Mobilität und Gerechtigkeit

Lesedauer 3 Minuten.   

von Johannes Fiedler

Wenn es um die Notwendigkeit geht, die Systeme der Mobilität klimagerecht zu gestalten, spricht man in der öffentlichen Diskussion vorrangig mit physikalischen und technologischem Vokabular: Emissionswerte, Antriebssysteme, Geschwindigkeit, Wegelängen, Frequenzen…Diese Begriffe mögen für die Planung und Implementierung von Maßnahmen wichtig sein, für die individuelle Verhaltensänderung, von der letztlich der Erfolg der Mobilitätswende abhängt, sind sie sekundär. In der Gestaltung der Alltagsmobilität, bei der Wahl der Ziele, des Wohnortes, der Orte der Ausbildung und des Arbeitens dominiert die räumliche Wahrnehmung. Hier wirkt eine individuelle Psychogeografie: die Verortung des Selbst und die Einschätzung der räumlichen Möglichkeiten. Es werden vorrangig die Qualitäten von Wegen eingeschätzt, woraus sich auch die Wahrnehmung von Entfernung ergibt.

Angenehme Wege wirken kurz, unangenehme endlos. Befindet man/frau sich im semi-ruralen Raum, der österreichischen Version von Suburbia, wo etwa die Hälfte der Wohnbevölkerung zuhause ist1, schätzt man/frau etwa den Weg zur nächsten Bushaltestelle ein, die Bedingungen an der Haltestelle, im Bus selbst, am Zielort und entlang des restlichen Weges. Auf dieser Grundlage werden die Mobilitätsentscheidungen getroffen: Da geht es nicht allein um das Verkehrsmittel, sondern grundsätzlich um Wahl des Ziels, Häufigkeit des Weges, Uhrzeit und letztlich auch darum, ob der Weg überhaupt notwendig ist. Das gilt analog auch für städtische Gebiete, wobei sich niemand anmaßen sollte, zu definieren, wo diese „Stadt“ beginnt. Österreichische Städte bestehen zu großen Teilen aus „Flächenbezirken“, in denen die semi-rurale Psychogeografie dominiert.

Ob aus der individuellen Verortung und Einschätzung der Mobilitätsoptionen die Wahl auf ein öffentliches Verkehrsmittel, kombiniert mit Fußwegen, auf das Fahrrad oder auf das Auto, oder auf Kombinationen aus diesen Modi fällt, hängt also nicht allein vom technologischen Angebot, sondern wesentlich von qualitativen Faktoren ab, vor allem von räumlichen Qualitäten. Um es abzukürzen: Bei einem Großteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter2 führt die Conclusio dieser Abwägungen dazu, nicht zu Fuß aus dem Haus zu gehen, sondern in die Garage, wo die Erweiterung des eigenen Wohnzimmers auf Rädern bereitsteht. Unser Land ist dazu bestens ausgelegt. Wir sind tatsächlich ein „Autoland“.

So etwas wie Chancengleichheit zwischen den Verkehrsmodi gibt es nur in jenen Siedlungsgebieten, deren räumliche Konzeption aus der Zeit vor der Massenautomobilität stammt, also in jenen historischen Stadtvierteln und Ortskernen, die den Furor der automobilen Modernisierung überlebt haben: Autofahren und Parken ist kompliziert, öffentliche Verkehrsmittel sind gut erreichbar und meist ist auch der Weg dorthin dergestalt, dass man ihn unter Wahrung der Menschenwürde zurücklegen kann. Der Blick in die historischen Stadträume darf aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass der öffentliche Verkehrsraum in Österreich von den meisten Menschen als feindlich wahrgenommen und folglich gemieden wird – durchaus begründet – ist er doch fast durchgehend von der Logik des Autoverkehrs geprägt. Hier beginnt die Frage der Gerechtigkeit.

Mit welchem Recht konsumieren Autofahrer und Autofahrerinnen einen überproportionalen Anteil an dieser öffentlichen Ressource, nicht nur in Form quantitativer Inanspruchnahme, sondern auch durch qualitative Degradierung? Warum wird es akzeptiert, dass Menschen in Autos in ihrem optimierten persönlichen Ambiente durch Straßen gleiten und dabei die Effekte ihrer Mobilitätspräferenz in vielfältiger Weise externalisieren? Warum werden Dauerlärm, städtebauliche Verödung, Entwertung von Wohnungen und Geschäftsstandorten, Unsicherheit und Marginalisierung politisch legitimiert? Ohne hier die Komplexität der Motive zu kleinzureden: die Persistenz dieses Dauerskandals liegt darin, dass er von einer Bevölkerungsmehrheit verursacht wird. Doch auch in einer Demokratie ist ist nicht alles recht, was einer Mehrheit recht ist.

In Fragen der Gerechtigkeit geht es um Grundbedingungen des Zusammenlebens. Das gilt auch für räumliche Gerechtigkeit, wie sie in den Sozialwissenschaften unter dem Titel Spatial Justice3 behandelt wird. Hier geht es um die gerechte Allokation öffentlicher Güter, um Umweltgerechtigkeit, Generationengerechtigkeit, Entwicklungsfähigkeit und um gleichberechtigten Zugang aller Bevölkerungsgruppen zur Entscheidungsfindung. Blickt man auf die anerkannten Maßnahmen zur Verwirklichung der Mobilitätswende – Förderung des Fuß- und Radverkehrs, Rückbau der automobilen Infrastruktur, Ausbau der öffentlichen Mobilitätsangebote – so dienen diese und so rechtfertigen sich diese gleichermaßen aus Gründen der Rettung des Weltklimas als auch der Gerechtigkeit unter Menschen.

Titelfoto: Wolfram Däumel, CC BY-SA-3.0


  1. 2021: Bewohner:innen von Ein- und Zweifamilienhäusern: 48,3% (Statistik Austria) ↩︎
  2. BMViT: Österreich unterwegs 2013/2024: Werktäglicher Modal Split, (S. 81). Der Anteil der Kfz-Wege liegt bei den Alterskohorten 20-60 Jahre zwischen 55% und 62%. ↩︎
  3. Literatur
    Susan FAINSTEIN: The Just City, Cornell University Press, 2010; Johannes FIEDLER, Melanie HUMANN, Manuela KÖLKE: Radical Standard – zur Umsetzung von Spatial Justice in der städtebaulichen Planung; TU Braunschweig 3/2013; Peter MARCUSE, James CONOLLY, Johannes NOVY, Ingrid OLIVO, Cuz Potter, Justin STEIL et al.: Searching for the Just City, Routledge, Oxon 2009; John RAWLS: A Theory of Justice, The President and Fellows of Harvard College, 1971, deutsch: Eine Theorie der Gerechtigkeit; Suhrkamp Frankfurt/Main 1979; Edward SOJA: Seeking Spatial Justice, University of Minnesota Press, Minneapolis 2010 ↩︎
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Eine weitgehende Umstellung auf Radfahren und Gehen wäre der effektivste Weg, die Emissionen aus dem städtischen Verkehr zu senken

Lesedauer 2 Minuten.   

Referenz: Brand, Christian et al. (2021) „The climate change mitigation effects of daily active travel in cities“. In: Transportation Research Part D 93, 102764. Online unter https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1361920921000687

Die Treibhausgas-Emissionen aus dem Verkehr zu reduzieren ist eine der größten Herausforderungen, vor denen wir beim Klimaschutz stehen. In der EU sind von 1990 bis 2017 die Emissionen in allen Bereichen gesunken, außer im Verkehr. Die benzin- und dieselgetriebenen Fahrzeuge durch elektrische zu ersetzen, wird nicht ausreichen, um mit dem notwendigen Tempo Klimaneutralität zu erreichen.

Radfahren und Gehen sind bekanntlich die nachhaltigsten Formen des Personenverkehrs. Doch wie viel an Treibhausgas-Emissionen kann dadurch wirklich eingespart werden? Das wurde bis jetzt noch nicht eingehend untersucht.

Doch die hier zitierte Studie, die heuer in der Fachzeitschrift Transportation Research veröffentlicht wurde, hat sich mit der Frage gründlich befasst. Das Ergebnis ist eindrucksvoll.

Der Inhalt

Die Studie nahm den Verkehr in sieben europäischen Städten unter die Lupe: Antwerpen, Barcelona, London, Gerebro, Rom, Wien und Zürich. 3.836 Personen füllten 9.859 „Fahrtenbücher“ für jeweils einen Tag aus und berichteten insgesamt über 34.203 zurückgelegte Wege. Sie produzierten durchschnittlich 3,18 kg CO2 pro Person und Tag, doch die Hälfte der Teilnehmenden produzierte weniger al 0,81 kg CO2 pro Tag. Ein kleiner Teil, nämlich 10 Prozent der Personen, produzierte die meisten Emissionen, nämlich 59 Prozent. Mit dem Auto zurückgelegte Wege trugen 70 Prozent zu den Emissionen bei und mit dem Fahrrad zurückgelegte Wege 1 Prozent. Der Rest fiel auf öffentlichen Verkehr und andere Fahrzeugtypen. Dabei wurden die Emissionen während des gesamten Lebenszyklus des Verkehrsmittels einbezogen, also von der Rohstoffgewinnung über die Produktion bis zur Entsorgung – deswegen führt natürlich auch Radfahren zu Emissionen.

Die Ergebnisse

Die Berechnungen ergaben: Wer eine Autofahrt durch eine Fahrt mit dem Fahrrad ersetzt, senkt seinen täglichen Emissionen um zwei Drittel. Daraus ergibt sich, dass eine allgemeine Umstellung von Auto- zu Fahrradverkehr der effektivste Weg wäre, die Emissionen aus dem Stadtverkehr rasch zu reduzieren, und zwar rascher, als es durch technologische Veränderungen alleine möglich wäre.

Die Studie ist öffentlich zugänglich auf https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1361920921000687 und steht unter der Creative Commons Lizenz CC BY IGO

Titelfoto: pixabay

Gesichtet: M.H.

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