Wie ein Ausbau der Daseinsvorsorge Jobs schaffen, Klima schützen und ein gutes Leben ermöglichen kann

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Von Emma Dowling, Leonhard Plank und Alexandra Strickner

Warnungen vor Wohlstandsverlust dominieren die wirtschaftspolitischen Debatten. Industrie- und Baubranchen verzeichnen Einbrüche, die Arbeitslosigkeit steigt. Die Sorge vor erneuten Kürzungen wegen hoher Ausgaben aufgrund der Krisen der letzten Jahre und die Rückkehr zu fragwürdig konzipierten EU-Fiskalregeln ist groß. Forderungen nach mehr Klimaschutz schüren oft Ängste von Arbeitsplatz- oder Einkommensverlust. Ökonomische Prosperität, soziale Sicherheit, gute Arbeitsplätze und Klimaschutz könnten durch den Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge erreicht werden, wie eine neue Studie zeigt.

Ausbau der Grundversorgung als zentraler Pfeiler des Umbaus

Ein Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge bedeutet eine Stärkung jenes Teils der Wirtschaft, der für den Alltag lebensnotwendig ist und unsere universellen menschlichen Bedürfnisse im Zentrum hat. Darüber hinaus ist sie Basis einer funktionsfähigen Volkswirtschaft. Die Leistungen der Daseinsvorsorge sollten für alle zugänglich, leistbar und qualitätsvoll sein: von der Energieversorgung über den öffentlichen Verkehr, den sozialen Wohnbau, die Pflege, die Gesundheitsversorgung, das Bildungswesen bis zu den vielen kommunalen Betrieben, die Städte und Gemeinden sauber und am Laufen halten. Nur wenn die gute und stabile Versorgung mit diesen Alltagsgütern gewährleistet und damit eine soziale Absicherung vorhanden ist, wird es die Bereitschaft für die erforderlichen mutigen Schritte zum Umbau der anderen Bereiche der Wirtschaft geben. Die Vernachlässigung vieler Daseinsvorsorgeleistungen in der Vergangenheit muss beendet werden. In Zukunft braucht die Daseinsvorsorge mehr Mittel und Aufmerksamkeit, allen voran in den personalintensiven Sektoren des Bildungs-, Gesundheits- und Pflegebereichs. Eine von der AK Wien in Auftrag gegebene Studie der TU Wien und der Universität Wien in Kooperation mit dem Kompetenzzentrum Alltagsökonomie zeigt, dass der Ausbau der Daseinsvorsorge einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und gleichzeitig zu mehr Klimaschutz leisten kann.

Mehr Klimaschutz durch sozial-ökologische Infrastrukturen

Diese Stärkung der Grundversorgung für alle muss einhergehen mit der Umgestaltung vorhandener fossil geprägter Infrastrukturen zu sozial-ökologischen Infrastrukturen der Daseinsvorsorge. Diese Transformation schließt etwa den sozial gerechten Ausbau von Energie- und Mobilitätsnetzen, die Umstellung der Energieerzeugung und die thermische Sanierung sowie den Heizungstausch im Gebäudebestand ein. Auch der Umbau der Städte und Gemeinden in Richtung verbesserter grüner und blauer Infrastrukturen kann das Leben der Vielen verbessern und nebenbei die Umwelt schützen. Ebenso können Entsiegelungen zur Belebung und Stärkung sozialer Orte in Stadt und Land genutzt werden und als Co-Benefit Hitze- und Überschwemmungsrisiken reduzieren. Die gute Nachricht ist: Wir haben die notwendigen Technologien und – bei entsprechender Priorisierung – auch die finanziellen Mittel. Neben dem politischen Willen bzw. der Überzeugungsarbeit für einen großen Aufbruch braucht es vor allem auch eine Vielzahl an Arbeitskräften für eine verbesserte Daseinsvorsorge.

Großes Beschäftigungspotenzial in einer zukunftsfähigen Daseinsvorsorge 2030

In den Sektoren der Daseinsvorsorge bedeutet dies, dass aufgrund der anstehenden Pensionierungswelle bis 2030 rund 126.000 Personen nachbesetzt werden müssen, damit der altersbedingte Abgang ausgeglichen werden kann. Zählt man noch weitere kritische Infrastrukturen bzw. systemrelevante Wirtschaftsbereiche hinzu, insbesondere die öffentliche Verwaltung sowie die Versorgung mit Lebensmitteln (von der Produktion über die Verarbeitung bis zum Vertrieb), dann verdoppelt sich diese Zahl auf 251.000 Personen.

Bereits die Sicherung des Status quo durch ausreichend Ersatzpersonal für altersbedingtes Ausscheiden ist herausfordernd. Darüber hinaus braucht es in vielen Bereichen der Daseinsvorsorge zusätzliches Personal, nicht zuletzt damit Überlastungen und Personalnotstände behoben werden können. Vor allem in den personalintensiven sozialen Infrastrukturen der Gesundheitsversorgung, Langzeitpflege und der Elementarpädagogik sowie im öffentlichen Verkehr braucht es mehr Personal, damit eine gute Grundversorgung für alle möglich wird. Der Bedarf ist hier mit mehr als 216.000 Personen noch größer als in bisherigen Studien geschätzt. Denn diese blenden bestimmte Personengruppen aus (z. B. 24-Stunden-Betreuer:innen in der Langzeitpflege), vernachlässigen die bestehende Unterversorgung im Status quo durch ungedeckte Fehlbedarfe und sehen in der Regel von Angebotsverbesserungen ab. Außerdem berechnen sie nur pensionsbedingte Ersatzbedarfe – das vorzeitige Ausscheiden aus dem Beruf (z. B. aufgrund belastender Arbeitsbedingungen) bleibt unberücksichtigt. Ohne den pensionsbedingten Ersatzbedarf werden immerhin noch mehr als 154.000 Personen bis 2030 benötigt.

Schließlich ist zumindest von rund 54.000 zusätzlichen Vollzeitbeschäftigten, vor allem in der Bauwirtschaft sowie der vorgelagerten Industrie, bis 2030 auszugehen, wenn die für die Erreichung der Klimaziele notwendigen Investitionen erfolgen. Denn zentrale Maßnahmen in diesem Feld, wie etwa der Ausbau der Energie- und Mobilitätsnetze oder die sozial-ökologische Modernisierung der Gebäude, erfordern wichtige Vorleistungen aus der Bauwirtschaft. Ebenso bieten sich Chancen für einen modernisierten Industriesektor z. B. bei der Herstellung von Schienenfahrzeugen oder der Fertigung von Batteriespeichern. Eine ausgebaute und qualitativ verbesserte Daseinsvorsorge 2030 ruht auf erneuerten und erweiterten physischen Grundlagen.

Ansatzpunkte für eine Beschäftigungsoffensive zur Stärkung der Grundversorgung

Die Verantwortung der öffentlichen Hand und die Orientierung an Gemeinwohl und Gemeinnützigkeit sind grundlegende Voraussetzungen für eine zukunftsorientierte Daseinsvorsorge. Ebenso unabdingbar für eine gestärkte Grundversorgung ist eine effektive und gestaltende öffentliche Planung. Dies erfordert eine Abkehr vom marktliberalen Paradigma, bei dem sich die öffentliche Hand seit den 1990er Jahren auf die allgemeine Rahmensetzung und Orientierung (strategische Planung) zurückgezogen hat. Vielmehr muss Planung als Positivplanung gestärkt werden, vorausschauend, vorsorgend und sektoral integriert stattfinden sowie besser koordiniert und verbindlicher im Gesamtstaat verankert werden.

Ausreichend Personal für bedürfnisorientierte Grundversorgung sicherzustellen erfordert eine Beschäftigungsoffensive mit einem Bündel an Maßnahmen, darunter folgende Schwerpunkte:

Erstens müssen alle Berufe innerhalb der Daseinsvorsorge durch eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Beschäftigungsverhältnisse attraktiver gemacht werden. Dies ist sowohl für die Gewinnung zusätzlicher Arbeitskräfte als auch für das Halten der bestehenden Beschäftigten zentral. Nur so kann auch der Teufelskreis aus vorzeitigem Ausscheiden aus dem Beruf aufgrund von Überlastung, der weiteren Verschärfung der Personalsituation und damit auch der Deattraktivierung des Berufs (vor allem, aber nicht nur in Gesundheit, Pflege und Bildung) durchbrochen werden.

Zweitens sollte – wie vom Rechnungshof zuletzt festgehalten – die Datengrundlage für eine vorausschauende Personalplanung im Gesamtstaat verbessert werden. Damit wären auch genauere Personalprognosen möglich, die bisher unterbelichtete Faktoren wie Mehrbedarfe durch fehlendes Personal im Status quo sowie vorzeitiges Ausscheiden aus dem Beruf berücksichtigen. Angeraten wäre auch eine Erweiterung der Prognoseinstrumente, damit bisher ausgeblendete Berufsgruppen (z. B. 24-Stunden-Betreuer:innen in der Langzeitpflege) und andere Sektoren, die vor einer Ausweitung stehen (besonders im öffentlichen Verkehr), systematisch in den Blick genommen werden.

Drittens braucht der zukunftsfähige Ausbau der Daseinsvorsorge eine Ausbildungsoffensive für die notwendigen Arbeitskräfte. Dabei geht es nicht nur um informationsorientierte Kampagnen und Marketingaktivitäten, um die immaterielle Wertschätzung und Attraktivierung von sinnstiftenden und gesellschaftlich nützlichen Tätigkeiten zu verbessern, sondern auch um die Weiterentwicklung von innovativen Stipendien bzw. Ausbildungsgeldern.

Viertens ist darauf zu achten, dass die zentralen Infrastrukturen des Bildungs- und Ausbildungssystems entsprechende finanzielle Mittel erhalten, um den wachsenden Anforderungen zu begegnen. Denn eine zukunftsfähige Daseinsvorsorge erfordert eine Erweiterung von Kompetenzprofilen, nicht zuletzt hinsichtlich des Klimaschutzes und der Klimaanpassung. Das muss sowohl inhaltlich als auch personell in der Aus- und Weiterbildung berücksichtigt werden.

Aus: Arbeit und Wirtschaft Blog, 25. November 2024

Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0: Dieser Beitrag ist unter einer Creative-Commons-Lizenz vom Typ Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International zugänglich. Um eine Kopie dieser Lizenz einzusehen, konsultieren Sie http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/. Weitere Informationen https://awblog.at/ueberdiesenblog/open-access-zielsetzung-und-verwendung

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Black Friday: Weltweiter Streik der Amazon-Arbeiter:innen gegen Ausbeutung, Umweltzerstörung und Gefährdung der Demokratie

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Heute werden sich Amazon-Arbeiter:innen aus den USA, Großbritannien, Frankreich, Italien und Nepal an Streikposten und einer von ihren deutschen Kolleg:innen in Bad Hersfeld organisierten Kundgebung beteiligen, um Amazon für Ausbeutung, Umweltzerstörung und Bedrohung der Demokratie zur Rechenschaft zu ziehen. Tausende Arbeiter:innen in ganz Deutschland legen in mehreren Lagern die Arbeit nieder, viele schließen sich der Kundgebung in Bad Hersfeld an.In Frankreich werden Hunderte von direkten Aktionen stattfinden, um Amazons haarsträubende Steuerbilanz anzuprangern. Textilarbeiter:innen in Bangladesch werden in acht Städten Kundgebungen abhalten und Amazon auffordern, das Internationale Abkommen zur Sicherheit von Textilarbeiter:innen zu unterzeichnen. Hunderte Amazon-Arbeiter:innen werden in Neu-Delhi, Indien, und an zwölf weiteren Orten im ganzen Land Kundgebungen abhalten. In den USA haben Amazon-Fahrer:innen und Lagerarbeiter:innen an mehreren Standorten Aktionen durchgeführt, um von Amazon die Anerkennung ihrer Gewerkschaft zu fordern. Im spanischen Onda werden 500 Amazon-Arbeiter:innen ihr Lager verlassen.

Video: https://www.instagram.com/reel/DC8kaptq3TS/?igsh=b296MGlncGxrMTNx

Quelle: Uni Global Union https://uniglobalunion.org/de/news/make-amazon-pay-strikes-2024/

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Black Friday: Überkonsum und Lohnraub

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Am Black Friday werfen – nicht nur – Modefirmen massenhaft Ware auf die realen und virtuellen Ladentische. Laut der United Nations Economic Commission for Europe (UNECE) zählt Wegwerfmode zu den größten Verursachern von Umweltproblemen. Die Modeindustrie verursacht 20 Prozent des weltweiten Abwassers, 85 % der Textitlien landen in Deponien. „Abgesehen von den Umweltauswirkungen ist die Modebranche eng mit Arbeits-, Geschlechter- und Armutsproblemen verbunden.“ Eine von sechs Personen weltweit arbeitet direkt oder indirekt für die Modeindustrie, 80 % davon Frauen.

Ein krasses Beispiel, das direkt eine österreichische Firma betrifft, hat das Worker Rights Consortium aufgedeckt, eine unabhängige Organisation zur Überwachung von Arbeiter:innenrechten. Anlässlich des Black Friday macht die die entwicklungspolitische NGO Südwind auf diesen Fall aufmerksam. Die inzwischen aufgelassene thailändische Fabrik Body Fashion Ltd gehörte zum selben Konzern wie die in Götzis ansässige traditionsreiche Unterwäschefirma Huber Holding. („Profitieren Sie von den besten Angeboten des Jahres! Sichern Sie sich jetzt 20 % Extra-Rabatt auf alle Artikel in der Black Friday Kategorie und sparen Sie dabei bis zu 70 %!“ ) Sie ist im Eigentum des malaysisch-chinesischen Milliardärs und Investors Robert Ng. Zu den Kunden von Body Fahsion gehörten außer Huber zum Beispiel auch Triumph und Victoria’s Secret. In seinem Report berichtet das WRC, dass 900 ehemalige Arbeiter:innen, die in bei Body Fashion Kleidung für Huber hergestellt haben, seit mehr als zwei Jahren auf ihre Löhne und Abfindungen von insgesamt 5,5 Millionen Euro warten. Unter dem Motto „Huber muss zahlen“ setzt sich Südwind für die Rechte der thailändischen Arbeiter:innen ein. Die NGO fordert auch einen internationalen rechtlichen Rahmen, damit solche Schulden auch über Grenzen hinweg eingetrieben werden können. „Wenn das Lieferkettengesetz umgesetzt ist, ergibt sich daraus ein Rechtsweg, mit dem die Arbeiter:innen die entsprechenden Lohnschulden von Unternehmen in Österreich einfordern können“, sagt die Bekleidungsexpertin Gertrude Klaffenböck.

Gerechtigkeit ist eine Voraussetzung für die Sicherheit des Planeten und der Menschen“ haben die 60 führenden Wissenschaftler:innen der Earth Commission festgehalten.



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Das System geht aus den Fugen: zur Neuerscheinung „Kapitalismus am Limit“ von Ulrich Brand und Markus Wissen

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von Martin Auer

Alle reden vom Klima, aber niemand redet vom Sand. Sand gibt es doch wie Sand am Meer. Leider nein. Wenn die Bautätigkeit so weiter geht wie bisher, gibt es 2050 keinen für die Zementherstellung brauchbaren Sand mehr. Schon jetzt ist Sand knapp und so teuer, dass kriminelle Banden minderwertigen und illegal geförderten Sand an die Bauindustrie verkaufen. Absurd, oder? Tatsächlich gibt es nur eine Ressource, von der wir mehr verbrauchen: Wasser. Und auch das wird knapp, nämlich das Wasser im Boden. Und wer redet von der Phosphorkrise? Phosphor ist Bestandteil allen organischen Lebens. Deshalb braucht man ihn ja für Düngemittel. Der Preis von Rohphosphor hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Die Vorräte reichen noch 300 Jahre – wenn’s gut geht. Wenn nicht, dann noch 100 Jahre. Das sind nur ein paar der Krisen, von denen weniger gesprochen wird als von der Klimakrise und dem Artensterben. Bei letzterem geht es übrigens nicht nur um Tiger und Eisbären. Das Artensterben findet zu einem großen Teil unter den Bodenlebewesen statt, die die Erde erst fruchtbar machen. Und die letzte Pandemie hat uns allen vor Augen geführt, dass das immer tiefere Vordringen in noch unberührte Natur uns vom Tier auf den Menschen überspringenden Krankheiten aussetzt, die sich wie Buschfeuer um den Globus verbreiten und auch vor Reichen und Mächtigen nicht Halt machen.

Alle diese Krisen belegen, dass wir mit unserem Ressourcenverbrauch und unserem Verbrauch an Senken für unsere Abfälle (z . B. CO2) am Limit sind. Wir? Wer oder was hat uns an diese Grenzen, beziehungsweise schon weit über die ökologischen Belastungsgrenzen hinaus geführt? Bei der dreitägigen „Beyond Growth Konferenz“, die als Teil eines EU-Projekts kürzlich in Wien stattgefunden hat (Die Eröffnung war im Parlament unter den Auspizien des Bundespräsidenten und des Parlamentspräsidenten), waren sich die Mehrheit der Speaker und des Publikums einig: Der kapitalistische Wachstumszwang ist es, der uns ans Limit gebracht hat.

Ulrich Brand und Markus Wissen
© Bärbel Högner | © SBK

Kapitalismus am Limit“ heißt auch das neue Buch der Politikwissenschaftler Ulrich Brand und Markus Wissen. Bekannt geworden sind die beiden Autoren durch ihren Bestseller von 2017 über die „Imperiale Lebensweise„. Die Autoren behaupten nicht, dass das Ende des Kapitalismus unmittelbar bevorsteht. Sie zeigen auf, wie der Kapitalismus seine eigene Existenz untergräbt. Die billige Natur, an der er sich Jahrhunderte lang bedient hat, ist teuer geworden, Ressourcen sind heftig umkämpft. Viele Staaten wollen ihre Ökonomien dekarbonisieren. Gerade das führt aber dazu, dass geopolitische Rivalitäten sich immer mehr an Rohstoffen, die für eine ökologische Modernisierung notwendig sind, entzünden. Öko-imperiale Spannungen nennen das die Autoren. Lange Zeit konnten die Krisen verborgen, das heißt externalisiert werden. Die sozial-ökologischen Kosten wurden dem globalen Süden aufgehalst; den Frauen im Süden wie im Norden, die unbezahlte Reproduktionsarbeit (Care, Sorgearbeit) leisten; und den künftigen Generationen. Immer neue Sphären der Rohstoff-Extraktion wurden erschlossen (zum Beispiel die Tiefsee). Doch auf allen diesen Gebieten wird es eng. Aufstrebende Ökonomien wie die chinesische oder die indische konkurrieren mit den alteingesessenen kapitalistischen Ökonomien sowohl um Rohstoffe als auch um Märkte. Immer mehr Gruppen wehren sich dagegen, sich die Kosten aufhalsen zu lassen. Frauen wehren sich dagegen, dass sie die Last der unbezahlten Care-Arbeit tragen sollen, indigene Völker kämpfen gegen Bergwerksbetriebe und Ölförderungen, die ihre Umwelt bedrohen. Umweltbewegungen beschränken sich nicht mehr auf Appelle an „die Politik“ sondern wehren sich aktiv, etwa durch Besetzungsaktionen wie die mehr als ein Jahr dauernde Besetzung des Dorfes Lützerath, das einem Braunkohle-Tagebau weichen sollte. Im globalen Süden wird die Forderung nach Reparationen für die Folgen des Klimawandels und die Schäden durch den Kolonialismus immer lauter.

Fossiler oder grüner Kapitalismus?

Während konservative Kräfte sich für den Fortbestand der fossilen Wirtschaft einsetzen, setzen andere auf einen „grünen Kapitalismus“, der ohne ständig steigenden Verbrauch von Ressourcen und Senken auskommen soll. Sie setzen auf Digitalisierung, CO2-Abscheidung und Speicherung, das E-Auto, Effizienzsteigerung, Recycling, und so weiter. Davon versprechen sie sich – und uns – eine Abkopplung des Wirtschaftswachstums vom Ressourcenverbrauch. Ein ganzes Kapitel widmen die Autoren dem European Green Deal. Doch „grünes Wachstum“ findet nicht statt. Es gibt zwar Gebiete und Zeiträume, in denen die CO2-Emissionen zurückgehen während das Brutto-Inlandsprodukt wächst, doch dieser Rückgang ist weit von dem entfernt, was für die Klimaneutralität Mitte des Jahrhunderts notwendig wäre. Die Extraktiomn von Bodenschätzen wird von Kohle, Öl und Gas auf Kupfer, Bauxit, Lithium, Kobalt, seltene Erden usw. verlagert, und zwar wiederum zum großen Teil auf Kosten der Natur und der Bevölkerung des globalen Südens, und die Konkurrenz darum verschärft geopolitische Spannungen.

Die autoritäre Rechte

Ein eigenes Kapitel widmet sich dem Erstarken der autoritären Rechten in der Krise der imperialen Lebensweise. In Europa sind die CO2-Emissionen seit 1990 um 29 % gesunken. Das ist ja positiv. Doch wer hat seine Emissionen wirklich eingeschränkt? Der Climate Inequality Report zeigt: Die Pro-Kopf-Emissionen der ärmeren 50 Prozent sind um 30,6 Prozent gesunken, die des reichsten einen Prozent um 1,7 %. Die ärmeren 50 Prozent verursachen durch ihren Konsum pro Kopf 5 Tonnen CO2 im Jahr, die mittleren 40 Prozent 10,7 Tonnen, die reichsten 10 Prozent durchschnittlich 29,4 Tonnen und das reichste eine Prozent 90,6 Tonnen pro Kopf und Jahr. In Österreich, wo die Emissionen kaum gesunken sind, hat das reichste eine Prozent seine Pro-Kopf-Emissionen um 45 % gesteigert, und nur die Emissionen der ärmsten 50 Prozent sind gesunken. Es gibt also einen krassen Unterschied zwischen Oben und Unten. Die autoritäre Rechte aber zieht die Grenze nicht zwischen Oben und Unten, sondern zwischen Innen und Außen: „Wir“ gegen Migrant:innen und Geflüchtete, und setzt auf die Stärkung einer in die Krise geratenen Männlichkeit. In gewisser Weise ist das ein Protest von rechts gegen Globalisierung und Neoliberalismus, „mit einem autoritären, militaristisch-männlichen und menschenfeindlichen Angebot, das Menschen entlang von Kriterien wie Herkunft oder Religion sortiert, mit Kategorien wie ‚das Volk‘ vermeintlich Einheitlichkeit schafft und verlorengegangene Regierbarkeit zurückzugewinnen verspricht.“ Es ist ein Versuch, „die imperiale Lebensweise autoritär zu stabilisieren“. Doch die autoritäre Rechte bricht nicht wirklich mit dem Neoliberalismus. Sie setzt die Politik der Privatisierung und Deregulierung in vielen Bereichen fort.

Die imperiale Lebensweise ermöglichte in den Ländern des Nordens seit dem Ende des zweiten Weltkriegs einen Klassenkompromiss: Die Arbeitnehmer:innen konnten sich einen Anteil an der durch fossile Energie und Neokolonialismus ermöglichten Steigerung der Produktion von Konsumgütern erkämpfen. Der Fortbestand der kapitalistischen Ordnung in Form der Konsumgesellschaft war von der Kaufkraft der Massen abhängig. Doch der Kompromiss beginnt zu bröckeln. Die Krise der Lebenshaltungskosten, die Verluste von Arbeitsplätzen und Einkommen durch die Corona-Pandemie, die sogenannte Finanzkrise von 2008 fördern berechtigte Verlustängste. Und diese Ängste werden verstärkt durch die Ahnung, dass es im Ganzen so nicht weitergehen kann. Die autoritäre Rechte ergreift rhetorisch Partei für die „kleinen Leute“, verteidigt sie vor der Bedrohung von außen durch „Globalisten“ einerseits, und anderseits vor der Bedroh2ung durch kleine Leute, die noch schlechter dran sind: Migrant:innen und Geflüchtete, die angeblich in unser Sozialsystem einwandern und unsere Kultur bedrohen. In der Praxis aber stimmt sie für Politiken, die auf Kosten eben dieser kleinen Leute gehen, bzw. setzt sie dort durch, wo sie sich an die Macht spülen hat lassen.

Was kommt danach?

Das letzte Kapitel widmet sich – anders ist es ja nicht zu erwarten – den Möglichkeiten zur Überwindung der auf Konkurrenz und Wachstumszwang beruhenden Wirtschaftsweise. Unter anderem wird hier der wachsenden Degrowth- und Postgrowth-Bewegung eine wichtige Rolle zuerkannt und Bewegungen wie Ende Gelände, Fridays for Future oder Letzte Generation. Umweltbewegungen und soziale Bewegungen rücken näher zusammen. Letzten Monat demonstrierte in Wien die Klimabewegung gemeinsam mit den Busfahrer:innen in der Gewerkschaft vida unter dem Motto „Wir fahren gemeinsam“ für bessere Arbeitsbedingungen bei den privaten Buslinien. Die Verkehrswende kann schwerlich gelingen, wenn Beschäftigte im öffentlichen Verkehr an der Endstation nicht einmal ein richtiges Klo vorfinden.

Jenseits vom Wachstum

Und das bringt uns zurück zur „Beyond Growth Konferenz“. Wer von Überwindung des Kapitalismus spricht, von der Notwendigkeit, die Wirtschaft zu demokratisieren und planbar zu machen, und die Produktion von Gütern und die Bereitstellung von Leistungen zu vergesellschaften, bekommt bekommt schnell zu hören: „Was willst du denn? Eine Planwirtschaft mit Schlangen vor den Geschäften? Eine staatliche Plankommission, die Normen für Schuhe nach Gewicht plant, worauf nur genagelte Bergschuhe produziert werden, um den Plan schneller zu erfüllen?“ Die FPÖ bezichtigte kürzlich gar auf ihren Wahlplakaten die EU des „Öko-Kommunismus“. Doch niemand wünschte sich auf dieser Konferenz eine staatliche Plankommission. Eine Vielzahl von Wegen und möglichen Modellen wurde vorgestellt und diskutiert. Ein Thema, das sich durch die meisten Modelle durchzog, ist: Demokratisierung der Wirtschaft bedeutet ein aktives Mitspracherecht der Beschäftigten und der Konsument:innen darüber, was, wo, wie und von wem produziert werden soll. Die Abstimmung an der Supermarktkasse reicht da nicht. Die Mitbestimmung kann auf verschiedenen Ebenen geschehen. Natürlich auch auf staatlicher Ebene. Der Ausbau des Sozialstaats und eine bedingungslose Grundversorgung für alle spielt in den meisten Modellen eine bedeutende Rolle. Aber auch auf Betriebsebene ist Mitbestimmung gefordert, und zwar weit über das, was Betriebsräten heute zugestanden wird. Als Betriebsräte in einem österreichischen Rüstungsbetrieb zum Beispiel vorgeschlagen haben, statt Panzern Löschfahrzeuge zur Bekämpfung von Waldbränden zu produzieren, wurde das vom Unternehmen einfach abgeschmettert. Das soll es in einer demokratischen Wirtschaft nicht geben. Als die Beschäftigten des Rüstungsbetriebs Lucas Aerospace in den 1970er Jahren von einer Kündigungswelle bedroht waren, forderten sie das „Recht auf gesellschaftlich nützliche Arbeit“ und entwickelten einen Plan, was sie mit ihren Fähigkeiten und der vorhandenen Ausrüstung machen konnten: Windräder, Wärmepumpen, Heimdialysegeräte, Go-Carts für behinderte Kinder… Als die Beschäftigten des Autozulieferers GKN Automotive in Campo Bisenzio bei Florenz am 9. Juni 2021 per Email gekündigt wurden, besetzten sie die Fabrik, beriefen eine Betriebsversammlung in Permanenz ein und beschlossen, eine Genossenschaft zu gründen, die statt Achsen für schwere Autos Lastenfahrräder produziert. Die Prototypen sind in Florenz schon unterwegs.

Beeindruckend war der Bericht über einen kleinen Laden in Wien Ottakring: den Mila Mitmach-Supermarkt bei der Beyond Growth Konferenz. Er gehört denen, die dort einkaufen, einer Genossenschaft von derzeit 600 Mitgliedern. Jedes Mitglied arbeitet alle vier Wochen drei Stunden im Laden. Ein Mitglied der Genossenschaft erklärte, warum nur Mitglieder dort einkaufen dürfen: Die Mitglieder arbeiten für sich selber. Darum müssen sie keinen Gewinn machen. Sie müssen die Kundschaft nicht motivieren, mehr zu kaufen, als sie eigentlich will, sie nicht mit Muzak in Einkaufsstimmung bringen. Obst und Gemüse wird einzeln verkauft, niemand muss eine Kilopackung kaufen, wenn er oder sie nur eine Karotte braucht. Die Genossenschaft muss nicht mit anderen Firmen um Kunden konkurrieren, weil die Genossenschafter:innen ihre eigenen Kunden sind. Sie schlagen einheitlich 30 % auf den Einkaufspreis auf, und was sie so einnehmen, dient dazu, den Betrieb zu erhalten und zu erweitern. Über das Sortiment entscheiden die Mitglieder. Sie entscheiden, ob sie beim Einkauf mehr Gewicht auf den Preis oder auf die Qualität legen. Sie wollen wachsen, weil sie mehr Menschen diese Möglichkeit, Qualität zu niedrigen Preisen zu kaufen, geben wollen, aber sie sind nicht gezwungen dazu. Tatsächlich werden sie demnächst einen „richtigen“ Supermarkt eröffnen.

Mila ist ein Modell im Kleinen für eine solidarische Wirtschaft, eines von vielen unterschiedlichen Modellen, die aber gut nebeneinander existieren und einander ergänzen können. Allen diesen Modellen ist gemeinsam, dass nicht das produziert wird, was den meisten Profit bringt, sondern das, was Nutzen für die Gemeinschaft bringt. Lässt sich so ein Modell skalieren? Die Park Slope Food Coop betreibt den größten Supermarkt von New York und hat 17.000 Mitglieder. Vielleicht sind Kooperativen von Kooperativen der Weg, auch größere wirtschaftliche Zusammenhänge demokratisch zu organisieren. Die Kooperative hat auch den Vorteil, dass sie schon im jetzigen System bestehen kann. Die Suche nach Alternativen zum Kapitalismus ist noch lange nicht abgeschlossen und ganz sicher gibt es nicht nur eine.

Ulrich Brand, Markus Wissen
Kapitalismus am Limit
Öko-imperiale Spannungen, umkämpfte Krisenpolitik und solidarische Perspektiven.
ISBN: 978-3-98726-065-0
Softcover, 304 Seiten (auch als Epub oder PDF)

Titelbild: Martin Auer mithilfe von KI
Der Beitrag erschien zuerst im Standard am 18. Juni 2024

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Gefahren für Leben und Gesundheit: Arbeit in Zeiten der Klimakatastrophe
von Martin Auer

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Am 28. April, drei Tage vor dem internationalen Tag der Arbeit, wird in vielen Ländern der Workers Memorial Day begangen, zum Gedenken an Lohnarbeiter:innen, die bei der Arbeit getötet, verstümmelt, verletzt wurden oder erkrankt sind. Der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) hat diesen Tag heuer unter das Thema „Klimarisiken für Arbeitnehmer:innen“ gestellt.

Workers Memorial Day: Remember the dead, fight for the living!
Foto: Trade Union Congress

Extreme Wetterbedingungen gefährden die Sicherheit am Arbeitsplatz und die Gesundheit der Arbeitnehmer:innen in der Landwirtschaft, auf dem Bau und in anderen Berufen, wo sie im Freien arbeiten. Hitzebedingte Todesfälle und Krankheiten sind stark angestiegen. Die Arbeit bei extremen Wetterbedingungen macht besonders müde und daher anfällig für Unfälle und Verletzungen. Stressbedingte Krankheiten nehmen zu. Während der Hitzewellen im Jahr 2023 starben Berichten zufolge unter anderem Postangestellte und Zustellfahrer:innen während der Arbeit an Hitzschlag. Es gibt echte Gründe zur Besorgnis darüber, dass weder Arbeitgeber noch Aufsichtsbehörden das Problem mit der nötigen Ernsthaftigkeit behandeln.

Ein Report1 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) vom September 2023 hält fest: „Der Klimawandel hat zahlreiche gesundheitliche Auswirkungen auf Arbeitnehmer, darunter Verletzungen, Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Atemwegserkrankungen und Auswirkungen auf ihre psychosoziale Gesundheit. Die geschätzte Zahl der Todesfälle unter der Weltbevölkerung im erwerbsfähigen Alter aufgrund der Einwirkung heißer Temperaturen ist gestiegen.“

Deshalb fordert der Internationale Gewerkschaftsbund robuste Richtlinien und Praktiken, um die arbeitende Bevölkerung vor den gefährlichen Auswirkungen des Klimawandels zu schützen. Klimarisikobewertungen und Notfallvorsorge müssen in die Arbeitssicherheits- und Gesundheitsstandards integriert werden. Dazu gehören Konsultationen mit Gewerkschaften, die Durchführung umfassender Sicherheitsschulungen und die Durchsetzung strenger Sicherheitsstandards, um die mit extremen Wetterbedingungen verbundenen Risiken zu mindern. „Im Mittelpunkt steht dabei die Demokratie, denn Demokratie am Arbeitsplatz bedeutet, dass den Arbeitnehmern zugehört wird und sie zu ihrer eigenen Sicherheit beitragen können“, so der Generalsekretär des IGB Luc Triangle.

Es ist nicht nur das veränderte Klima, das zu gesteigerter Gefährdung der Arbeitenden führt, es sind auch die globalen Machtverhältnisse. In einer 2024 in den Annals of the American Association of Geographers2 veröffentlichten Studie über den südostasiatischen Ziegelgürtel untersuchten Forscher:innen aus Großbritannien und Südostasien, wie der Rückgang der Ziegelproduktionskapazität im Vereinigten Königreich nach der Finanzkrise von 2008 zu einem steilen Anstieg der Ziegelimporte, von außerhalb der EU, geführt hat. Ziegel werden in Indien während der heißesten Zeit des Jahres hergestellt. Während dieser Zeit sind die Arbeiter gezwungen, in der intensiven, direkten Sonneneinstrahlung zu arbeiten und haben kaum Zugang zu Schatten. Viele der Arbeitenden in der Industrie stehen in Schuldknechtschaft und sind – oft gemeinsam mit ihren Familien – gezwungen, unter ungesunden und manchmal tödlichen Bedingungen zu arbeiten, um Zinsen für langfristige Schulden bei den Besitzern der Brennöfen zu begleichen3.

Frauen in Tamil Nadu: Arbeit in extremer Hitze erhöht das Risiko von Früh- und Fehlgeburten
Foto: Internationale Arbeitsorganisation

Zwei Millionen Lebensjahre verloren durch hitzebedingte Unfälle

Mit steigender Temperatur steigt auch die Unfallrate am Arbeitsplatz. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) der Vereinten Nationen schätzt, dass Hitze am Arbeitsplatz im Jahr 2020 weltweit 23 Millionen Arbeitsunfälle und 19.000 Todesfälle verursacht hat und insgesamt 2 Millionen behinderungsbereinigte Lebensjahre (Disability Adjusted Life Years, DALYs) gekostet hat.

Eine UCLA-Studie4 aus dem Jahr 2021 ergab, dass selbst ein geringfügiger Anstieg der Temperaturen am Arbeitsplatz in Kalifornien zu 20.000 zusätzlichen Verletzungen pro Jahr führte, was gesellschaftliche Kosten in Höhe von 1 Milliarde US-Dollar verursachte.

Die Studie ergab, dass Arbeiter:innen an Tagen mit Temperaturen über 32 °C ein um 6 bis 9 Prozent höheres Verletzungsrisiko haben, als an Tagen mit kühleren Temperaturen. Wenn das Thermometer 38 °C überschreitet, steigt das Verletzungsrisiko um 10 bis 15 Prozent.

In einem Artikel aus dem Jahr 2019 im American Journal of Industrial Medicine heißt es: „Unter Bauarbeitern, die 6 Prozent der arbeitenden Bevölkerung ausmachen, geschahen zwischen 1992 und 2016 in den USA 36 Prozent aller berufsbedingten hitzebedingten Todesfälle. Die Durchschnittstemperaturen von Juni bis August stiegen im Untersuchungszeitraum allmählich an. Steigende Sommertemperaturen von 1997 bis 2016 waren mit höheren hitzebedingten Sterberaten verbunden.“

Auch die Arbeit in der Landwirtschaft ist ein Beruf mit hohem Risiko. Ein Artikel im American Journal of Industrial Medicine5 aus dem Jahr 2015 kam zu dem Schluss, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Landarbeiter an hitzebedingten Todesfällen sterben, 35-mal höher ist als bei Arbeitern in anderen Berufen.

Die Lasten der Arbeit unter schlechten Bedingungen tragen die Arbeitnehmer:innen, ihre Familien und Gemeinschaften. Aber auch die Auswirkungen auf die Gewinne sind beträchtlich: Bei hohen Temperaturen verringert sich die Arbeitsproduktivität, weil es entweder zu heiß zum Arbeiten ist oder die Arbeiter langsamer arbeiten müssen. Im Jahr 2019 prognostizierte die ILO6, dass bis 2030 weltweit 2,2 Prozent der Gesamtarbeitszeit durch hohe Temperaturen verloren gehen werden – ein Produktivitätsverlust, der 80 Millionen Vollzeitarbeitsplätzen entspricht. Bis 2030 könnte das die weltweite Wirtschaftsleistung um 2,4 Milliarden USD verringern.

Hitzebedingte Krankheiten

Eine globale ILO-Analyse von Klimamodellen, globalen Temperaturprognosen, Arbeitskräftedaten und arbeitsmedizinischen Informationen aus dem Jahr 2024 ergab, dass im Jahr 2020 mindestens 2,41 Milliarden Vollzeitbeschäftigte der Hitze am Arbeitsplatz ausgesetzt waren. Für viele kann dies ernsthaft gesundheitsschädlich sein.

Der Schweregrad hitzebedingter Erkrankungen reicht von leichtem Hitzeausschlag und Schwellungen über Hitzestress und Hitzeerschöpfung bis hin zu schwerwiegenden und möglicherweise tödlichen Erkrankungen wie Rhabdomyolyse (Muskelschäden), akuter Nierenschädigung, Hitzschlag und durch Hitzestress verursachten Herzstillstand. Arbeitnehmer mit Vorerkrankungen wie Diabetes, Lungen- oder Herzerkrankungen können besonders gefährdet sein7.

Eine kürzlich bekanntgewordene chronische Nierenerkrankung (CKDu), wurde bei Bananenarbeitern und anderen Personen beobachtet, die schwere Handarbeit bei heißen Temperaturen verrichten. Diese Krankheit tötet jedes Jahr Tausende. Ein Artikel aus dem Jahr 2016 im Clinical Journal der American Society of Nephrology8 deutete darauf hin, dass CKDu eine der ersten durch den Klimawandel verursachten Epidemien darstellen könnte.

Gemeinsame Schätzungen von WHO und ILO, die 2023 in der Zeitschrift Environment International9 veröffentlicht wurden, gehen davon aus, dass im Jahr 2019 weltweit 1,6 Milliarden Arbeitnehmer beruflich der UV-Strahlung der Sonne ausgesetzt waren, „was 28,4 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter entspricht“. Es ist der häufigste berufsbedingte Krebsrisikofaktor, wenn Arbeitnehmer routinemäßig Konzentrationen ausgesetzt sind, die über den empfohlenen Tagesgrenzwerten liegen.

UV-Strahlung kann auch zu irreversiblen Schäden an den Augen führen, entweder durch Schädigung durch sehr hohe kurzfristige Belastung oder durch langfristige Belastung, was zu Makuladegeneration, Augentumoren und grauem Star führt.

Studienergebnisse, die im April 2024 im International Journal of Obstetrics & Gynaecology10 veröffentlicht wurden, besagen, dass die Arbeit bei extremer Hitze das Risiko einer Tot- und Fehlgeburt bei schwangeren Frauen verdoppeln kann. An der Studie nahmen 800 schwangere Frauen im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu teil, die alle mittlere bis schwere Arbeit verrichteten.

Auch Arbeiter:innen in geschlossenen Räumen können gefährdet sein. Erdrückende Temperaturen, insbesondere dort, wo Prozesse Hitze erzeugen, wie Bäckereien, Gießereien, Wäschereien und Glashütten, können die Konzentration beeinträchtigen und möglicherweise ernsthafte körperliche und geistige Belastungen verursachen.

Extremwetter

In Kentucky starben 2021 acht Arbeiter:innen, als die Kerzenfabrik Mayfield Consumer Products durch einen Tornado dem Erdboden gleichgemacht wurde. Man hatte ihnen mitgeteilt, dass sie entlassen würden, wenn sie den Arbeitsplatz verlassen würden. Die US-Sicherheitsbehörde OSHA verhängte gegen das Unternehmen eine Geldstrafe von 40.000 US-Dollar wegen sieben „schwerwiegender“ Sicherheitsverstöße im Zusammenhang mit den Todesfällen.

Am selben Tag starben sechs Arbeiter:innen, als ein von einem Tornado heimgesuchtes Amazon-Lagerhaus in Edwardsville, Illinois, einstürzte. In einer Erklärung der Einzelhandels-, Großhandels- und Kaufhausgewerkschaft (RWDSU)11 wurde Amazon dafür kritisiert, dass es von seinen Arbeitern verlangt habe, während eines großen Tornados weiterzuarbeiten.

Waldbrände – die infolge des Klimawandels viel häufiger auftreten – können tödlich sein, wobei Rettungskräfte besonders gefährdet sind. Es sind nicht nur die Hitze und die Flammen – auch der Rauch ist ein echter Killer. Im Jahr 2023 erlangten die spanischen Gewerkschaften, die Feuerwehrleute der Andalusischen Umwelt- und Wasserbehörde vertreten, die Anerkennung, dass der Rauch krebserregend ist.

Laut der Sicherheitsforschungsbehörde der US-Regierung NIOSH12 gehört zu den häufigsten Gefahren, denen Feuerwehrleute bei der Arbeit an der Feuerlinie ausgesetzt sind, „vom Feuer eingeschlossen zu werden, hitzebedingte Krankheiten und Verletzungen, Rauchvergiftung, fahrzeugbedingte Verletzungen (einschließlich Flugzeuge), Ausrutschen, Stolpern und Stürze “ Darüber hinaus besteht bei ihnen aufgrund längerer intensiver körperlicher Anstrengung möglicherweise ein „Risiko für plötzlichen Herztod und Rhabdomyolyse“.

Überschwemmungen können den Transport für alle Arbeitnehmer:innen gefährlich machen und ein erhöhtes Infektionsrisiko mit sich bringen. Je nachdem, wo auf der Welt sie sich befinden, kann das alles sein, von Erkältungen bis hin zu Cholera. Landarbeiter:innen könnten bei Überschwemmungen einen gefährlichen oder gar keinen Job mehr haben.

Überschwemmungen können auch ein Risiko durch Krankheiten im Zusammenhang mit dem Rückfluss von Abwasser darstellen. Risiken durch Trümmer wie umgestürzte Bäume oder eindringendes Wasser, die die elektrische Sicherheit oder den Brandschutz gefährden, können die Arbeit gefährlich oder unmöglich machen.

Bei Aufräumarbeiten besteht die Gefahr von Verletzungen durch Trümmer oder durch mit Chemikalien kontaminierte Materialien, und von Infektionen durch ungeklörte Abwässer.
Foto: Internationale Arbeitsorganisation

Luftverschmutzung

Luftverschmutzung und Smogereignisse können zu akuten und langfristigen Gesundheitsrisiken führen. In einem Artikel aus dem Jahr 2023 im Journal of Occupational and Environmental Hygiene13 wurde darauf hingewiesen, dass sich die zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels auf die Luftschadstoffwerte unverhältnismäßig stark auf Arbeiter auswirken werden, die im Freien arbeiten, da sie stärker Feinstaub, Ozon und Allergenen ausgesetzt sind. „Diese Studie zeigt, dass Arbeitnehmer:innen im Zusammenhang mit dem Klimawandel einer erhöhten Morbidität und Mortalität ausgesetzt sind.“

Und der Klimawandel kann die alltäglichen Gefahren am Arbeitsplatz verschlimmern. Der ILO-Leitfaden 2023 zu Risiken, die von Chemikalien als Folge des Klimawandels ausgehen14, warnt davor, dass zu den unvorhergesehenen Risiken ein erhöhter Einsatz gefährlicher Pestizide gehören kann, um veränderte Auswirkungen von Schädlingen auf Nutzpflanzen und Nutztiere zu bewältigen. Viele Prozesse, wie etwa Gießereien, Hochöfen oder die chemische Produktion, sind für den kontinuierlichen Betrieb ausgelegt. Extreme Wetterereignisse können diese Prozesse oder wesentliche Sicherheitsmaßnahmen unterbrechen und möglicherweise verheerende Folgen haben.

Arbeiter:innen, die an Rettungs-, Aufräum- und Wiederherstellungsmaßnahmen nach extremen Wetterereignissen beteiligt sind, können einem hohen Risiko ausgesetzt sein, da sie zwangsläufig unter den gefährlichsten Bedingungen und oft stundenlang arbeiten müssen, manchmal ohne die notwendige Unterstützung und Schutzausrüstung.

Systemrelevante Arbeitskräfte – diejenigen, die unsere Gesundheitsfürsorge, den Transport, die Ernährung und andere lebens- und gesellschaftserhaltende Dienstleistungen erbringen – sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt, da sie auch unter extremen Bedingungen arbeiten müssen, unter normalen Umständen jedoch möglicherweise nicht als besonders gefährdet gelten und daher eventuell nicht über die erforderliche Ausbildung, Schutzkleidung oder Ausrüstung verfügen.

Infektionen

Auch am Arbeitsplatz stellen Infektionen eine zunehmende Bedrohung dar. „Die Klimakrise, die Urbanisierung und die veränderte Landnutzung wirken sich auf die Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz aus und haben dazu geführt, dass biologische Gefahren neue Risiken oder Risiken an neuen Orten mit sich bringen“, heißt es in einem Briefing15 des IGB vom Dezember 2023 zu biologischen Gefahren.

Der Policy Brief der ILO vom September 2023 „Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz in einem gerechten Übergang“16 warnt: „Risiken durch vektorübertragene Krankheiten wie Malaria oder Dengue-Fieber werden mit steigenden Temperaturen zunehmen, einschließlich möglicher Verschiebungen in der geografischen Verbreitung diese Vektoren als Folge des Klimawandels.“

„Diese Entwicklung betrifft alle Arbeiter, insbesondere Outdoor-Arbeiter, bei denen ein höheres Risiko besteht, sich durch Vektoren wie Mücken, Flöhe und Zecken übertragene Krankheiten anzustecken.“

Das Recht unsichere und gefährliche Arbeit zu verweigern

Mit der Verschärfung der Klimakrise werden Arbeitnehmer zunehmend mit natürlichen Gefahren am Arbeitsplatz konfrontiert sein, warnte ein Bericht des US-amerikanischen National Employment Law Project17. Es wird argumentiert, dass Arbeitnehmer zunehmend von ihrem Recht Gebrauch machen müssen, gefährliche Arbeit zu verweigern – und darüber hinaus zusätzliche neue Rechte benötigen. „Sie müssen ein echtes Recht haben, angesichts von Naturkatastrophen gefährliche Arbeit zu verweigern, und dies muss durch Bestimmungen zum Schutz vor Vergeltungsmaßnahmen und umfangreiche Leistungen der Arbeitslosenversicherung unterstützt werden.“

Artikel 13 der ILO-Konvention 155 über Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz besagt, dass alle Arbeitnehmer, die glauben, dass ihre Arbeit „eine unmittelbare und ernsthafte Gefahr“ für das Leben darstellt, „im Einklang mit den nationalen Bedingungen und Praktiken vor unangemessenen Folgen geschützt werden müssen.“ Artikel 19 fügt hinzu: „Ein Arbeitnehmer meldet unverzüglich seinem unmittelbaren Vorgesetzten jede Situation, von der er begründet annehmen kann, dass sie eine unmittelbare und ernsthafte Gefahr für sein Leben oder seine Gesundheit darstellt. Bis der Arbeitgeber erforderlichenfalls Abhilfemaßnahmen ergriffen hat, kann der Arbeitgeber nicht verlangen, dass die Arbeitnehmer an einen Arbeitsplatz zurückkehren, an dem weiterhin eine unmittelbare und ernsthafte Gefahr für Leben oder Gesundheit besteht.“

Quelle: Hazards Magazine
Titelfoto: Kai Funk via flickr, CC BY


1https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/—ed_emp/—emp_ent/documents/publication/wcms_895605.pdf

2https://www-tandfonline-com.uaccess.univie.ac.at/doi/full/10.1080/24694452.2023.2280666

3https://www.reuters.com/article/idUSKCN0WO0CZ/

4https://luskin.ucla.edu/high-temperatures-increase-workers-injury-risk-whether-theyre-outdoors-or-inside

5https://doi.org/10.1002/ajim.22381

6https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/—dgreports/—dcomm/—publ/documents/publication/wcms_711919.pdf

7https://www.hazards.org/heat/

8https://doi.org/10.2215/CJN.13841215

9https://doi.org/10.1016/j.envint.2023.108226

10https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/37814395/

11https://www.rwdsu.org/news/statement-on-amazon-warehouse-collapse

12https://www.cdc.gov/niosh/topics/firefighting/default.html

13https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC10443088/

14https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/—ed_dialogue/—lab_admin/documents/publication/wcms_887111.pdf

15https://www.ituc-csi.org/biological-hazards-briefing-en

16https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/—ed_emp/—emp_ent/documents/publication/wcms_895605.pdf

17https://www.nelp.org/publication/the-right-to-refuse-unsafe-work-in-an-era-of-climate-change/

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