von Dirk Raith und Philipp Wilfinger
Grundlagen Degrowth
Degrowth oder Postwachstum bezeichnet eine grundlegende Transformation unserer Wirtschaftsweise und Gesellschaft, die ein gutes Leben für alle zum Ziel hat. Durch die Etablierung eines bedürfnisorientierten und kooperativen Wirtschaftssystems sollen bestehende, umweltschädigende Profit- und Wachstumszwänge von Unternehmen sowie die daraus resultierende Ausbeutung von Menschen und Natur überwunden werden. Zugleich sollen strukturelle Ungleichheiten verringert werden. Für diese ökonomische Re-Orientierung ist eine grundlegende Veränderung unserer Lebensweise und ein kultureller Wandel notwendig [1].
Der Beitrag von Degrowth zum Klimaschutz
Zur Einhaltung der Pariser Klimaziele braucht es gemäß des Weltklimarats IPCC schnelle, weitreichende und beispiellose Maßnahmen auf allen Ebenen [2], entsprechend auch Veränderungen des Wirtschaftssystems. Degrowth steht für einen gezielten Rückbau von treibhausgas-intensiven, nichtnachhaltigen Sektoren und Industrien auf globaler Ebene. Dazu zählen u. a. Werbe-, Waffen-, Fast-Fashion-, Kreuzfahrt-, Flugverkehrs- und fossile Industrien, der spekulative Börsen- und Finanzsektor sowie die chemisch-industrielle Landwirtschaft. Zudem würden verlängerte Nutzungsdauern, die einfache Reparierbarkeit von Produkten und Kreislaufwirtschaft zum Standard werden. Degrowth bedingt zugleich einen gezielten Ausbau sozial-ökologischer Infrastrukturen (z. B. erneuerbare Energien, öffentlicher Verkehr & Daseinsvorsorge), die eine gerechte und klimafreundliche Versorgung für alle ermöglichen [3].
Transformation als komplexe Herausforderung
Der Umbau zu einer Postwachstums-Wirtschaft benötigt eine breite gesellschaftliche Debatte, da diese Transformation mit Konflikten und Widersprüchen konfrontiert ist. So sind z. B. unsere sozialen Sicherungssysteme und unser Wohlstand aktuell von Wirtschaftswachstum abhängig. Die Erhöhung des Lebensstandards in Ländern wie Österreich im 20. Jhd. ging stets mit Steigerungen materiellen Besitzes einher [4]. Aus dieser Perspektive wird Wachstum als gesellschaftlich positiv gewertet, während negative Wachstumsraten mit Wohlstandsverlusten gleichgesetzt werden.
Degrowth vs. Rezession
Mit Degrowth ist keine wirtschaftliche Rezession gemeint, sondern ein Paradigmenwechsel hin zu einer Wirtschaft und Gesellschaft, die auch ohne ökonomisches Wachstum florieren können. Das zentrale Stichwort ist: “change by design, not by disaster” [4]. Dabei stellen sich Fragen von Verteilungsgerechtigkeit, Machtverhältnissen und der Rolle von Institutionen. Degrowth will einerseits die ökologische Notwendigkeit des Wandels und andererseits die möglichen Schritte zu einer Postwachstumsökonomie in ihrer Vielfalt, Widersprüchlichkeit und Komplexität darstellen.
Hauptaussagen
- Degrowth bezeichnet eine ökonomische Strömung bzw. eine Bewegung für eine Transformation unserer Wirtschafts- und Lebensweisen im Sinne der Klima- und Biodiversitätsziele.
- Ziele von Degrowth sind u. a. eine gerechtere Verteilung von Wohlstand und die Schonung von Ressourcen, um ein gutes Leben für alle innerhalb planetarer Grenzen zu ermöglichen.
- Degrowth ist primär als Konzept für den Globalen Norden zu sehen, um eine nachhaltigere Zukunftsperspektive für Länder wie Österreich zu entwickeln.
Historische Verantwortung des Globalen Nordens
Die Länder des Globalen Nordens, u. a. Europa, USA, Kanada, Australien und Japan, haben durch ihre frühe Industrialisierung historisch am stärksten zur Erderhitzung beigetragen und zugleich am meisten von den materiellen und technischen Fortschritten profitiert – nicht zuletzt durch die Kolonialisierung und Ausbeutung anderer Kulturen und Ökosysteme, insbesondere im Globalen Süden. Degrowth ist daher vorrangig als Konzept für den Globalen Norden zu sehen, um die ökonomische Aktivität der reichsten Länder auf ein global faires Maß innerhalb der ökologischen Belastungsgrenzen zu senken. Ein gezielter Umbau der Wirtschaft soll Ländern des Globalen Südens ermöglichen, ihren Lebensstandard ohne Wachstumsdruck klimaschonend und sozial gerecht zu heben, Stichwort „ein gutes Leben für alle“ [5],[6].
Ressourcenverbrauch in Österreich als Gerechtigkeitsfrage
Österreich liegt heute mit jährlichen CO2-Emissionen pro Kopf von 8,3 Tonnen (für das Jahr 2020) [7] über dem globalen Durchschnitt von 6,7 Tonnen CO2-Emissionen pro Kopf und Jahr [8]. Laut dem Global Footprint Network verbraucht Österreich jährlich die natürlichen Ressourcen der Erde in einem Ausmaß, als stünden uns 3,8 Planeten zur Verfügung [9]. Zugleich besteht innerhalb des Landes ein Gerechtigkeits-Gefälle: Die reichsten 10% der Bevölkerung emittierten im Jahr 2019 durchschnittlich 42 Tonnen CO2-Äquivalente [10]. Degrowth zielt auf eine Schrumpfung des Material- und Energiemetabolismus [11] sowie eine sozial gerechte Umverteilung materiellen Wohlstands auch innerhalb von Staaten ab.
„Grünes Wachstum“ durch Entkopplung?
Bisherige Strategien setzen vorwiegend auf Effizienz, um Treibhausgas-(THG)-Emissionen und Wirtschaftswachstum zu entkoppeln [12]. Meta-Studien zeigen jedoch: Die benötigte Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch bzw. THG-Emissionen kann aktuell nicht ansatzweise erzielt werden [13]. Mit wachstumsorientierten Strategien würden Länder wie Österreich im Schnitt 220 Jahre benötigen, um ihre Emissionen um 95% zu reduzieren [14] – statt wie geplant bis zum Jahr 2040. Sogenanntes „grünes Wachstum“, mit dem Klimaziele eingehalten werden können, bleibt unerreicht.

BIP-Problematik und alternative Wohlstandsindikatoren
Schon die Vorstellung von „Wachstum“, die durch das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als zentrale Maßzahl repräsentiert wird, ist irreführend und reformbedürftig. Das BIP verbucht Schäden und Verluste für Menschen und Natur als wachstumsfördernd, wenn dafür Kosten anfallen. Wenn Wiesen, Felder und Wälder für klimaschädliche Infrastruktur versiegelt werden, dann trägt das zum BIP-Wachstum bei und vermittelt eine falsche Vorstellung von „Fortschritt“. Wirksame Klimaschutz-Maßnahmen ohne eine finanzielle Transaktion werden hingegen nicht erfasst.
Alternative Wohlstandsindikatoren, wie der Genuine Progress Indicator (GPI), der Nationale Wohlfahrtsindex (NWI) oder auch der Happy Planet Index (HPI) sollten verstärkt in Entscheidungsprozessen herangezogen werden [15].
Konkrete Maßnahmen und Ansätze von Degrowth
Auf politisch-ökonomischer Ebene sieht Degrowth z. B. Folgendes vor: Umbau von Finanzinstitutionen, Arbeitszeitverkürzung [5], demokratische Unternehmensformen, Einkommensobergrenzen, progressive Besteuerung von Reichtum, Erbe und Materialverbrauch, bedingungsloses Grundeinkommen bzw. staatliche Grundversorgung, Priorisierung von Bildung, Pflege, Nachhaltigkeit und Gesundheit. Auf gesellschaftlich-kultureller Ebene forciert Degrowth: Achtsamkeit, Solidarität und Kooperation als Basis für eine neue Wirtschaftsordnung [1], Überwindung patriarchaler, sexistischer und rassistischer Strukturen, Schaffung von nicht-hierarchischen Kulturen der Partnerschaft und Verbundenheit mit allen Lebewesen.
Quelle: CCCA Factsheet #49 2024, CCBY-NC-SA
Titelbild: danyonited, Klimagerechtigkeit Leipzig, via Wikimedia, CC BY-SA
Referenzen
[1] degrowth.info/de/degrowth-de.
[2] Deutsche IPCC-Koordinierungsstelle (2018): Sonderbericht 1,5 °C globale Erwärmung (SR1.5). www.deipcc.de/256.php.
[3] Barlow, N., et al. (2022). Degrowth & Strategy. How to bring about social-ecological transformation. Mayfly Books. mayflybooks.org/degrowth-strategy/. [
4] Haderer, M., et al. (2022): Perspektiven zur Analyse und Gestaltung von Strukturen klimafreundlichen Lebens. In: APCC Special Report: Strukturen für ein klimafreundliches Leben (APCC SR Klimafreundliches Leben). Springer Spektrum: Berlin/Heidelberg. link.springer.com/content/pdf/10.1007/978-3-662-66497-1 32?pdf=chapter%20toc .
[5] Kreinin, H., Aigner, E. (2021). From “Decent work and economic growth” to “Sustainable work and economic degrowth”: a new framework for SDG 8. Empirica (2022) 49:281–311. doi.org/10.1007/s10663-021-09526-5.
[6] D’Alisa, G., et al. (2015). Degrowth. A Vocabulary for a New Era. Routledge. www.routledge.com/Degrowth-A-Vocabulary-for-a-New-Era/DAlisa-Demaria-Kallis/p/book/9781138000773.[7] https://de.statista.com/ statistik/daten/studie/962397/umfrage/treibhausgasemissionen-pro-kopf-in-oesterreich/.
[8] klimadashboard.at/emissionen.
[9] www.overshootday.org/newsroom/country-overshoot-days/dates/ .
[10] Essletzbichler, J., et al. (2023). Kapitel 17. Soziale und räumliche Ungleichheit. In: APCC Special Report: Strukturen für ein klimafreundliches Leben (APCC SR Klimafreundliches Leben). Springer Spektrum: Berlin/Heidelberg. ssrn.com/abstract=4225615.
[11] Kallis, G., et al. (2018). Reserach On Degrowth. Annual Review of Environment and Resources Volume 43:291-316, 2018. doi.org/10.1146/annurev-environ-102017-025941 .
[12] APCC Special Report: Strukturen für ein klimafreundliches Leben (APCC SR Klimafreundliches Leben) [Görg, C., Madner, V., Muhar, A., Novy, A., Posch, A., Steininger, K. W., Aigner, E. (Hrsg.)]. Springer Spektrum: Berlin/Heidelberg. klimafreundlichesleben.apcc-sr.ccca.ac.at/wp-content/uploads/2023/04/ APCC2023 KapitelI ZusammenfassungFuerEntscheidungstragende.pdf.
[13] Parrique T., et al. (2019). Decoupling Debunked: Evidence and arguments against green growth as a sole strategy for sustainability. European Environmental Bureau. eeb.org/library/decoupling-debunked/.
[14] Vogel, J. & Hickel, J. (2023). Is green growth happening? An empirical analysis of achieved versus Paris-compliant CO2-GDP decoupling in high-income countries. The Lancet Planetary Health, Vol. 7, Issue 9. doi.org/10.1016/S2542-5196(23)00174-2.
[15] Rocklage, M., (2015). Indikatorensystem für Nachhaltigkeit. In: FHM Jahresmotto 2014/15: Values for Future. [Dreier, A., Merk, R., Seel, B. (Hrsg.)]. Schriftenreihe der FHM, Bielefeld (Heft 6). www.fh-mittelstand.com/fileadmin/fhm-corporate/fe/publikationen/heft6 web.pdf#page=79.
[16] Duprez and Litchfield, 2022. Network for Business Sustainability. nbs.net/degrowth-can-support-business-sustainability/
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