkschaften unterstützt, denn wenn Sie Ihren Absatz nicht ausweiten können, gehen Arbeitsplätze verloren. Sie dürfen sich nicht fragen: Braucht die Welt mein Produkt eigentlich, ist das gut für die Menschen? Sondern Sie fragen sich, wie kann ich die Leute dazu bringen, es zu kaufen? Durch Werbung, dadurch, dass ich es künstlich schnell veralten oder kaputtgehen lasse, dadurch, dass ich die Konsument:innen über die wahren Eigenschaften im Unklaren lasse, dass ich sie danach süchtig mache, wie im Fall der Tabakindustrie, oder dass ich überhaupt, wie im Fall von Panzern und dergleichen, es von den Steuerzahler:innen bezahlen lasse. Natürlich bringt die kapitalistische Wirtschaftsweise auch gute und nützliche Produkte hervor, aber es ist für die Verwertung des Kapitals unerheblich, ob das Produkt nützlich oder schädlich ist, solange es verkaufbar ist.

Die Grenzen des Planeten und die Grenzen des Nachbarn

Diese Wirtschaftsweise muss zwangsläufig an die Grenzen des Planeten stoßen, und sie muss immer wieder an die Grenzen des Nachbarn stoßen. Dieses Wirtschaftssystem erlaubt uns nicht zu sagen: So, wir haben jetzt eigentlich genügend von allem, mehr brauchen wir nicht. Eine „Degrowth“-Wirtschaftsweise, eine Wirtschaftsweise, die nicht zu unendlichem Wachstum tendiert, muss prinzipiell anders organisiert sein. Und das Prinzip muss sein: Der Kreis der Konsument:innen und Produzent:innen – und und mit Produzent:innen meine ich jene, die die Arbeit machen – muss demokratisch bestimmen, was, wie, in welcher Qualität, in welcher Menge produziert wird. Welche Bedürfnisse sind grundlegend und unverzichtbar, was ist fein, wenn man es hat, und was ist überflüssiger Luxus? Wie können wir die wahren Bedürfnisse mit möglichst geringem Einsatz von Energie, Material und öder Routinearbeit befriedigen?

Wie lässt sich das organisieren? Ein funktionierendes Beispiel scheint es bis jetzt auf der Welt nicht zu geben. Vielleicht ist ein Denkanstoß der Klimarat der Bürger:innen. Das waren in Österreich 100 zufällig und repräsentativ für die Gesellschaft ausgewählte Menschen, die – von Expert:innen beraten – Vorschläge ausgearbeitet haben, wie Österreich seine Klimaziele erreichen könnte. Leider hat dieser Rat keine Macht, seine Vorschläge durchzusetzen. Solche Bürger:innenräte, die sowohl über wirtschaftliche als auch über politische Entscheidungen beraten, könnte es auf allen Ebenen der Gesellschaft geben, auf Gemeinde- Landes-, Bundesebene und auch auf europäischer Ebene. Und über ihre Empfehlungen müsste dann auch demokratisch abgestimmt werden. Die Unternehmen müssten auf das Gemeinwohl verpflichtet werden anstatt auf den Shareholder-Value. Und wenn privatwirtschaftliche Unternehmen das nicht leisten können oder wollen, müssen ihre Aufgaben durch genossenschaftliche, kommunale oder staatliche Unternehmen übernommen werden. Nur eine solche Wirtschaftsweise wird nicht an die Grenzen des Planeten und nicht an die Grenzen des Nachbarn stoßen. Nur eine solche Wirtschaftsweise kann daher die Voraussetzungen für dauerhaften Frieden schaffen.

Gesichtet: Petra Seibert

Titelfoto: Bucha, Ukraine, April 2022: Rodrigo Abd via flickr, CC BY


1 https://energiewinde.orsted.de/klimawandel-umwelt/energiewende-friedensprojekt

2 https://www.nytimes.com/2022/03/02/climate/ukraine-lithium.html

3 https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/PDF/?uri=CELEX:52020DC0474&from=EN

4 https://single-market-economy.ec.europa.eu/news/eu-and-ukraine-kick-start-strategic-partnership-raw-materials-2021-07-13_en

5 https://www.geo.gov.ua/wp-content/uploads/presentations/en/investment-opportunities-in-exploration-production-strategic-and-critical-minerals.pdf

6Lazard, Olivia (2022): Russia’s Lesser-Known Intentions in Ukraine. Online verfügbar unter https://carnegieeurope.eu/strategiceurope/87319

7 https://www.aspistrategist.org.au/the-global-race-to-secure-critical-minerals-heats-up/

8 https://www.dw.com/de/zunehmender-lithium-abbau-verst%C3%A4rkt-wassermangel-in-chiles-atacama-w%C3%BCste/a-52039450

9 https://amerika21.de/2020/01/236832/bolivien-deutschland-lithium-aci-systems

10 https://www.democracynow.org/2019/11/18/bolivia_cochabamba_massacre_anti_indigenous_violence

11 https://pbs.twimg.com/media/EksIy3aW0AEIsK-?format=jpg&name=small

12 https://declassifieduk.org/revealed-the-uk-supported-the-coup-in-bolivia-to-gain-access-to-its-white-gold/

13 https://dailycollegian.com/2020/09/bolivias-new-government-and-the-lithium-coup/
https://www.trtworld.com/magazine/was-bolivia-s-coup-over-lithium-32033
https://www.theguardian.com/commentisfree/2019/nov/13/morales-bolivia-military-coup

14 https://www.fuelfreedom.org/cars-in-2050/

15 https://data.oecd.org/gdp/real-gdp-long-term-forecast.htm

16 Pulido-Sánchez, Daniel; Capellán-Pérez, Iñigo; Castro, Carlos de; Frechoso, Fernando (2022): Material and energy requirements of transport electrification. In: Energy Environ. Sci. 15 (12), S. 4872–4910. DOI: 10.1039/D2EE00802E

17 Tooze, Adam (2006): Ökonomie der Zerstörung, München



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APCC Special Report: Strukturen für ein klimafreundliches Leben
Der große Umbau
von Martin Auer

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Lesedauer 11 Minuten

Es ist nicht leicht, in Österreich klimafreundlich zu leben. In allen Bereichen der Gesellschaft, von Arbeit und Pflege über Wohnen bis zu Mobilität, Ernährung und Freizeit sind tiefgreifende Veränderungen notwendig, um dauerhaft ein gutes Leben für alle zu ermöglichen, ohne die Grenzen des Planeten zu sprengen. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen zu diesen Fragen haben österreichische Top-Wissenschaftler:innen in zweijähriger Arbeit zusammengetragen, gesichtet und bewertet. So ist dieser Bericht entstanden, der Antwort geben soll auf die Frage: Wie können die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so gestaltet werden, dass ein klimafreundliches Leben möglich ist?

Koordiniert hat die Arbeit am Bericht Dr. Ernest Aigner, der auch Scientist for Future ist. Im °CELSIUS-Interview gibt er Auskunft über die Entstehung, den Inhalt und die Ziele des Berichts.
(Weitere Interviews mit Autor:innen zu den verschiedenen Themenfeldern werden folgen)

°CELSIUS: Erste Frage: Was ist dein Hintergrund, was sind die Gebiete, auf denen du arbeitest?

Dr. Ernest Aigner
Ernest Aigner
Foto: Martin Auer

ERNEST AIGNER: Bis letzten Sommer war ich an der Wirtschaftsuniversität Wien am Department für Sozioökonomie angestellt. Mein Hintergrund ist ökologische Ökonomie, also ich habe sehr viel zu der Schnittstelle Klima, Umwelt und Wirtschaft gearbeitet – aus verschiedenen Blickwinkeln – und im Rahmen dessen habe ich eben in den letzten beiden Jahren – von 2020 bis 2022 – den Bericht „Strukturen für ein Klimafreundliches Leben“ mit herausgegeben und koordiniert. Jetzt bin bei der „Gesundheit Österreich GmbH“ in der Abteilung „Klima und Gesundheit“, in der wir zum Zusammenhang Klimaschutz und Gesundheitsschutz arbeiten.

°CELSIUS: Das ist ein Bericht des APCC, des „Austrian Panel on Climate Change“. Was ist das APCC und wer ist das?

ERNEST AIGNER: Das APCC ist sozusagen das österreichische Pendant zum Intergovernmental Panel on Climate Change, auf Deutsch „Weltklimarat“. Das APCC ist angesiedelt an das CCCA, das ist das Zentrum für Klimaforschung in Österreich, und dieses gibt die APCC-Berichte heraus. Der erste von 2014 war ein allgemeiner Bericht, der den Stand der Klimaforschung in Österreich so zusammenfasst, dass Entscheidungstragende und auch die Öffentlichkeit informiert werden, was die Wissenschaft zum Klima im breitesten Sinne zu sagen hat. In regelmäßigen Abständen werden Special Reports herausgegeben, die sich mit speziellen Themenfeldern beschäftigen. Es hat zum Beispiel einen Special Report gegeben zu „Klima und Tourismus“, dann hat es einen zum Thema Gesundheit gegeben, und der kürzlich veröffentlichte „Strukturen für ein klimafreundliches Leben“ fokussiert auf Strukturen.

Strukturen: Was ist eine „Straße“?

°CELSIUS: Was sind „Strukturen“? Das kling furchtbar abstrakt.

ERNEST AIGNER: Ganz genau, es ist furchtbar abstrakt, und wir hatten selbstverständlich viele Debatten dazu. Ich würde einmal sagen, zwei Dimensionen sind besonders für diesen Bericht: Das eine ist, dass es ein sozialwissenschaftlicher Bericht ist. Die Klimaforschung wird ja oft sehr stark von den Naturwissenschaften geprägt, weil sie sich mit Meteorologie beschäftigt und mit Geowissenschaften und so weiter, und dieser Bericht ist ganz klar in den Sozialwissenschaften verankert und argumentiert eben, dass sich Strukturen verändern müssen. Und Strukturen sind all jene Rahmenbedingungen, die das alltägliche Leben prägen und gewisse Handlungen ermöglichen, gewisse Handlungen verunmöglichen, manche Handlungen nahelegen und andere Handlungen eher nicht nahelegen.

Ein klassisches Beispiel ist ein Straße. Da würde man zuerst über Infrastruktur nachdenken, das ist also alles Physische, aber dann gibt es auch das ganze rechtliche Regelwerk, also die Rechtsnormen. Die machen die Straße erst zur Straße, und so ist der rechtliche Rahmen auch eine Struktur. Dann ist natürlich auch eine Voraussetzung um die Straße benutzen zu können, das Eigentum an einem Auto zu haben beziehungsweise die Möglichkeit, eines zu kaufen. Insofern spielen auch Preise eine zentrale Rolle, Preise und Steuern und Förderungen, auch diese stellen eine Struktur dar. Ein weiterer Aspekt ist natürlich, ob Straßen oder das Benutzen von Straßen mit dem Auto positiv oder negativ dargestellt wird – wie darüber gesprochen wird. In dem Sinn kann man über mediale Strukturen sprechen. Selbstverständlich spielt auch eine Rolle, wer die größeren Autos fährt, wer die kleineren, wer mit dem Rad fährt. Insofern spielt auch soziale und räumliche Ungleichheit in der Gesellschaft eine Rolle – also wo man lebt und welche Möglichkeiten man hat. So kann man aus sozialwissenschaftlicher Perspektive systematisch verschiedene Strukturen abarbeiten und sich die Frage stellen, inwiefern diese jeweiligen Strukturen in den jeweiligen Fachgebieten ein klimafreundliches Leben erschweren oder erleichtern. Und das war der Zweck dieses Berichts.

Vier Sichtweisen auf Strukturen

°CELSIUS: Der Bericht ist ja einerseits strukturiert nach Handlungsfeldern und andererseits nach Herangehensweisen, also z. B. über den Markt oder über tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen oder technologische Innovationen. Kann man das ein bisschen näher ausführen?

Sichtweisen

Marktperspektive: Preissignale für klimafreundliches Leben…
Innovationsperspektive: soziotechnische Erneuerung von Produktions- und Konsumptionssystemen…
Bereitstellungsperspektive: Bereitstellungssysteme, die suffiziente und resiliente Praktiken und Lebensformen erleichtern…
Gesellschafts-Natur-Perspektive: Verhältnis Mensch und Natur, Kapitalakkumulation, soziale Ungleichheit…

ERNEST AIGNER: Ja, im ersten Abschnitt werden verschiedene Herangehensweisen bzw. Theorien beschrieben. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht ist es klar, dass verschiedene Theorien nicht zum selben Ergebnis kommen. Insofern können verschiedene Theorien in unterschiedliche Gruppen eingeteilt werden. Wir im Bericht schlagen vier Gruppen vor, vier verschiedene Herangehensweisen. Die eine Herangehensweise, die viel in der öffentlichen Debatte ist, ist der Fokus auf Preismechanismen und auf Marktmechanismen. Eine zweite, die zunehmend Aufmerksamkeit erhält, aber nicht so prominent ist, sind die verschiedenen Versorgungsmechanismen und Bereitstellungsmechanismen: Wer die Infrastruktur bereitstellt, wer den Rechtsrahmen bereitstellt, wer die Versorgung mit Dienstleistungen und Gütern bereitstellt. Eine dritte Perspektive, die wir in der Literatur identifiziert haben, ist der Fokus auf Innovationen im breiten Sinn, also zum einen natürlich technische Aspekte von Innovationen, aber auch alle sozialen Mechanismen, die damit einhergehen. Zum Beispiel bei der Etablierung von Elektroautos oder E-Scootern verändert sich nicht nur die Technik, die dem zugrunde liegt, sondern auch die sozialen Verhältnisse. Die vierte Dimension, das ist die Gesellschaft-Natur-Perspektive, das ist das Argument, dass man auf große wirtschaftliche und geopolitische und soziale langfristige Trends achten muss. Dann wird erkenntlich, wieso Klimapolitik in vielerlei Hinsicht nicht so erfolgreich ist, wie man erhoffen würde. Zum Beispiel Wachstumszwänge, aber auch geopolitische Gemengelagen, demokratiepolitische Fragestellungen. Also wie die Gesellschaft sich auch zum Planeten verhält, wie wir die Natur verstehen, ob wir die Natur als eine Ressource verstehen oder uns als Teil der Natur verstehen. Das wäre die Gesellschafts-Natur-Perspektive.

Die Handlungsfelder

Aufbauend auf diesen vier Perspektiven gibt es die Handlungsfelder. Da sind die, die oft in der Klimapolitik diskutiert werden: Mobilität, Wohnen, Ernährung, und dann noch mehrere andere, bisher nicht so oft diskutierte, wie zum Beispiel das Thema Erwerbsarbeit, das Thema Sorgearbeit.

Handlungsfelder

Wohnen, Ernährung, Mobilität, Erwerbsarbeit, Sorgearbeit, Freizeit und Urlaub

Dann versucht der Bericht Strukturen zu identifizieren, die diese Handlungsfelder prägen. Zum Beispiel der Rechtsrahmen ist prägend dafür, wie klimafreundlich gewohnt wird. Die Governance-Mechanismen, zum Beispiel der Föderalismus, wer welche Entscheidungskompetenzen hat, welche Rolle die EU hat, sind prägend, inwiefern Klimaschutz durchgesetzt wird oder wie rechtsverbindlich ein Klimaschutzgesetz eingeführt wird – oder eben auch nicht. Dann geht’s weiter: wirtschaftliche Produktionsprozesse oder die Wirtschaft als solches, Globalisierung als eine globale Struktur, Finanzmärkte als eine globale Struktur, soziale und räumliche Ungleichheit, die Versorgung mit sozialstaatlichen Dienstleistungen, und selbstverständlich ist auch die Raumplanung ein wesentliches Kapitel. Bildung, wie das Bildungssystem funktioniert, ob es auch auf Nachhaltigkeit ausgerichtet ist oder nicht, inwiefern die notwendigen Kompetenzen beigebracht werden. Dann die Frage der Medien und der Infrastrukturen, wie das Mediensystem aufgebaut ist und welche Rolle Infrastrukturen haben.

Strukturen, die in allen Handlungsfeldern klimafreundliches Handeln behindern oder fördern

Recht, Governance und politische Beteiligung, Innovationssystem und -politik, Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, Globale Warenketten und Arbeitsteilung, Geld- und Finanzsystem, Soziale und räumliche Ungleichheit, Sozialstaat und Klimawandel, Raumplanung, Mediendiskurse und -strukturen, Bildung und Wissenschaft, netzgebundene Infrastrukturen

Transformationspfade : Wie kommen wir von hier nach dort?

All das, von den Betrachtungsweisen, zu den Handlungsfelder, zu den Strukturen, wird in einem letzten Kapitel verbunden zu Transformationspfaden. Die noch einmal systematisch aufbereiten, welche Gestaltungsoptionen besonders das Potential haben, Klimaschutz voranzutreiben, welche sich gegenseitig befruchten, wo es eventuell Widersprüche gibt, und das zentrale Ergebnis dieses Kapitels ist, dass sehr viel Potential darin liegt, dass man verschiedene Herangehensweisen in Verbindung bringt und verschiedene Gestaltungsoptionen unterschiedlicher Strukturen zusammen denkt. Damit schließt der Bericht als Gesamtes.

Mögliche Wege zur Transformation

Leitplanken für eine klimafreundliche Marktwirtschaft (Bepreisung von Emissionen und Ressourcenverbrauch, Abschaffung klimaschädlicher Subventionen, Technologieoffenheit)
Klimaschutz durch koordinierte Technologieentwicklung (staatlich koordinierte technologische Innovationspolitik zur Effizienzsteigerung)
Klimaschutz als staatliche Vorsorge (staatlich koordinierte Maßnahmen zur Ermöglichung klimafreundlichen Lebens, z. B. durch Raumordnung, Investition in öffentlichen Verkehr; rechtliche Regelungen zur Einschränkung klimaschädlicher Praktiken)
Klimafreundliche Lebensqualität durch soziale Innovation (gesellschaftliche Neuorientierung, regionale Wirtschaftskreisläufe und Suffizienz)

Klimapolitik geschieht auf mehr als einer Ebene

°CELSIUS: Der Bericht ist ja sehr stark auf Österreich und Europa bezogen. Die globale Situation wird behandelt, insofern es da eine Wechselwirkung gibt.

ERNEST AIGNER: Ja, das Besondere an diesem Bericht ist, dass er sich auf Österreich bezieht. Das ist ja schon – aus meiner Sicht – eine der Schwächen dieser IPCC-Weltklimarat-Berichte, dass sie inhärent immer eine globale Perspektive als Ausgangspunkt nehmen müssen. Danach gibt es schon auch Unterkapitel für jeweilige Regionen wie Europa, ganz viel Klimapolitik passiert aber auf anderen Ebenen, sei es jetzt Gemeinde, Bezirk, Land, Bund, EU… Also der Bericht bezieht sich stark auf Österreich. Das ist auch der Zweck der Übung, allerdings wird Österreich schon als Teil einer globalen Wirtschaft verstanden. Deswegen gibt es auch das Kapitel über Globalisierung und ein Kapitel, das sich auf globale Finanzmärkte bezieht.

°CELSIUS: Es heißt auch „Strukturen für ein klimafreundliches Leben“ und nicht für ein nachhaltiges Leben. Die Klimakrise ist ja aber Teil einer umfassenden Nachhaltigkeitskrise. Ist das historisch bedingt, weil es das Austrian Panel on Climate Change ist, oder gibt’s da noch eine andere Begründung?

ERNEST AIGNER: Ja, das ist im Prinzip der Grund. Es handelt sich um einen Klimabericht, deswegen richtet sich der Fokus auf das klimafreundliche Leben. Allerdings, wenn man sich den aktuellen IPCC-Bericht ansieht oder die gegenwärtige Klimaforschung, kommt man relativ schnell zum Schluss, dass der reine Fokus auf Treibhausgasemissionen tatsächlich nicht zielführend sein wird. Daher haben wir uns auf Berichtsebene dafür entschieden, das klimafreundliche Leben wie folgt zu verstehen: „Klimafreundliches Leben sichert dauerhaft ein Klima, das ein gutes Leben innerhalb planetarer Grenzen ermöglicht.“ In diesem Verständnis ist zum einen die Betonung darauf, dass es eine klare Ausrichtung am guten Leben gibt, was bedeutet, dass soziale Grundbedürfnisse gesichert sein müssen, eine Grundversorgung besteht, dass Ungleichheit reduziert wird. Das ist die soziale Dimension. Auf der anderen Seite die Frage der planetaren Grenzen, da geht es nicht nur darum, die Treibhausgas-Emissionen zu reduzieren, sondern dass auch die Biodiversitätskrise eine Rolle spielt, oder Phosphor- und Nitratkreisläufe usw., und in diesem Sinne das klimafreundliche Leben deutlich breiter verstanden wird.

Ein Bericht nur für die Politik?

°CELSIUS: An wen wendet sich eigentlich der Bericht? Wer ist der Adressat?

Pressekonferenz zur Vorstellung des Berichts
Der Bericht wurde am 28. 11. 2022 der Öffentlichkeit vorgestellt
Prof. Karl Steininger (Herausgeber), Martin Kocher (Arbeitsminister), Leonore Gewessler (Umweltministerin), Prof. Andreas Novy (Herausgeber)
Foto: BMK / Cajetan Perwein

ERNEST AIGNER: Der Adressat sind zum einen all jene, die Entscheidungen treffen, die ein klimafreundliches Leben erleichtern oder erschweren. Das ist natürlich nicht bei allen gleich. Zum einen auf jeden Fall die Politik, gerade jene Politiker:innen, die besondere Kompetenzen haben, offensichtlich das Klimaschutzministerium, aber selbstverständlich auch das Arbeits- und Wirtschaftsministerium oder Sozial- und Gesundheitsministerium, auch das Bildungsministerium. Also die jeweiligen Fachkapitel adressieren die jeweiligen Ministerien. Aber auch auf Länderebene all jene, die die Kompetenzen haben, auch auf Gemeindeebene, und selbstverständlich entscheiden auch Unternehmen in vielerlei Hinsicht, ob klimafreundliches Leben ermöglicht oder erschwert wird. Offensichtliches Beispiel ist, ob die jeweiligen Lade-Infrastrukturen zur Verfügung stehen. Weniger diskutierte Beispiele sind, ob die Arbeitszeitarrangements überhaupt ermöglichen, klimafreundlich zu leben. Ob ich so arbeiten kann, dass ich mich in meiner Freizeit oder im Urlaub klimafreundlich fortbewegen kann, ob der Arbeitgeber Home-Office ermöglicht oder erlaubt, mit welchen Rechten das in Verbindung steht. Das sind dann auch Adressat:innen…

Protest, Widerstand und öffentliche Debatte sind zentral

…und selbstverständlich die öffentliche Debatte. Weil tatsächlich ganz klar aus diesem Bericht hervorkommt, dass Protest, Widerstand, öffentliche Debatte und mediale Aufmerksamkeit zentral sein werden, um klimafreundliches Leben zu erreichen. Und der Bericht versucht zu einer fundierten öffentlichen Debatte beizutragen. Mit dem Ziel, dass sich die Debatte am aktuellen Stand der Forschung orientiert, dass sie relativ nüchtern die Ausgangssituation analysiert und versucht, Gestaltungsoptionen auszuhandeln und koordiniert umzusetzen.

Foto: Tom Poe

°CELSIUS: Und wird jetzt der Bericht in den Ministerien gelesen?

ERNEST AIGNER: Das kann ich nicht beurteilen, weil ich nicht weiß, was in den Ministerien gelesen wird. Wir sind mit unterschiedlichen Akteuren in Kontakt, und zum Teil haben wir schon auch gehört, dass die Zusammenfassung zumindest von Referent:innen gelesen worden ist. Ich weiß, die Zusammenfassung ist schon sehr oft heruntergeladen worden, wir bekommen immer wieder Anfragen zu verschiedenen Themen, aber selbstverständlich würden wir uns noch mehr mediale Aufmerksamkeit wünschen. Es gab eine Pressekonferenz mit Herrn Kocher und Frau Gewessler. Das wurde auch medial rezipiert. Es gibt immer wieder Zeitungsartikel dazu, aber selbstverständlich ist aus unserer Sicht da noch Raum nach oben. Insbesondere kann auf den Bericht sehr oft verwiesen werden, wenn gewisse Argumente eingebracht werden, die aus klimapolitischer Sicht nicht haltbar sind.

Die gesamte wissenschaftliche Community war einbezogen

°CELSIUS: Wie war denn eigentlich die Vorgangsweise? Da sind 80 Forschende beteiligt gewesen, aber die haben jetzt nicht eine neue Forschung begonnen. Was haben die gemacht?

ERNEST AIGNER: Ja, es handelt sich bei dem Bericht um kein originäres wissenschaftliches Projekt, sondern um eine Zusammenfassung der gesamten relevanten Forschung in Österreich. Das Projekt wird gefördert vom Klimafonds, der auch dieses APCC-Format vor 10 Jahren in die Wege geleitet hat. Dann wird ein Prozess initiiert, wo sich Forschende bereit erklären, unterschiedliche Rollen einzunehmen. Dann wurden die Mittel für die Koordination beantragt, und im Sommer 2020 hat dann der konkrete Prozess begonnen.

Wie auch beim IPCC ist das eine sehr systematische Vorgehensweise. Zum einen gibt es drei Ebenen von Autor:innen: Es gibt die Hauptautor:innen, eine Ebene darunter die Leitautor:innen und eine Ebene darunter die beitragenden Autor:innen. Die koordinierenden Autor:innen haben die Hauptverantwortung über das jeweilige Kapitel, beginnen einen ersten Entwurf zu schreiben. Dieser Entwurf wird dann von allen anderen Autor:innen kommentiert. Die Hauptautor:innen müssen auf die Kommentare reagieren. Die Kommentare werden eingearbeitet. Dann wird ein weiterer Entwurf geschrieben und die gesamte wissenschaftliche Community wird gebeten, wiederum Kommentare abzugeben. Die Kommentare werden wieder beantwortet und eingearbeitet, und im nächsten Schritt wird dasselbe Prozedere nochmal gemacht. Und am Ende werden externe Akteure dazu geholt und gebeten, zu sagen ob alle Kommentare adäquat behandelt worden sind. Das sind noch einmal andere Forscher:innen.

°CELSIUS: Das heißt, es waren jetzt nicht nur die 80 Autor:innen beteiligt?

ERNEST AIGNER: Nein, es waren noch 180 Reviewer:innen. Aber das ist nur der wissenschaftliche Prozess. Alle Argumente, die im Bericht verwendet werden, müssen literaturbasiert sein. Forscher:innen können nicht ihre eigene Meinung schreiben, oder was sie denken, was stimmt, sondern tatsächlich können sie nur Argumente machen, die sich so auch in der Literatur wiederfinden, und sie müssen diese Argumente dann auf Basis der Literatur einschätzen. Sie müssen sagen: Dieses Argument wird von der gesamten Literatur geteilt und es gibt sehr viel Literatur dazu, also das gilt als gesichert. Oder sie sagen: Da gibt’s nur eine Publikation dazu, nur schwache Evidenz, es gibt widersprüchliche Ansichten, dann müssen sie das auch anführen. Insofern handelt es sich um eine bewertende Zusammenfassung des Stands der Forschung mit Hinblick auf die wissenschaftliche Qualität zur jeweiligen Aussage.

Alles, was in dem Bericht steht, basiert auf einer Literaturquelle, und insofern sind die Aussagen immer mit Hinblick auf die Literatur zu lesen und auch zu verstehen. Wir haben dann auch darauf geachtet, dass in der Zusammenfassung für Entscheidungstragende jeder Satz für sich steht und immer klar ist, auf welches Kapitel sich dieser Satz bezieht, und im jeweiligen Kapitel kann dann recherchiert werden, auf welche Literatur sich dieser Satz bezieht.

Stakeholder aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wurden eingebunden

Bis jetzt habe ich nur über den wissenschaftlichen Prozess gesprochen. Es hat begleitend einen sehr umfassenden Stakeholderprozes gegeben, und im Rahmen dessen hat es auch einen Online-Workshop und zwei physische Workshops mit jeweils 50 bis 100 Stakeholder:innen gegeben.

°CELSIUS: Wer waren die? Wo kamen die her?

ERNEST AIGNER: Aus Wirtschaft und Politik, aus der Klimagerechtigkeitsbewegung, aus Verwaltung, Unternehmen, Zivilgesellschaft – aus unterschiedlichsten Akteursfeldern. Also möglichst breit aufgestellt und immer in Bezug zu den jeweiligen Themenfeldern.

°CELSIUS: Diese Menschen, die ja keine Wissenschaftler:innen waren, die mussten sich da jetzt durcharbeiten?

ERNEST AIGNER: Da gab es verschiedene Zugänge. Der eine war, dass man online die jeweiligen Kapitel kommentiert. Die mussten sich da durcharbeiten. Der andere war, dass wir Workshops organisiert haben, um einen besseren Einblick zu bekommen, was die Stakeholder brauchen, also welche Informationen für sie hilfreich sind, und zum anderen ob sie noch Hinweise haben, welche Quellen wir noch beachten sollen. Die Ergebnisse des Stakeholderprozesses wurden in einem eigenen Stakeholderbericht veröffentlicht.

Ergebnisse aus dem Stakeholder-Workshop

Viel freiwillige unbezahlte Arbeit steckt in dem Bericht

°CESLSIUS: Also insgesamt ein sehr aufwendiger Prozess.

ERNEST AIGNER: Das ist nichts, was man einfach nur kurz hinschreibt. Diese Zusammenfassung für Entscheidungsträger:innen, da haben wir fünf Monate daran gearbeitet… Es sind gesamt ´gut 1000 bis 1500 Kommentare eingearbeitet worden, und es haben 30 Autor:innen wirklich mehrmals gelesen und bis auf jedes Detail abgestimmt. Und dieser Prozess passiert nicht im luftleeren Raum, ist aber tatsächlich im Wesentlichen unbezahlt geschehen, das muss man schon auch sagen. Die Bezahlung für diesen Prozess betraf die Koordination, also ich war finanziert. Die Autor:innen haben eine kleine Anerkennung bekommen, die nie und nimmer ihre Aufwände reflektiert. Die Reviewer:innen haben keine finanziellen Mittel erhalten, die Stakeholder:innen auch nicht.

Eine wissenschaftliche Basis für den Protest

°CELSIUS: Wie kann die Klimagerechtigkeitsbewegung diesen Bericht nützen?

ERNEST AIGNER: Ich denke der Bericht kann auf sehr viele Arten genutzt werden. Man sollte ihn auf jeden Fall ganz stark in die öffentliche Debatte einbringen, auch die Politik darauf hinweisen, was alles möglich ist und was nötig ist. Da werden ganz viele Gestaltungsoptionen aufgezeigt. Ein wesentlicher Punkt ist hier auch: Der Bericht verweist sehr explizit darauf, dass, wenn es kein stärkeres Engagement aller Akteure gibt, dass die Klimaziele schlicht verfehlt werden. Das ist der Stand der Forschung, da gibt es Einigkeit im Bericht, und diese Message muss an die Öffentlichkeit kommen. Die Klimagerechtigkeitsbewegung wird sehr viele Argumente finden, wie klimafreundliches Leben im Zusammenhang mit Einkommens- und Vermögensungleichheit betrachtet werden kann. Auch welche Bedeutung die globale Dimension hat. Es gibt viele Argumente dazu, die die Beiträge der Klimagerechtigkeitsbewegung schärfen und auf eine bessere wissenschaftliche Basis stellen können.

Foto: Tom Poe

Es gibt auch eine Nachricht in dem Bericht, die lautet: „Durch Kritik und Protest hat die Zivilgesellschaft Klimapolitik ab 2019 weltweit zeitweise ins Zentrum öffentlicher Debatten gebracht“, also da ist schon relativ klar, dass das wesentlich ist. „Wesentlich hierfür war das koordinierte Handeln sozialer Bewegungen wie z. B. Fridays for Future, das zur Folge hatte, dass der Klimawandel als gesellschaftliches Problem diskutiert wird. Diese Entwicklung hat neue klimapolitische Gestaltungsspielräume eröffnet. Umweltbewegungen können ihr Potential allerdings nur dann entfalten, wenn sie von einflussreichen politischen Akteur_innen innerhalb und außerhalb der Regierung unterstützt werden.“ Das ist schon der nächste Aspekt: Die Bewegung baut Druck auf und kann Veränderungen herbeiführen, allerdings braucht es auch Akteure, die in den jeweiligen entscheidungsträchtigen Positionen sitzen, die dann auch tatsächlich Veränderungen umsetzen können.

°CELSIUS: Jetzt ist die Bewegung ja auch darauf aus, diese Entscheidungsstrukturen, die Machtverhältnisse zu verändern. Also zum Beispiel wenn man sagt: Na ja, Klimarat der Bürger:innen ist schön und gut, aber der braucht auch Kompetenzen, der braucht auch Entscheidungsbefugnisse. So etwas wäre eigentlich eine sehr große Veränderung in unseren demokratischen Strukturen.

ERNEST AIGNER: Ja, der Bericht sagt wenig bis nichts aus zum Klimarat, weil er gleichzeitig stattgefunden hat, insofern gibt es da keine Literatur, die aufgegriffen werden könnte. An und für sich würde ich dir da schon recht geben, aber nicht literaturbasiert, sondern aus meinem Hintergrund heraus.

°CELSIUS: Vielen Dank für das Gespräch!

Der Bericht wird Anfang 2023 als Open Access Buch bei Springer Spektrum erscheinen. Bis dahin sind die jeweiligen Kapitel auf der Homepage des CCCA verfügbar.



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Wie klimafit sind Kärntens Parteien? Wir haben die Antworten!

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Pressemitteilung vom 21.2.23

Die österreichische Bundesregierung hat sich in ihrem Regierungsprogramm zur „Klimaneutralität 2040“ bekannt. Dazu bedarf es ehrgeiziger und sofort wirksamer Maßnahmen – auch und gerade auf Landesebene. In Kärnten besteht hier noch großer Aufholbedarf. Anlässlich der Landtagswahl am 5.3.2023 verschickte die Klima-Allianz Kärnten daher Anfang Februar einen Fragenkatalog zu klimarelevanten Themen an alle landesweit wahlwerbenden Parteien. Zwar erkannten durch die Beantwortung der Fragen alle Parteien die Dringlichkeit der Klimakrise an – einzige Ausnahme bleibt die FPÖ, die den Fragebogen nicht ausgefüllt hat.
Die Antworten selbst sind jedoch ernüchternd, denn Kärntens Parteien sind überwiegend nicht klimafit, wie die Plattform www.klimawahlen.at aufzeigt. Und das, obwohl gleichzeitig mittlerweile rund 100 Kärntner Wissenschaftler:innen betonen, dass die Anliegen der Klimaproteste gerechtfertigt sind. Eine zukunftsgerechte Klimapolitik ist somit unumgänglich. 

Klagenfurt, 21. Februar 2023

„Gemessen an der Einwohnerzahl steht Österreich auf Platz 98 aller ca. 200 Staaten weltweit, gemessen an den Pro-Kopf-Emissionen findet sich Österreich jedoch auf Platz 35 – wir emittieren also weitaus mehr, als uns zusteht. Das heißt: Wir müssen handeln, und zwar schnell, umfassend und effektiv. Auch Kärnten muss hierfür seinen Anteil leisten – dies haben viele der Parteien offensichtlich noch nicht erkannt“, erklärt Kirsten von Elverfeldt von S4F Kärnten für die Klima-Allianz Kärnten. „Wir haben die Antworten anonymisiert bewertet, wussten also nicht, von wem welche Antworten kamen. Die Auflösung auf der Website klimawahlen.at überrascht mich daher teilweise vielleicht genauso wie manche (Stamm-)Wähler:innen.“ Während die Fragen mit Ja, Nein oder gar nicht beantwortet werden konnten und dies den Wahlberechtigten einen schnellen ersten Überblick gibt, sind die Kommentare jedoch besonders aufschlussreich: „Viele Parteien scheinen die Ausmaße der Klimakrise noch nicht vollständig verstanden zu haben. Zwar wurden viele unserer Fragen mit ‚Ja‘ beantwortet, aus den Kommentaren lässt sich jedoch ableiten, dass die angedachten Maßnahmen unzureichend sind, um bis 2040 klimaneutral zu werden“, meint auch Jacqueline Jerney von Attac Kärnten.

Ernüchternd ist auch, dass nur wenige Parteien konkrete Pläne vorlegen können, welche Ziele auf welche Weise wann erreicht werden sollen. Dabei ist klar: „Damit Kärnten die Vorteile der Klimawende einfahren kann, braucht es neben schönen Worten auch konkrete Pläne: Verankerung der Klimaneutralität 2040 in der Landesverfassung, verbindliche Reduktionspfade, klare Verantwortlichkeiten und wissenschaftliche Kontrolle“, so Christian Kdolsky vom Klimavolksbegehren. Notwendig ist das auch in Kärntens Baukultur, denn „für eine umfassende Dekarbonisierung unserer gebauten Umwelt brauchen wir sehr rasch die Kooperation aller betreffenden Interessengruppen, um ein klimagerechtes Nachziehen von Richtlinien und Förderungen, sowie eine UMBauordnung, welche den Bestand als Ressource im Fockus hat, in Kraft zu setzen. UmBauKultur jetzt – denn jeder Tag und jedes Projekt zählt!“, bekräftigt Stefan Breuer von den S4F Kärnten.

Die Klima-Allianz Kärnten ist der regionale Zusammenschluss von Attac, Fridays for Future Kärnten, dem Klimavolksbegehren, Scientists for Future Kärnten und weiteren Kärntner Gruppen der Zivilgesellschaft. www.klimawahlen.at ist eine parteiunabhängige Plattform, die ehrenamtlich betrieben wird.

Für Rückfragen stehen zur Verfügung:

Allgemeine Fragen zum Klimawandel, Unterstützung der Anliegen der Klimaproteste, Vorgehensweise bei der Bewertung u. ä.:  Kirsten von Elverfeldt (, Tel.: 0463 2700 3215)

Allgemeine Fragen und Wirtschaft: Jacqueline Jerney ()

Bausektor: Stefan Breuer (

Energiesektor: Veronika Dworzak (

Titelbild: Ulrike Leone auf Pixabay



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Ein Spaziergang auf die richtige Seite: Warum wir vom Klimastreik am 3.3. nicht fernbleiben sollten

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Ein Aufruf und Meinungsbeitrag von Ivo Ponocny

Da gehen also Menschen für die Zukunft auf die Straße – aber ist meine Zeit dafür nicht zu schade? Was bringt das, wenn ich auch noch dort herumstehe?

So empfinden viele. Ich möchte ihnen antworten: zu diesen Menschen zu gehören ist für sich allein bereits ein überzeugender Grund, dabei zu sein. Tatsächlich erweist sich in vielen Studien das Gefühl, sich zu den Guten zählen zu dürfen, als eines der wirkungsvollsten Motive für das Engagement gegen die Erderhitzung.

Und das mit Recht! Denn ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Man wird uns alle einmal danach bewerten, ob wir auf diese Bedrohung für uns und die Nachkommenden reagiert oder einfach nur zugesehen haben. Niemand von uns wird einmal der Frage unserer Kinder entgehen, warum wir nicht für sie auf der Straße waren. Mein Sohn hat mich das schon gefragt, und wie froh wäre ich, hätte ich mehr vorzuweisen. Viel mehr. Viel, viel mehr. 

Warum ist es überhaupt wichtig, auf der Straße zu sein?

Weil effizienter Klimaschutz durch mangelnden politischen Willen jahrzehntelang verhindert wurde und noch immer wird. Das Notwendige unterblieb und unterbleibt, weil kein ausreichender Druck aus der Bevölkerung besteht. Sehen wir uns die jüngsten Wahlergebnisse an: weiterhin satte Mehrheiten für jene Parteien, die in der Erhebung durch die Scientists for Future die geringste Bereitschaft zum Klimaschutz zeigen. Dies lässt sich beim besten Willen nicht als Botschaft an die Verantwortlichen interpretieren, endlich den Klimaschutz ernst zu nehmen (eigentlich sogar als die, ihn möglichst unernst zu nehmen). Das der Jugend zu erklären, wird einmal nicht leicht sein – besonders für jene, die nie sichtbar protestiert haben.

Weshalb fehlt dieser Druck? Weil unser Gehirn auf Gefahren wie die Erderhitzung schlecht reagiert: zu abstrakt, zu schleichend, zu langfristig, und nicht zuletzt zu unbequem, sich dagegen zu wappnen. Wir sind mehr die „Aus den Augen, aus dem Sinn!“-Typen. Aber CO2 ist unsichtbar. Es qualmt nicht, es raucht nicht, es stinkt nicht, es ist nicht einmal unheimlich, es überfällt uns auch nicht plötzlich in dunklen Winkeln, um uns zu fressen. Eine harmlose Spinne aktiviert uns mehr als die Aussicht auf Dürre, Brände, Überschwemmungen und anderen Naturkatastrophen. Wir wissen nur über die Zusammenhänge, aber wir können sie nicht fühlen.

Glücklicherweise gibt es eine Einrichtung, die dort „Wissen schafft“, wo unsere unmittelbare sinnliche Erfahrung zu kurz greift. Bei aller Skepsis genießt diese Wissenschaft großes Vertrauen: Bedenkenlos liefern wir uns ihren Schlussfolgerungen aus, wenn wir in ein Flugzeug steigen, zuversichtlich unterziehen wir uns medizinischen Operationen und schlucken pharmazeutische Medikamente, und weder bezweifeln wir die Existenz unsichtbarer WLAN-Signale, wenn wir am Laptop streamen, noch die wissenschaftlichen Aussagen über die Atmosphäre oder was darüber liegt. 

Einen Moment gibt es jedoch, wo wir plötzlich unsere kritische Geisteshaltung in uns selbst entdecken: Er kommt immer dann, wenn die Wissenschaft etwas Unbequemes schlussfolgert. Wir glauben ihr, wenn sie uns Medikamente verschreibt, aber nicht, wenn sie in unserem Lebenswandel ein Problem sieht. Wir bezweifeln nicht die Physik des Wetters, es sei denn, sie deutet auf unser Fehlverhalten hin. Wir vertrauen fest darauf, dass die Technik noch rechtzeitig Lösungen gegen denselben Klimawandel erfinden wird, den wir zugleich so lange bezweifeln, wie aus ihm eine Einschränkung unseres Konsums abgeleitet werden müsste.

Die Skepsis gegenüber dem menschengemachten Klimawandel stellt geradezu ein Musterbeispiel dar: Die meisten bezweifeln weder den physikalischen Effekt von Treibhausgasen, noch dass CO2 ein Treibhausgas ist (eines von mehreren, um das nicht unerwähnt zu lassen), noch dass wir es in großen Mengen freisetzen, noch die Messmethoden, die dessen faktischen Anstieg belegen – aber entsprechend festzustellen, dass unser Verhalten die Erde erhitzt und wir es ändern sollten, dafür gebe es nicht den geringsten Anlass. Hand aufs Herz: Wie anders als durch Bequemlichkeit ist zu erklären, dass wir nichts an der ganzen Schlussfolgerung hinterfragen außer die unliebsamen Konsequenzen? Diese Tendenz, lieber die Kognitionen zu verändern als das Verhalten, kennt die Psychologie unter dem Schlagwort „kognitive Dissonanz“ bzw. „Rationalisierungsfalle“ schon seit Jahrzehnten. Es handelt sich offenbar einen grundlegenden psychologischen Mechanismus: Rationalisieren tritt an die Stelle von rationalem Denken, und Wertigkeiten können sich umdrehen: Vernunft erscheint den Unvernünftigen als extremistisch. 

Genau deshalb müssen wir auch auf die Straße: Damit dieses allzu bequeme Verdrängen nicht so einfach gelingt.

Die Kenntnislage ist in dieser Angelegenheit nämlich so eindeutig, wie es in einer Wissenschaft nur sein kann: Die Temperaturkurve (der berühmte steil nach oben zeigende „Hockeyschläger“) belegt genau jenen rapiden, dramatischen Anstieg, der aufgrund der menschengemachten Emissionen vorhergesagt wurde, dessen Geschwindigkeit aber jeden denkbaren natürlichen Effekt übertrifft – und dessen Fortführung offensichtlich fatal wäre.

Heißt das aber, dass die Wissenschaft – im Sinne der sogenannten „post-normalen Wissenschaft“ – Forderungen an die Gesellschaft stellen darf? Forderungen, wie energische Maßnahmen gegen die Erderhitzung zu ergreifen? Tatsächlich ist es die Aufgabe der Wissenschaft, möglichst objektive Fakten bereitzustellen, selbst wenn eine völlig wertfreie Wissenschaft aus vielen Gründen in Wahrheit gar nicht möglich ist. Wenn also nun Wissenschaftler*innen – ob individuell oder in Zusammenschlüssen wie den Scientists for Future – Stellung beziehen, sind das meines Erachtens gar nicht so sehr Forderungen „der Wissenschaft“ – sondern Forderungen, die auf moralischen Schlussfolgerungen aus wissenschaftlichen Fakten beruhen.

Wissenschaftler*innen können sich auf ihre Weise zu Wort melden, jeder Mensch kann demonstrieren gehen. Wir gehen ja auch spazieren, freiwillig, ohne äußeren Nutzen. Warum nicht mit dem nächsten Spaziergang etwas Gutes tun? Unsere Schritte einfach so lenken, dass wir auf der richtigen Seite stehen?

Wenn wir schon von der richtigen Seite sprechen: Ob man die Erderhitzung bekämpft oder zulässt, hat nichts mit Ideologie zu tun, schon gar nicht mit links, konservativ oder rechts, auch wenn das des Öfteren suggeriert wird. Da ist keine Ideologie dabei, in welcher die Zerstörung unserer eigenen Lebensgrundlagen und der unserer Kinder eine Tugend wäre. Die Wissenschaft ist sich einig: Mangelnder Einsatz für Klimaschutz würde unserem Land und unseren Kindern sowie Menschen in anderen Ländern und deren Kindern Schaden zufügen. Zerstören ist einfach nur zerstören: Solange wir das Klima schädigen, kämpfen wir für keinerlei Werte, wie auch immer sie aussehen mögen, wir sind nichts weiter als die Generation, die das Wohl ihrer eigenen Nachkommen für 30 Silberlinge verscherbelt.

Und um auch das nicht unerwähnt zu lassen: Gerade wer keine Geflüchteten im Land will, sollte das Klima bewahren. Die Menschenströme, die die Erderhitzung an unsere Grenzen treiben wird, werden den Schätzungen zufolge die Zahlen der letzten Jahre noch bei weitem übertreffen, vielleicht um ein Zehnfaches.

Was ist der Unterschied, ob wir am Klimastreik teilnehmen oder nicht?

Die Erderhitzung kam nicht von selbst. Sie war eine Entscheidung, und deren Fortsetzung ist es noch immer. Studien zeigen, dass Menschen viel weniger Aufwand treiben, um sich vor äußeren Bedrohungen zu schützen als vor solchen, für die sie selbst verantwortlich sind. Demonstrationen sind auch darum wichtig, um der Öffentlichkeit deutlich zu machen, dass es noch immer wir sind, die sich für oder gegen Klimaschutz entscheiden bzw. solche Entscheidungen an die Politik in Auftrag geben – oder eben nicht. Weitere Studien zeigen, dass Demonstrationen tatsächlich die öffentliche Meinung beeinflussen können und für deren langfristige Entwicklung eines der wirkungsvollsten Instrumente darstellen.

Natürlich kann eine einzelne Person nicht an der Politik vorbei das Klima retten. Und wahrscheinlich ändert sich auch nach dem 3.3. nicht unmittelbar etwas, egal wie viele Menschen auf der Straße stehen, und vor allem egal, ob ich dort stehe oder nicht. Das mag stimmen, aber wir können die öffentliche Wahrnehmung wieder ein Stück in die richtige Richtung verschieben. Es ist die freie Entscheidung jedes Einzelnen, sich für die gute Seite einzusetzen – oder das dafür Nötige zu unterlassen. Genau wie bei einer Wahl, wo man ja auch hingeht, obwohl mit an Unmöglichkeit grenzender Unwahrscheinlichkeit die eigene Stimme nicht den Ausschlag geben wird.   

Es wird auch nicht eine einzelne Demonstration die Welt verändern, genauso wenig wie ich meine Zähne retten werde, indem ich sie gerade heute putze. Wem von uns ist wohl an diesem Morgen der alles entscheidende Schlag gegen Karies geglückt? Dennoch haben die meisten von uns die Zahnbürste auch heute in die Hand genommen. Obwohl es doch eigentlich dieses eine Mal nichts bringt. 

Weil wir uns so und nicht anders verhalten, wenn uns etwas wichtig ist.

Und weil wir mit gutem Grund den Tag fürchten, an dem man uns fragen würde, wie wir Deppen unsere Zähne so vernachlässigen konnten. Was uns hier hilft: Es gibt eine soziale Norm, dass man Zähne putzt, und an die halten wir uns. Auch in Sachen Klimaverhalten gilt das Vorliegen starker klimafreundlicher Normen als entscheidend. Dadurch, dass wir sehen, was anderen wichtig ist, wird es auch für uns bedeutender. Wenn wir aber erkennen, dass sich niemand ernsthaft um etwas schert, bleiben auch wir eher gleichgültig. Es ist also unerlässlich, dass wir, wenn wir Klimaschutz wollen, dabei auch von anderen gesehen werden, um solche Normen zu schaffen. Volle Straßen sind ein Signal. Leere Straßen leider auch.

Deshalb meine ich zum Klimastreik: Gehen wir hin!

Wer heute nicht geht, geht morgen auch nicht.

Und wer auch morgen nicht geht, geht nie.

Sehen wir uns?

Titelbild: Markus Spiske auf pexels.com



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Wissenschaftler unterstützen Klimablockade in Linz

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Am 10.1.2023 führten Mitglieder der „Letzten Generation“ eine Blockade der Waldeggstraße durch, um auf die Dringlichkeit der Klimakrise hinzuweisen. 30 oberösterreichische Wissenschaflter*innen haben in einer Stellungnahme ihre grundsätzliche Solidarität für derartige Proteste bekundet, zwei von ihnen waren bei der Blockade dabei.

Im Standard und im Kurier wird zum aktuellen Protest berichtet:

Oberösterreichische Wissenschafter und Wissenschafterinnen unterstützen die „Letzte Generation“. Die Dringlichkeit der Klimakrise erfordere viel wichtigere Debatten als jene, ob die Protestformen gerechtfertigt sind. „Die öffentliche Sicherheit wird nicht durch Proteste bedroht, sondern durch das Versagen der Politik im Klimaschutz“, sagte Mirko Javurek von Scientists for Future OÖ.

Ein teilnehmender Schüler kritisierte die Pläne für neue Gasbohrungen in Molln scharf: „Wie kann eine Regierung den Ausstieg aus fossiler Energie ernst meinen, wenn sie gleichzeitig zulässt, dass hier in Oberösterreich nach neuem fossilem Gas gebohrt wird?“

Die Oberösterreichischen Nachrichten schreiben:

Die Wissenschaftler unterstützen die Forderungen der „Letzten Generation“: „Es braucht ein Alarmzeichen, weil die Gesellschaft auf eine Klimakatastrophe zurast, ohne etwas dagegen zu tun. Ziviler Ungehorsam hat in der Geschichte immer wieder in ähnlichen Situationen eine Veränderung bewirkt“, sagt Mirko Javurek.

Videobeitrag der Oberösterreichischen Nachrichten

Es wird geschildert, wie ein Wissenschaftler von Scientists for Future versucht, einen aufgebrachten Passanten „in ein Gespräch zu verwickeln und Verständnis für die Klimaschützer zu erzeugen – vergeblich. Schimpfend setzt er [der Passant] schließlich seinen Weg fort.“

Auf die Frage, ob sie denn in der Blockade keine Angst hätte, antwortet eine Teilnehmerin der Letzten Generation: „Ich habe Angst, unglaubliche Angst.“ Aber ihre Angst vor der Klimakatastrophe sei noch viel größer. Während die Polizisten ihre Hand von der Straße lösen, schreit sie vor Schmerzen. Später sagt sie: „Meine Hand ist äußerlich nicht verletzt. Sie tut schon ordentlich weh, aber das nehmen wir in Kauf. Das ist eine der Sachen, die wir ertragen müssen. Im Vergleich zu dem, was auf uns zukommt, ist das nichts – Krieg, Hunger, Dürren. Da bin ich bereit, Opfer zu bringen.“

Die Kronen Zeitung berichtet über die ablehnende Reaktion des Linzer Bürgermeisters, der seine Forderung nach einer Verschärfung des Strafrechts „für derartige Chaos-Aktionen“ wiederholte. „Parents For Future Oberösterreich“ halten eine anlassbezogene Verschärfung von Gesetzen für menschenrechtlich und demokratiepolitisch mehr als bedenklich und mahnen: „Insofern erscheint es uns völlig überzogen und unwürdig, dass die Aktivist:innen, die sich gewaltfrei gegen unser aller Gefährdung engagieren, jetzt für ihr ziviles Engagement bestraft werden. Ziviler Ungehorsam darf von der Politik nicht kriminalisiert werden! Einige engagierte Aktivistin:innen erfahren aktuell gravierende berufliche und materielle Nachteile wegen ihres Einsatzes für uns alle. Das ist absolut inakzepabel. Der Wandel muss von unten kommen, denn die Politik flüchtet sich beim Klimaschutz in Ausreden. Diejenigen, die sich festkleben, stellen keine Gefahr für die Gesellschaft dar, sondern nützen ihr sogar.“ Die um die Zukunft fürchtenden Eltern begründen „die bewusst provozierenden Aktionen“ der Klima-Aktivisten so: „Diese Menschen sind aufgrund übereinstimmender, weltweiter Warnungen von Klimaforscher:innen unterschiedlicher Fachrichtungen getrieben von Sorge um unsere und die Zukunft der nachfolgenden Generationen. Sie haben auch die Erfahrung gemacht, dass bisherige Forderungen und übliche Protestformen von den Regierenden und der Gesellschaft zu wenig beachtet wurden.“ Daher hätten sich einige dazu entschlossen, mit Blockaden und anderen bewusst provozierenden Aktionen stärker den Blick auf die Klimakrise zu lenken. „Alle ihre Aktionen sind aber darauf bedacht, keinen materiellen Schaden und schon gar keine Gefährdung von Menschen zu verursachen“.



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S4F-Klimacheck – damit die Wahl zur Klimawahl wird

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Bald schon ist es so weit. In 6 Jahren, um genau zu sein. Dann werden wir so viel CO2 in der Atmosphäre haben, dass sich die Erde mit großer Wahrscheinlichkeit um mehr als 1,5°C erwärmen wird. Und dann beginnt auch der gefährliche Teil unseres globalen Klimaexperimentes. Jenseits der 1,5°C wächst die Gefahr, dass unser Klima tatsächlich seine Stabilität verliert. Ein stabiles Klima ist die Grundlage für stabilen Wohlstand, stabile Nahrungsmittelproduktion und eine stabile und damit sichere Gesellschaft. Wenn wir nicht sofort einige Dinge verändern, setzen wir all das aufs Spiel.

Damit ist auch klar, dass Regierungen, die heute gewählt werden, die letzten sind, die das Ruder noch herumreißen können. Das gilt nicht nur für die Bundesregierung. Auch die Länder und Gemeinden können beim Klimaschutz viel bewegen und verhindern. Möglichkeiten wurden kürzlich in einem Pressegespräch von Scientists for Future Österreich dargelegt. Damit wird jede Wahl zur Klimawahl. Zum Glück sind die Zeiten, in denen die Klimakrise auf die eine oder andere Weise geleugnet wurde, praktisch vorüber. Stattdessen bemühen sich alle Parteien, sich selbst als die großen Klimaschützer:innen zu inszenieren. Aber was steckt dahinter? Welche Parteien wollen echten Klimaschutz, der rasch wirkt und wo bemüht man sich eher um einen grünen Anstrich für die graue Fassade? FFF, S4F und das Klimavolksbegehren haben anlässlich der Landtagswahl in Niederösterreich 17. Fragen an die Parteien geschickt und die Antworten auf Klimawahlen.at eingeordnet. Es zeigt sich: Vom Ausgang der Wahl hängt viel ab für den Klimaschutz in Österreich.

Hier ein Überblick über die Antworten der Parteien in Niederösterreich: 

ÖVP: Die ÖVP wollte sich bei fünf Fragen nicht festlegen, zum Beispiel bei einem verpflichtenden Treibhausgasbudget für Niederösterreich inklusive eines Reduktionspfads. Hier möchte sie auf Vorgaben des Bundes warten. Beim Ausstieg aus Öl und Gas und bei der Wärmewende verweist sie auf bestehende Maßnahmen. Auch beim Fracking-Verbot gibt es kein klares Nein. Ein klares Nein gibt es hingegen zum Stopp großer Straßenbauprojekte und der Umstrukturierung der Landwirtschaft auf eine verstärkt pflanzliche Ernährung.

Fazit von S4F: Formell bekennt sich die ÖVP zu den Klimazielen, jedoch werden konkrete Maßnahmen abgelehnt, verzögert und verwässert. Verantwortungen werden hin- und hergeschoben. Die bestehenden Maßnahmen, auf die verwiesen wird, haben bisher keine wesentlichen Reduktionen von Treibhausgas-Emissionen erreicht. Zwischen 1990 und 2019 belaufen sich diesbezügliche Einsparungen auf lediglich -4 %. Um auf Klimakurs zu kommen, muss die ÖVP Niederösterreich also eindeutig noch liefern.


SPÖ: Die SPÖ ist in vielen ihrer Antworten zustimmend, beantwortet die Frage nach einem Stopp neuer Straßenbauprojekte mit Nein. 

Fazit von S4F: Der Verkehr ist Österreichs großes Sorgenkind in der Emissionsreduktion und eine umfassende Mobilitätswende ist unerlässlich. Große Straßenbauprojekte erzeugen einen Lock-In Effekt, machen uns also abhängig von noch mehr fossiler Infrastruktur und erhöhen das Verkehrsaufkommen. Statt den motorisierten Individualverkehr noch weiter zu fördern, braucht es einen massiven Ausbau des öffentlichen Verkehrs, von Radwegen und eine Neuaufstellung der niederösterreichischen Raumplanung, um alternative Mobilitätsformen auch wirklich attraktiv zu machen. 


FPÖ: Die FPÖ beantwortete keine der Fragen von Klimawahlen.at.

Fazit von S4F: Gerade bei solch dringlichen und existenziell wichtigen Anliegen wie dem Klimaschutz sollten Parteien mit Maßnahmen und Lösungen, aber zumindest mit Antworten aufwarten. Wir deuten dies als Desinteresse an Klimapolitik im Allgemeinen.

Grüne: Die Grünen stimmten erfreulicherweise jeder einzelnen Frage zu und kommentierten mit inhaltlicher Expertise in Sachen Klimapolitik und Appellen an die Verantwortung Niederösterreichs. 

Fazit von S4F: Die Grünen zeigen hohes Problembewusstsein und Lösungskompetenz. Von ihnen ist ein progressiver Klimakurs mit Zielorientierung zu erwarten.

Neos: Die NEOS stimmten erfreulicherweise den meisten Fragen zu und kommentierten mit inhaltlicher Expertise in Sachen Klimapolitik. Ein Fracking-Verbot lehnen sie jedoch ab. Gegen einige große Straßenbauprojekte sprechen sie sich aus, jedoch nicht gegen den Lobautunnel.

Fazit von S4F: Fracking stellt eine Bedrohung für das Grundwasser sowie für die umliegenden Ökosysteme dar und fördert fossiles Gas, das die Klimakrise weiter anheizt. Die Antworten und Kommentare der NEOS lassen insgesamt auf einen progressiven Klimakurs mit Zielorientierung schließen.

Die Wahlentscheidung an der Urne spielt eine große Rolle bei der Frage, wie wir unsere Welt an unsere Kinder und Enkel weiterreichen. Aber auch abseits von Wahlen kann man viel bewegen. Studien zeigen, dass der Protest auf der Straße oft noch mehr bewirkt als Wahlergebnisse. Wer also nicht auf die nächste Wahl warten möchte und auch zwischen den Urnengängen Druck machen will, tut das am besten, indem man eine der vielen Gruppen unterstützt, die sich für Klima- und Biodiversitätsschutz engagieren, indem man sich nicht an der Kriminalisierung und Hetze gegen Klimaaktivist:innen beteiligt und natürlich indem man zum Klimastreik am 3. März kommt.


Titelbild: Photo by Element5 Digital



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Nach der Pandemie ist während des Klimawandels – wie kann man Konferenzen nachhaltiger gestalten?

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Lesedauer 6 Minuten

von Christoph Bamberg – Projektbericht

Über zwei Jahre fanden kaum wissenschaftliche Konferenzen in Präsenz statt, dabei ist der persönliche Austausch ein wichtiger Faktor wissenschaftlichen Fortschritts. Die Maßnahmen gegen die Covid-19 Pandemie wurden vielerorts gelockert und Reisen ist wieder nahezu uneingeschränkt möglich. Während die Pandemie dadurch für viele in den Hintergrund rückt, schreitet der Klimawandel nach wie vor fort. Nun stellt sich in dieser Situation die Frage: Sollen wir wieder zu unserem alten Verhalten zurückkehren und für einen 60-minütigen Vortrag in die USA fliegen, von einer Konferenz zur nächsten jetten, im Hotel übernachten, Catering mit Wegwerfgeschirr nutzen? Oder sehen wir die Zwangspause vom Konferenzalltag als eine Gelegenheit die Form des persönlichen Austauschs untereinander neu zu denken? Es ist eine Chance für die Wissenschaft ihre Klimabilanz zu verbessern, inklusiver zu werden und ein neues Format für die Zukunft mitzugestalten.

Im Folgenden wird ein Versuch vorgestellt eine Konferenz für über 100 Teilnehmende nachhaltig und CO2-neutral durchzuführen. Dies gilt natürlich auch für andere Branchen. Dieser Text ist somit auch nicht nur für Wissenschaftler:innen relevant, sondern für alle, die sich überlegen wie sie größere Treffen nachhaltiger gestalten können.

Es gibt viele Ansätze wie man eine Konferenz nachhaltiger gestalten kann – und es ist nicht selbsterklärend, welche Maßnahmen am zielführendsten sind. Teilweise könnten sie auch eher hinderlich sein: Wenn ich mich zu sehr auf das Kompensieren entstandener Emissionen konzentriere, verpasse ich eventuell eine Gelegenheit die Ausschüttung an sich zu verringern. Es lohnt sich also genauer hinzuschauen, was gut und was weniger gut funktioniert. Wie bei anderen Fragen der Nachhaltigkeit auch (z.B. “soll ich mich vegan ernähren oder eher lokal und saisonal?”) ist es wichtig einen Versuch zu wagen, bevor man zu lange hadert. Der hier beschriebene Versuch einer grünen Konferenz wurde, wie Wissenschaftler:innen das gerne machen, von einer Datenerhebung begleitet, die diesem Text zu Grunde liegt. Es handelt sich um die diesjährige Tagung der Deutschen Gesellschaft für Verhaltensmedizin (DGVM), die an der Paris Lodron Universität in Salzburg ausgerichtet wurde.

Jens Blechert, der Gastgeber, und sein Team haben sich das Ziel gesetzt die Veranstaltung komplett CO2-neutral zu gestalten. Diese Tagung ist ein interessantes Beispiel, da sie gerade nicht von Nachhaltigkeits- und Umweltforscher:innen abgehalten wurde und man somit besser beobachten kann, wie machbar es auch für Nicht-Expert:innen ist eine nachhaltige Konferenz zu planen. Die Konferenz wurde als hybride Veranstaltung abgehalten. Doch was bedeutet das und welche anderen Formate gibt es? 

Nachhaltigere Konferenzformate

  • Konferenzen an zentral gelegenen Orten: Bislang sind die Austragungsorte von Konferenzen oft historisch bedingt und nicht unbedingt aufgrund bewusster Überlegungen ausgewählt. Wird stattdessen die geographische Verteilung der Teilnehmer:innen analysiert und ein möglichst zentraler Konferenzort gewählt, kann das die Anzahl der Reisekilometer – und somit die Gesamtemissionen – verringern. Das funktioniert sogar dann, wenn viele immer noch mit dem Flugzeug anreisen1. Noch besser ist es natürlich, wenn der Ort so gewählt werden kann, dass die meisten mit dem Zug anreisen können.
  • Online-Konferenzen: Seit Beginn der Corona-Pandemie werden viele Konferenzen in den virtuellen Bereich verlegt – es finden also alle Vorträge und Diskussionen auf online-Plattformen statt. Zunehmend wird auch Software verwendet, die es den Teilnehmer:innen erlaubt, sich in virtuellen „Räumen“ zu bewegen, zu treffen und z.B. Poster zu präsentieren. Online-Konferenzen reduzieren nicht nur die Infektionsgefahr, sondern auch den Treibhausgasausstoß: Zwar kommen sie aufgrund von z.B. lokalem Stromverbrauch und Servernutzung nicht ohne CO2-Emissionen aus, jedoch sind diese deutlich geringer als die von Konferenzen mit persönlicher Konferenzteilnahme2. Ein weiterer Vorteil ist, dass auch Wissenschaftler:innen, die z.B. aus finanziellen, familiären oder gesundheitlichen Gründen nicht reisen können, online oft problemlos teilnehmen können. So wurde z.B. gezeigt, dass Online-Konferenzen den Anteil an weiblichen Teilnehmerinnen sowie die geographische Reichweite vergrößern3.
  • Hybrid-Konferenzen: Hybrid-Konferenzen stellen, wie der Name schon sagt, eine Mischform dar – während manche Teilnehmer:innen zum Konferenzort reisen, sind andere online dabei4. Aufgrund der insgesamt niedrigeren Reisetätigkeit sinken somit die Gesamtemissionen. Auch hier wird die Konferenz für größere Personengruppen zugänglich, wobei gleichzeitig die Vorteile des persönlichen Austausches zumindest für einen Teil der Teilnehmer:innen erhalten bleiben.
  • Hub-Konferenzen: Beim Hub-Modell findet eine Konferenz zeitgleich an mehreren Orten statt, die miteinander vernetzt sind. Zum Beispiel können Teilnehmer:innen an Ort 1 virtuell beim Vortrag einer Teilnehmerin an Ort 2 und der folgenden Diskussion dabei sein, und umgekehrt. Auch dieses Modell verknüpft die Vorteile persönlicher Konferenzteilnahme (z.B. informelle Gespräche und soziale Events am Abend) mit insgesamt reduzierter Reisetätigkeit (da jede:r Teilnehmer:in nur zum nächstgelegenen „Hub“ reisen muss) und somit reduzierten Emissionen5.

Ein Praxisbeispiel: Die DGVM-Konferenz

Wie es mit der nachhaltigen Gestaltung der hybriden DGVM-Konferenz lief und ob dies bei den Teilnehmenden gut ankam werden wir uns jetzt im Detail ansehen. Schon bei grundlegenden Entscheidungen wie dem Austragungsort und den Räumen können viele Emissionen eingespart werden. Hier kommt es auf die Erreichbarkeit des Veranstaltungsortes und die Energiebilanz der genutzten Gebäude an. Die Konferenz fand in Salzburg statt, also einem gut erreichbaren Ort, zentral in Europa gelegen und nicht auf einer schönen Mittelmeerinsel. In der Vergangenheit wurden Konferenzen gerne an solchen Urlaubsorten gehalten, um einen zusätzlichen Anreiz zur Teilnahme zu schaffen. Die DGVM fand in Räumen der Paris Lodron Universität statt, welche eine EMAS-zertifizierte Energieversorgung aufweisen5 und wurde als hybride Veranstaltung gleichzeitig online übertragen. 

Um die online Teilnehmenden reibungslos einzubinden, wurde ein externer technischer Support engagiert. Zwei Techniker waren dauerhaft im Einsatz vor Ort. Der hybride Charakter der Vorträge und Diskussionen war sehr ausrüstungsintensiv mit einer Kamera für das Podium und einer für das Plenum, mehreren Mikrophonen, etc. Dieser Aufwand lohnte sich jedoch dahingehend, dass das hybride Format reibungsarm funktionierte, bis auf kleinere Verzögerungen. Die technische Unterstützung kostete ungefähr die Hälfte des vorhandenen Budgets. Der hybride Charakter ist somit auf jeden Fall mit mehr Aufwand und Kosten für die Organisator:innen verbunden. Teilweise gibt es aber auch Einsparungen, wenn Vortragende sich online zuschalten statt per Flug anzureisen, der ihnen finanziert werden müsste.

Es kommt jedoch nicht nur auf Entscheidungen der Organisator:innen an, sondern auch auf die Bereitschaft der Konferenzteilnehmenden ihr Verhalten anzupassen. Bereits in der Teilnahmebestätigung wurden die Teilnehmenden darauf hingewiesen, dass die Konferenz ein “green meeting” ist, dass es “nur” veganes Catering gibt und weiterhin wurde um eine Emissions-arme Anreise per Zug gebeten. Für die Datenerhebung wurde auch eine Onlineumfrage geteilt. Insgesamt nahmen 80 Personen vor Ort und 20 online teil, also viermal so viele Präsenzteilnehmende.

Einsparungen & Kompensation bei Emissionen durch Anreise, Übernachtung und Bewirtung

Ein viel diskutierter Verursacher von Emissionen ist der Verkehr. Vier von 62 Präsenzteilnehmer:innen,  die Angaben zu ihrer Anreise gemacht haben, kamen mit dem Flugzeug, die restlichen 58 per Zug. Die vier Flugreisenden trugen 50% mehr zu CO2-Emmissionen bei als die restlichen 58 Zugreisenden. Die 20 zugeschalteten Teilnehmer machen weniger als 1% der “Anreise”-Bilanz aus. Die Anreise per Flugzeug trägt also, wenig überraschend, stark zu den Gesamtemissionen bei.

Was vielleicht unerwartet ist, ist der Beitrag der Übernachtung. Zwar ist es schwer genau abzuschätzen, wie hoch die Emissionen durch Übernachtungen sind, da man hierfür die Gebäudeemissionen der Hotels kennen müsste. Es gibt allerdings Richtwerte zur Orientierung, z.B. den VDR Standard des Geschäftsreise Verbands Deutschland6. Diese Werte wurden auch für die Berechnung hier verwendet. Das Ergebnis: Die zwei bis drei Übernachtung der 62 Befragten machten ungefähr so viel aus wie Flug- und Zugreisen zusammen.

Kompensation weiterer Emissionen

Durch Online-Teilnahme und überwiegende Anreise per Zug konnten die Emissionen schon relativ gering gehalten werden. Insgesamt sind dennoch schätzungsweise 5,4 Tonnen CO2-Äquivalent angefallen. Diese Emissionen sollen nun kompensiert werden. Um auf der sicheren Seite zu sein, wurden mit 10,4 t CO2 etwas mehr Emissionen kompensiert. Die Kosten beliefen sich auf 261€. Der freiwillige Beitrag der Teilnehmenden zur CO2-Kompensation von insgesamt 280€ reicht hierfür aus.

Das ausschließlich vegane Catering an den drei Konferenztagen reduzierte die Emissionen weiter, verglichen mit der Verwendung tierischer Produkte. Es fiel wenig Müll an und dieser konnte von der Universitätskantine zu großen Teilen kompostiert werden, ein weiterer Vorteil veganer Verpflegung. Die Wurst auf der Semmel wurde von den Teilnehmenden auch nicht vermisst – die Rückmeldungen zum Catering waren positiv. Lediglich auf ausreichende Abwechslung solle man 

achten. Auch beim Konferenzdinner wurde weitestgehend vegan gegessen (24 der 39 Dinnergäste) und auch hier zahlten 14 Teilnehmende mehr, um die CO2-Emissionen ihres Essens zu kompensieren. 

Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die DGVM-Konferenz ein Beispiel darstellt, wie sowohl der Rahmen für persönlichen wissenschaftlichen Austausch geschaffen kann und wie dabei die CO2-Emissionen gering gehalten werden können. Wichtig hierfür ist von Anfang an emissionsarm zu planen und nicht nur im Nachhinein die angefallenen Emissionen zu kompensieren. Der hybride Charakter ermöglicht außerdem denjenigen die Teilnahme, die nicht mobil genug waren oder nicht ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung hatten, um vor Ort teilzunehmen. Eine nachhaltige Koferenzplanung kann also gleichzeitig auch sozial inklusiver sein. 

Es ist auch wichtig anzumerken, dass das nachhaltige Konzept nicht entgegen dem Wunsch der Teilnehmenden durchgesetzt wurde. Im Gegenteil, viele kompensierten freiwillig ihre Anreise und ihr Abendessen und äußerten sich in der Evaluation sehr positiv zum nachhaltigen Charakter der Konferenz.  

Zum Abschluss noch ein paar Tipps für zukünftige Konferenzplaner:innen:

  1. Die Teilnahmekosten waren etwas höher als gewöhnlich. Es lohnt sich also vorab die Universität oder andere Geldgeber:innen nach zusätzlichen Mitteln zu fragen oder diese per Sponsoring oder Fundraising zu sammeln.
  2. Es ist wichtig die online Teilnehmenden gut einzubinden, zum Beispiel durch eine hervorgehobene Begrüßung dieser und eine “Video-an Netiquette”. 
  3. Um die zusätzlichen Kosten für die technische Unterstützung aufzufangen, könnte man die online Teilnahme noch breiter, internationaler bewerben. 
  4. Universitäten und andere Betriebe können Konferenzplaner:innen durch Nachhaltigkeits-Beauftragte in jedem Planungsschritt unterstützen.
  5. Die Bereitschaft für Nachhaltigkeit ist bei den meisten groß, trauen Sie sich also Ihre nächste Konferenz nachhaltig zu planen!

Titelbild: David Röthler 

Quellen:

1. Stroud, J.T. & Feeley, K.J. 2015. Responsible academia: optimizing conference locations to minimize greenhouse gas emissions. Ecography 38: 402–404. Wiley/Blackwell (10.1111). 

2. Tao, Y., Steckel, D., Klemeš, J.J. & You, F. 2021. Trend towards virtual and hybrid conferences may be an effective climate change mitigation strategy. Nat. Commun. 12: 7324. Nature Publishing Group.

3. Skiles, M., Yang, E., Reshef, O., Muñoz, D.R., Cintron, D., Lind, M.L., et al. 2021. Conference demographics and footprint changed by virtual platforms. Nat. Sustain. 1–8. Nature Publishing Group.

4. Blackman, R.C., Bruder, A., Burdon, F.J., Convey, P., Funk, W.C., Jähnig, S.C., et al. 2020. A meeting framework for inclusive and sustainable science. Nat. Ecol. Evol. 4: 668–671. Nature Publishing Group.

5. Coroama, V.C., Hilty, L.M. & Birtel, M. 2012. Effects of Internet-based multiple-site conferences on greenhouse gas emissions. Telemat. Inform. 29: 362–374. Elsevier.

5. https://www.plus.ac.at/wp-content/uploads/2021/02/EMAS_Registrierungsurkunde_2019.pdf

6. https://www.vdr-service.de/arbeitsvorlagen/vdr-standard-co2-berechnung-geschaeftsreise



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Stellungnahme zur geplanten Tiefgarage Center of Physics Karl-Franzens-Universität Graz

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Lesedauer 3 Minuten

Fachgruppe Mobilitätswende und Stadtplanung der Scientists for Future Österreich

Stellungnahme zur geplanten Tiefgarage Center of Physics Karl-Franzens-Universität Graz 

Überblick: 

  • Im Rahmen des Baus des Center of Physics für KFU Graz und TU Graz anstelle des bisherigen Vorklinikgebäudes soll eine Tiefgarage mit 100 PKW-Stellplätzen für Bedienstete gebaut werden. Diese soll nicht unter dem Neubau, sondern unter der Grünfläche vor dem Hauptgebäude errichtet werden. 
  • Mit dem Bau der neuen Tiefgarage werden große Mengen Treibhausgase emittiert, weitere Anreize zur alltäglichen Nutzung von Privat-PKW geschaffen, der Fußgänger*innen-, Rad- und Busverkehr wird beeinträchtigt und die Grünfläche wird dauerhaft versiegelt. 
  • Erste Arbeiten sollen bereits ab Februar 2023 aufgenommen werden, inkl. Aushub der Baugrube und Baumfällungen. 
  • Die Fachgruppe Mobilitätswende und Stadtplanung spricht sich klar gegen den Bau der Tiefgarage aus. 
Universitätsplatz mit künftigem Standort Center of Physics (anstelle Hochhaus Vorklinik, links) Bild: Google Earth, bearbeitet S4F, Bereich der geplanten Tiefgarage hervorgehoben 

Details zum Projekt: 

Die geplante Tiefgarage erstreckt sich über die gesamte Länge der Grünfläche zwischen dem Chemie- und dem Physikgebäude. Die Ein- und Ausfahrt soll an der Halbärthgasse parallel zum historischen Chemiegebäude angeordnet werden. Neben der Abfahrt soll ein Zugangsbauwerk mit Lift errichtet werden. Es wird auch überlegt, die Abfahrtsrampe mit einer Überdachung zu versehen. 

Mit dem Aushub der Baugrube, einschließlich Baumfällungen, Abbruch der historischen Universitätsrampe mit Kandelabern und der historischen Einfriedungen soll im Februar 2023 begonnen werden. 

Eine Baugenehmigung liegt nicht vor, das Vorhaben wird lediglich als anzeigepflichtige Maßnahme behandelt. Baueinreichung und Bauverhandlung zum Neubau sollen im Herbst 2023 erfolgen. Ausmaß und Lage der Tiefgarage wurden im Vorfeld des Architekturwettbewerbes im Jahr 2021 zwischen Bildungsministerium und Stadt Graz abgestimmt. 

Nutzerinnen: Karl-Franzens-Universität Graz und TU Graz Bauherrin: Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) Architektur: fasch&fuchs, Wien 

Lageplan Wettbewerbsprojekt Fasch&Fuchs 2021, Umriss unterirdische Bauwerke und Erschließung, bearbeitet S4F

Kritikpunkte: 

Induzierter Kfz-Verkehr: Das Angebot von PKW-Stellplätzen für Bedienstete induziert nachweislich Kfz-Verkehr, fördert klimaschädliches Mobilitätsverhalten und widerspricht damit dem Stand der Wissenschaft und der Technik, dem insbesondere die beteiligten Universitäten verpflichtet sein sollten. Zum Erreichen der Klimaziele dürfen keine Anreize zur alltäglichen Nutzung von Privat-PKW geschaffen werden. 

Störung öffentlichen Verkehrs: Mit einer Erhöhung der Anzahl der Stellplätze entsteht eine zusätzliche Belastung der umgebenden Straßenzüge. Mit der Ein- und Ausfahrt in der Halbärthgasse wird der Fluss des Fußgänger*innenverkehrs am östlichen, hochfrequentierten Gehsteig an der Halbärthgasse, des Radverkehrs, und des Busverkehrs in dieser Straße beeinträchtigt. 

Ungerechtfertigte Emissionen und Mitteleinsatz: Allein durch den Neubau der Tiefgarage werden nach Schätzung des Institut Bauen und Umwelt e.V. etwa 1.100 Tonnen CO2-Äquivalent emittiert. Die für den Bau der Tiefgarage vorgesehenen Mittel von mehreren Millionen Euro könnten wesentlich sinnvoller für eine klimagerechte Ertüchtigung des Campus eingesetzt werden – etwa überdachte und voll ausgestattete Fahrradabstellplätze oder die energietechnische Optimierung von Bestandsgebäuden. 

Schädigung Mikroklima und Flächenversieglung: Es werden zahlreiche Bäume entfernt bzw. geschädigt – mit negativen Auswirkungen auf die Aufenthaltsqualität und auf das Stadtklima. Laut Naturschutzbund gehören 2 dieser Bäume zu den „1000 besonderen Bäumen der Steiermark“. Mit der Unterbauung der Grünfläche wird ein großer Bereich dauerhaft versiegelt. Die Begrünung auf der Decke der Tiefgarage ist ökologisch und in Bezug auf das Mikroklima minderwertig. Auch die Richtlinien der Stadt Graz setzen die Unterbauung von Grünflächen der Versiegelung gleich. 

Schädigung Standort: Auf der betroffenen Fläche befindet sich eine meteorologische Messstelle mit einer historisch einzigartigen Messreihe, die durch den Bau unterbrochen würde. Die Errichtung der Einfahrt und des Aufgangs/Liftgebäudes an der Halbärthgasse stellt einen massiven Eingriff in das historische Raumgefüge dar. 

Stellungnahme: 

Die Fachgruppe Mobilitätswende und Stadtplanung spricht sich klar gegen den Bau der Tiefgarage aus. Im Sinne einer klimagerechten Entwicklung – sowohl gesamtgesellschaftlich wie auch für die Universitäten – ist es notwendig, Erweiterung und Innovation auf allen Ebenen von CO2-Emissionen zu entkoppeln. Die Mobilität spielt dabei eine große Rolle. Die Standortsicherung muss daher über das effektive Management der bestehenden Stellplätze und vor allem über klima- und umweltfreundliche Formen der Erschließung erfolgen (z.B. Optimierung Radverkehr, Effektivierung Bus, Beschleunigung der Umsetzung Straßenbahn). Jedenfalls kann die Errichtung von 100 zusätzlichen PKW-Stellplätzen nicht als standortsichernd betrachtet werden. 

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Stand: 13.01.2023 

Quellen: 

Bundesimmobiliengesellschaft, Wettbewerbsportal AIK, IBU – Institut Bauen und Umwelt e.V., Naturschutzbund, Google Earth, Fasch&Fuchs, eigene Erfassung 

Scientists For Future Österreich, Fachgruppe Mobilitätswende und Stadtplanung 



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