Die Wissenschaft vom Protest

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Lesedauer 3 Minuten.   

Die Fachzeitschrift nature widmet ihr aktuelles Feature der Wissenschaft vom Protest: Laut einer globalen Studie hat sich die Zahl der jährlichen Proteste zwischen 2006 und 2020 mehr als verdreifacht, und zwar dank Demonstrationen gegen politische Regime, Ungerechtigkeit, Ungleichheit, Klimawandel und mehr1. „Dieser Anstieg des Aktivismus hat sogar die turbulenten 1960er Jahre in den Schatten gestellt“, sagt Lisa Mueller, die am Macalester College in Saint Paul, Minnesota, soziale Bewegungen erforscht2. „Wir befinden uns wirklich in einer empirisch außergewöhnlichen Zeit globaler Proteste.“

Proteste nehmen zu – aber sind sie auch wirksam, um Veränderungen herbeizuführen? „Die ehrliche Antwort lautet ‚manchmal‘“, sagt Lisa Mueller. Große Proteste scheinen wirksamer zu sein als kleine; gewaltfreie Proteste scheinen stärker zu sein als gewalttätige; Konzentration auf klare Ziele könnte mehr bewirken als diffuse Forderungen. Repression – zum Beispiel durch die Polizei – kann den Protestierenden mehr Unterstützung verschaffen. „Es ist eine spannende Zeit, um Proteste zu erforschen“, sagt Mueller.

Gewaltfreie Kampagnen sind erfolgreicher

In einer bekannten Studie sammelten die US-Politikwissenschaftlerinnen Erica Chenoweth und Maria Stephan Daten über mehr als 300 revolutionäre Kampagnen zwischen 1900 und 20063, etwa solche, die darauf abzielten, einen nationalen Führer zu stürzen. Dazu gehörten gewaltfreie Kampagnen, die Proteste, Streiks, Boykotte und andere Taktiken sowie bewaffnete Bewegungen nutzten. Die gewaltfreien Kampagnen – wie etwa die People Power Revolution auf den Philippinen, die 1986 den Diktator Ferdinand Marcos stürzte – hatten etwa doppelt so hohe Erfolgschancen bei der Herbeiführung eines Regimewechsels wie ihre bewaffneten Gegenstücke, sagt Chenoweth, die an der Harvard Kennedy School in Cambridge, Massachusetts, den zivilen Widerstand erforscht.

Die 3,5-Prozent-Regel

Eine Zahl, die in der Klimabewegung immer wieder auftaucht, ist die „3,5 Prozent-Regel“. Chenoweth zeigte, dass jede Bewegung erfolgreich war, die mindestens 3,5 Prozent der Bevölkerung mobilisierte. Doch diese Zahl kann irreführend sein, warnt Chenoweth. Eine viel größere Zahl von Menschen unterstützt wahrscheinlich eine erfolgreiche Revolution, auch wenn sie nicht sichtbar protestieren. Das ist wichtig zu verstehen, denn manchmal wird die 3,5-Prozent-Regel so interpretiert, dass man nur 3,5 Prozent der Bevölkerung von seiner Sache überzeugen muss, um Veränderung durchzusetzen. Um 3,5 Prozent auf die Straße zu bringen, muss man einen Großteil der Bevölkerung überzeugen.

Klare Ziele, zusammenhängende Forderungen

Aktivisten erreichen eher Zugeständnisse, wenn sie kohärente Forderungen haben, wie Muellers Arbeit zeigt4. Sie verweist beispielsweise auf zwei Proteste ähnlicher Größe, die in London stattfanden. Der erste war die Kampagne Take Back Parliament im Jahr 2010, die mit koordinierten Slogans und Forderungen für eine Wahlreform eintrat. Dieser Grad an Organisation, so Mueller, trug dazu bei, 2011 ein britisches Referendum zu diesem Thema anzustoßen. (Die Wähler lehnten die vorgeschlagenen Reformen ab.)

Das steht im Gegensatz zu Occupy London im Jahr 2011, das Teil der globalen Occupy-Bewegung war. Diese Proteste umfassten weitreichende Forderungen zur Bekämpfung von Ungleichheit, Finanzregulierung, Klimawandel und Unterdrückung und wurden für ihren Mangel an Kohäsion kritisiert. „Wenn Machthaber ein Sammelsurium von Forderungen hören, fällt es ihnen schwer zu interpretieren, was die Gruppe will“, sagt Mueller.

Schaden „Klimakleber“ der Bewegung?

Über die relativen Auswirkungen gewaltfreier, aber störender Taktiken ist weniger bekannt. Aber es gibt Hinweise darauf, dass diese Art von Protest Wirkung zeigen kann. Social Change Lab sammelte in drei Umfragen – bei denen jeweils rund 2.000 Personen befragt wurden – Meinungen vor, während und nach störenden Protesten von Just Stop Oil und Extinction Rebellion im Vereinigten Königreich im April 20225. Die Demonstrant:innen blockierten Öldepots und klebten sich an Regierungsgebäude und Büros von Ölfirmen. Die meisten Befragten lehnten die Aktionen ab, unterstützten aber weiterhin die Klimapolitik und die Ziele von Just Stop Oil, neue Projekte für fossile Brennstoffe zu stoppen. Dies widerspricht der Ansicht, dass störende Aktionen die öffentliche Meinung zu einem Thema verschlechtern können.

Quelle: https://www.nature.com/articles/d41586-024-02082-5


1Ortiz, I., Burke, S., Berrada, M. & Saenz Cortés, H. World Protests: A Study of Key Protest Issues in the 21st Century (Palgrave Macmillan, 2022).

2Mueller, L. Am. J. Polit. Sci. 68, 42–57 (2024)

3Chenoweth, E. & Stephan, M. J. Why Civil Resistance Works: The Strategic Logic of Nonviolent Conflict (Columbia Univ. Press, 2011).

4Mueller, L. Am. J. Polit. Sci. 68, 42–57 (2024).

5Özden, J. & Glover, S. Public Opinion Polling: Just Stop Oil (Social Change Lab, 2022).


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