von Martin Auer
Der Verlust von Eis und Schnee wird teuer, sehr teuer, warnen 50 führende Kryosphärenforscher:innen im Bericht State of the Cryosphere 2024 – Lost Ice, Global Damage.
Die Kryosphäre (Altgriechisch krýos = Frost) ist die Gesamtheit gefrorenen Wassers auf der Erde: Schnee, Meereis, Gletscher, Eisschilde, Schelfeis, Permafrost, zugefrorene Flüsse und Seen. Für das Klima ist die Kryosphäre besonders wichtig, weil ihre helle Oberfläche Sonnenergie ins Weltall zurück reflektiert, die sonst die Erde aufheizen würde. Gletscher sind aber auch Wasserspeicher, die die Niederschläge im Winter zurückhalten und in der wärmeren Jahreszeit nach und nach freigeben. Das Grönlandeis und das Eis der Antarktis halten Wassermassen fest, die sonst die Küsten überschwemmen würden. Und schließlich ermöglichen Schnee und Eis allerhand Vergnügen und sportliche Betätigung.
Die Verluste in den weltweiten Schnee- und Eisgebieten nehmen weiter zu. Die aktuellen Klimaverpflichtungen der Staaten bringen – wenn sie überhaupt eingehalten werden – die Erde auf den Weg zu einer Erwärmung von weit über zwei Grad Celsius. Das hätte durch den globalen Eisverlust katastrophale und unumkehrbare Folgen für Milliarden von Menschen.
Doch wenn die nationalen Klimapläne nicht eingehalten werden und das Niveau der Treibhausgasemissionen anhält wie bisher, wird das zu einer Steigerung der Temperatur um drei Grad Celsius oder mehr führen, stellt der Bericht fest, und das würde zu noch viel höheren Kosten für Verluste und Schäden führen. Viele Regionen könnten dann einen Anstieg des Meeresspiegels oder einen Verlust an Wasserreserven erleben, an den sich die Menschen nicht mehr anpassen können.
Wenn das Eis schmilzt, kann es in Europa kalt werden
Zum ersten Mal stellt der Bericht einen wachsenden wissenschaftlichen Konsens darüber fest, dass das Schmelzen der Eisflächen Grönlands und der Antarktis wichtige Meeresströmungen an beiden Polen verlangsamen könnte, was möglicherweise verheerende Folgen für ein deutlich kälteres Nordeuropa und einen stärkeren Anstieg des Meeresspiegels an der US-Ostküste hätte.
Wohin führen die aktuellen Klimapläne der Staaten?
Die aktuellen national festgelegten Klimaziele (NDCs) reichen nicht aus, um eine erhebliche Überschreitung der 1,5-Grad-Grenze zu verhindern. Viele Regierungen verschieben sinnvolle Klimaschutzmaßnahmen auf 2040, 2050 oder noch später. Kurzfristig sieht das zwar ökonomisch vorteilhaft aus, weil es heute die Energiekosten senkt. Aber eine schleppende Abkehr von fossilen Brennstoffen führt dazu, dass künftig große Verluste und Schäden in der Kryosphäre entstehen, die sich über Jahrzehnte und Jahrhunderte auswirken. Sich daran anzupassen wird – wenn es technisch überhaupt möglich ist – weitaus teurer als schnelle Maßnahmen in der Gegenwart.
Eisschilde und Meeresspiegelanstieg: Eine überzeugende Anzahl neuer Studien, die Eisdynamik, Paläoklimaaufzeichnungen aus der Erdgeschichte und aktuelle Beobachtungen des Verhaltens von Eisschilden berücksichtigen, legen nahe, dass für den Zusammenbruch des Grönlandeises und auch von Teilen der Antarktis der Schwellenwert deutlich unter 2,2 Grad Celsius liegt. Viele Forscher:innen gehen mittlerweile davon aus, dass schon ein Temperaturanstieg von 1,5 Grad Celsius ausreichen würde, um große Teile Grönlands und der Westantarktis und bestimmte gefährdete Teile der Ostantarktis zum Abschmelzen zu bringen. Dies würde zu einem unaufhaltsamen Anstieg des Meeresspiegels um über zehn Meter in den kommenden Jahrhunderten führen, selbst wenn die Lufttemperaturen später wieder sinken. Dieser unaufhaltsame Anstieg des Meeresspiegels wird alle Küstenregionen vor große, dauerhafte Herausforderungen stellen. Er wird zu weitreichenden Verlusten und Schäden an wichtiger Infrastruktur führen – etwa 75 Prozent aller Städte mit mehr als fünf Millionen Einwohnern liegen weniger als zehn Meter über dem Meeresspiegel. Es wird landwirtschaftliche Flächen zerstören und die Lebensgrundlage all derer, die von diesen gefährdeten Regionen abhängen, massiv gefährden.
Gebirgsgletscher und Schneedecken: Auch nur zwei Grad Celsius würden während des gesamten Jahrhunderts zu steigenden Verlusten und Schäden führen und die Anpassungsfähigkeit vieler Gemeinschaften in den Bergen und an Flussläufen bei weitem überschreiten. Fast alle Gletscher der Tropen und mittleren Breiten würden schließlich vollständig verschwinden. Die besonders wichtigen asiatischen Hochgebirgsgletscher würden etwa 50 Prozent ihres Eises verlieren. Katastrophenereignisse, die wir heute schon beobachten, wie Ausbrüche von Gletscherseen und massive Erdrutsche, werden an Häufigkeit und Ausmaß zunehmen. Besonders hoch sind die Risiken in Asien, wo plötzliche Überschwemmungen ohne große Vorwarnung innerhalb weniger Stunden Infrastruktur und Städte wegschwemmen können. Ernsthafte und möglicherweise dauerhafte Veränderungen des Wasserkreislaufs aufgrund des Rückgangs der Schneedecke und des Abschmelzens von Eis während der warmen Sommerwachstumsperiode werden Auswirkungen auf die Nahrungsmittel-, Energie- und Wassersicherheit haben.
Polarmeere: Die aktuellen NDCs verzögern eine ausreichende Emissionsminderung und werden zu CO2-Werten in der Atmosphäre von nahezu 500 ppm führen. Damit liegt der Wert deutlich über dem kritischen Wert von 450 ppm, den Polarmeereswissenschaftler:innen vor Jahrzehnten ermittelt haben, sagen die Forscher:innen. Extreme Umweltbelastungen werden sich auf Muscheln und Schnecken auswirken, deren kalkhaltige Schalen vom CO2-haltigen Meerwasser angegriffen werden, sowie auf wertvolle Arten in der Nahrungskette, wie Krill, Kabeljau, Lachs, Hummer und Königskrabben. Eine Belastung dieser polaren Ökosysteme wird zu Verlusten und Schäden in der kommerziellen Fischerei führen, die wir letztlich auch an den Preisen im Supermarkt zu spüren bekommen. Und auch die lokalen Gemeinschaften in den Polargebieten, die sich von Fischerei ernähren, werden schwer darunter leiden. Diese ätzenden Bedingungen halten Zehntausende von Jahren an. Zusätzliche Verluste entstehen durch Hitzewellen im Meer. Es gibt keine bekannte Möglichkeit für gefährdete polare Meeresarten, sich rechtzeitig an solche Veränderungen anzupassen. Ohne eine dringende Verbesserung der aktuellen NDCs werden Störungen der Meeresströmungen durch das Eindringen von Süßwasser aus beiden Eisschichten immer wahrscheinlicher.
Permafrost: Wenn der Permafrost, der dauernd gefrorene Boden in den arktischen Gebieten und in den Bergen, auftaut, führt das in den direkt betroffenen Gebieten zu schweren Schäden an Straßen, Bahnlinien und Gebäuden. Doch die Schäden betreffen uns alle, denn der Prozess setzt Kohlendioxid und Methan frei. Je mehr dieser Treibhausgase austreten, umso dringender und teurer werden Maßnahmen, um die menschengemachten Emissionen zu senken. Sobald sie einmal in Gang gesetzt sind, sind die Emissionen aus Permafrost nicht mehr aufzuhalten und werden für die nächsten ein bis zwei Jahrhunderte nicht aufhören. Künftige Generationen werden dann Mengen von CO2 aus der Atmosphäre entfernen müssen, die dem derzeitigen Ausstoß von großen Staaten entsprechen. Wenn die aktuellen NDCs nicht deutlich verbessert werden, könnten die jährlichen Emissionen aus Permafrost bis 2100 die Größe der gesamten Emissionen der Europäischen Union erreichen und bis 2300 etwa das Doppelte davon. Dadurch, dass die Arktis sich schneller erwärmt als andere Gebiete, gibt es mehr extreme Hitzeereignisse, die zu „abrupten Tauprozessen“ führen können, wo Küstenlinien oder Berghänge einstürzen oder sich Seen bilden. Dadurch kann der Permafrost in noch größeren Tiefen auftauen, was bedeutet, dass die Emissionen noch höher ausfallen könnten als prognostiziert.
Meereis: Bei einer Erwärmung um über zwei Grad Celsius wäre der Arktische Ozean von Juli bis Oktober praktisch eisfrei. Das weniger reflektierende, offene Wasser würde mehr Wärme aufnehmen. Diese wärmere Arktis würde das Auftauen des Permafrosts an den Küsten verstärken, wodurch mehr Kohlenstoff in die Atmosphäre gelangt und die Küstenerosion zunimmt. Das Abschmelzen des Grönlandeises und der Anstieg des Meeresspiegels würden noch einmal beschleunigt werden. Das hätte unvorhersehbare und wahrscheinlich extreme Auswirkungen auf die Wettermuster in den mittleren Breiten. Wärmere Gewässer bedeuten auch, dass die Erholung des Meereises viele Jahrzehnte dauern kann, auch wenn die Lufttemperaturen wieder sinken, da der Ozean die Wärme viel länger speichert. Während einige Wirtschaftsanalysten den Verlust des arktischen Meereises aufgrund des größeren regionalen Wirtschaftspotenzials als positiv betrachten, würde das extreme Ausmaß von Verlust und Schäden sowie der erhöhte Anpassungsbedarf mit ziemlicher Sicherheit alle vorübergehenden wirtschaftlichen Gewinne bei weitem übertreffen, sogar für die Arktisanrainer selbst.
Was passiert, wenn der CO2-Anstieg im jetzigen Tempo weitergeht?
Sollte der CO2-Anstieg in der Atmosphäre weiterhin im heutigen Tempo anhalten und trotz aktueller Klimaschutzversprechen nicht zum Stillstand kommen, werden die globalen Temperaturen bis zum Ende dieses Jahrhunderts um mindestens drei Grad Celsius ansteigen. Die Verluste und Schäden in der Kryosphäre auf diesem Niveau werden extrem sein und für viele Gemeinschaften und Nationen die Anpassungsgrenzen deutlich überschreiten.
Eisdecken und Anstieg des Meeresspiegels: Sobald die Drei-Grad-Marke überschritten wird, beschleunigt sich der Eisverlust in Grönland und insbesondere in der Westantarktis und damit der Anstieg des Meeresspiegels extrem. 2100 könnte die Drei-Meter-Marke überschritten werden, 2200 fünf Meter, 2300 bis zu 15 Meter.
Gletscher und Schneedecke: Mit dieser raschen Erwärmung sind katastrophale und kaskadierende Auswirkungen des Gletscher- und Schneeverlusts verbunden. Einige gefährdete Gemeinschaften in Höhenlagen und flussabwärts gelegenen Gebieten werden bereits Mitte des Jahrhunderts wegen Wassermangels im Sommer oder zerstörerischer Überschwemmungen unter Bedingungen leiden, unter denen sie nicht überleben können. Selbst viele der größten Gletscher in den Hochgebirgen Asiens und Alaskas werden mit der Zeit wahrscheinlich nicht überleben. In derzeit fruchtbaren landwirtschaftlichen Regionen wie den Einzugsgebieten des Tarimflusses im Westen Chinas und des Colorado River im Südwesten Nordamerikas wird Landwirtschaft wahrscheinlich kaum mehr möglich sein.
Polarmeere: Im gesamten Arktischen Ozean und im Südpolarmeer wird es zu einer zerstörerischen Versauerung kommen. Bei diesen CO2-Werten würde auch in einigen Meeren in Polarnähe, insbesondere in der Barentsee sowie der Nord- und Ostsee, ein kritischer Versauerungsgrad erreicht werden. Es würde 30.000 bis 70.000 Jahre dauern, bis der pH-Wert wieder den heutigen Wert erreicht. Das wird mit ziemlicher Sicherheit zu einem Massenaussterben polarer Arten führen, insbesondere in Kombination mit der Erwärmung der Ozeane und der Langlebigkeit der im Ozean gespeicherten Wärme. Eine extreme Erwärmung wird außerdem schwerwiegende Folgen für das heutige System der globalen Meeresströmungen haben und zu unvorhersehbaren Störungen der atlantischen und antarktischen Zirkulationssysteme führen.
Permafrost: Wenn die derzeitige rasche Erwärmung und das Auftauen des Permafrosts anhalten, wird es praktisch unmöglich werden, Netto-Null-Emissionen aufrechtzuerhalten. Bei derart hohen Temperaturen werden große Teile des arktischen Permafrosts und fast der gesamte Permafrost in den Bergen auftauen. Dadurch werden bis zum Ende dieses Jahrhunderts jährliche Kohlendioxid-Emissionen in der Größenordnung der heutigen Emissionen Chinas freigesetzt, was die globale Erwärmung enorm beschleunigen würde.
Nur 1,5 Grad Celsius kann das Schlimmste verhindern
Nur bei einem CO2-Maximum bei 430 ppm lassen sich die Verluste in der Kryosphäre auf ein Niveau verlangsamen, das insbesondere vielen Küsten- und Berggemeinden eine praktikable Anpassung ermöglicht und so Verluste und Schäden deutlich minimiert.
Eisschichten und Anstieg des Meeresspiegels: Die Geschwindigkeit des Meeresspiegelanstiegs würde sich bis 2100 stabilisieren. Dies erfordert aber dringendes Handeln, wobei die Verpflichtungen zur Eindämmung des Klimawandels dringend verschärft und die Emissionen fossiler Brennstoffe bis 2030 um 40 Prozent gesenkt werden müssen. Leider zeigen die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse, dass selbst 1,5 Grad Celsius möglicherweise nicht ausreichen, um beide Eisschilde zu schützen. Im schlimmsten Fall würde sich der Anstieg des Meeresspiegels zwar verlangsamen, aber andauern.
Gletscher und Schneedecke: Den Klimawandel so weit einzudämmen, ist die einzige Chance, in einigen Regionen wie Skandinavien, den Alpen und Island zumindest 15 bis 35 Prozent des Gletschereises zu erhalten. Bis zu 50 Prozent des gegenwärtigen Eises im Kaukasus, in Neuseeland und in großen Teilen der Anden könnten erhalten bleiben. In den asiatischen Hochgebirgen würden zwei Drittel des Gletschereises erhalten bleiben. In den meisten Gemeinschaften würden die Veränderungen nicht über die Anpassungsgrenzen hinausgehen und die Geschwindigkeit der Gletscherschmelzen würde sich bis Mitte des Jahrhunderts verlangsamen und bis 2100 stabilisieren.
Polarmeere: Sofortige Eindämmungsmaßnahmen führen zu Temperaturen nahe der 1,5-Grad-Grenze und halten den CO2-Gehalt in der Atmosphäre zuverlässig deutlich unter 450 ppm. Die ehrgeizigsten Maßnahmen führen zu einem CO2-Höchstwert von 430 ppm. Dadurch werden die korrosiven Belastungen auf kleinere Teile der Arktis und des Südpolarmeers beschränkt, wo heute schon Schalenschäden und veränderte Lebensprozesse beobachtet werden. Verluste werden dennoch auftreten: Zerstörerische kombinierte Ereignisse aus marinen Hitzewellen und extremer Versauerung haben bei den heutigen 1,2 Grad Celsius bereits zu einem Einbruch von Populationen geführt. Dazu mehren sich die Anzeichen für eine gewisse Verlangsamung der großen Meeresströmungen.
Permafrost: Selbst wenn die durchschnittliche Erderwärmung unter 1,5 Grad Celsius bleibt, wird es immer noch zu erheblichem Auftauen des Permafrosts und damit verbundenen Emissionen kommen, wenn auch nicht so schlimm wie in den anderen Szenarien. Die Schäden an der Infrastruktur in Russland, Kanada und Alaska sowie dem tibetischen Plateau und anderen Bergregionen werden viel geringer ausfallen, wenn die globale Durchschnittstemperatur unter 1,5 Grad Celsius bleibt. Die jährlichen Permafrost-Emissionen müssen zwar noch von künftigen Generationen ausgeglichen werden, sollten aber um 30 Prozent (etwa 120 bis 150 Gigatonnen bis 2100) geringer ausfallen, als dies bei den aktuellen NDCs der Fall wäre.
Meereis: Das arktische Meereis wird sogar bei 1,5 Grad Celsius in manchen Sommern fast vollständig schmelzen, aber nicht jedes Jahr und nur für Tage bis wenige Wochen. Dadurch werden die Auswirkungen und Rückkopplungen sowohl in der Arktis als auch auf der gesamten Erde deutlich abnehmen und die Anpassungslasten sich verringern. Allerdings wird es auch weiterhin zu Verlusten und Schäden kommen, insbesondere für die indigenen Völker der Arktis und die Küstengemeinschaften. Die Prognosen zum Meereisverlust im Südpolarmeer rund um die Antarktis sind freilich unsicherer, die Schwelle zum vollständigen Meereisverlust im Sommer könnte dort sogar noch niedriger sein als in der Arktis. „Sehr geringe“ Emissionen könnten bis 2100 zu einer gewissen Erholung des Meereises an beiden Polen führen, wenn die Temperaturen beginnen, unter 1,4 Grad Celsius zu fallen.
Quelle: International Cryosphere Climate Initiative (ICCI) (2024): State of the Cryosphere 2024 – Lost Ice, Global Damage. Stockholm. Online verfügbar unter https://www.iccinet.org/statecryo24, zuletzt geprüft am 12.01.2025.
Titelbild: Andreas Åkre Solberg, via flickr, CC BY-NC-SA
Dieser Beitrag erschien ursprünglich auf derstandard.at
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