Verkehr wird 2030 fast die Hälfte der europäischen Treibhausgas-Emissionen verursachen

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Zu diesem Schluss kommt die jüngste Analyse von Transport & Environment (T&E), die Dachorganisation von nichtstaatlichen europäischen Organisationen, die sich für einen nachhaltigen Verkehr einsetzen. Die europäischen Verkehrsemissionen sind seit 1990 um mehr als ein Viertel gestiegen, und die T&E-Analyse zum Stand des europäischen Verkehrs kommt zu dem Ergebnis, dass die Emissionen in der gesamten Wirtschaft zwar bereits rückläufig sind, die Verkehrsemissionen jedoch weiter steigen. Europa muss beginnen, sein Verkehrsemissionsproblem ernst zu nehmen, wenn es im Jahr 2050 Netto-Null erreichen will, sagt T&E.

Dekarbonisierung des Verkehrs dreimal so langsam wie im Rest der Wirtschaft

Seit dem Höhepunkt der Emissionen aus Mobilität im Jahr 2007 verlief die Dekarbonisierung des Verkehrs mehr als dreimal langsamer als im Rest der Wirtschaft. Im Rahmen der aktuellen Klimapolitik könnte sein Anteil bis 2030 44 % aller Treibhausgasemissionen erreichen, gegenüber 29 % heute. Die Verkehrsemissionen in der EU betragen inzwischen mehr als 1000 Megatonnen CO2-Äquivalente.

Autos, die Benzin und Diesel verbrennen, sind mit einem Anteil von mehr als 40 % die größte Quelle der verkehrsbedingten Emissionen. Die Abhängigkeit vom Auto hat seit den 1990er Jahren zugenommen, was durch den Autobahnbau und eine wachsende Fahrzeugflotte ermöglicht wurde. Erst seit Kurzem ist eine Reduzierung der durchschnittlichen Autoemissionen zu beobachten, da eine Welle von Elektrofahrzeugen auf den Markt kommt.

Die Emissionen des Luftverkehrs haben sich in den letzten 30 Jahren verdoppelt – schneller als in jedem anderen Verkehrssektor. Die zusätzliche Belastung durch Kondensstreifen verdreifacht möglicherweise die Klimaauswirkungen des Fliegens.

EU-Klimavorschriften sind nicht ausreichend

Die EU-Klimavorschriften werden die Verkehrsemissionen bis zum Jahr 2040 nur um 25 % gegenüber 1990 senken und bis zum Jahr 2050 um 62 %. Autos, Lieferwagen und Lastwagen, die bis zur Mitte der 2030er Jahre gekauft werden, werden noch viele Jahre lang auf europäischen Straßen unterwegs sein und dabei Benzin und Diesel verbrennen. Schifffahrtsbetreiber haben wenig Anreiz, ihre betriebliche Effizienz zu steigern, und die durch die Erhöhung der Flughafenkapazität angekurbelte Nachfrage nach Flügen macht alle Gewinne aus der Einführung umweltfreundlicher Treibstoffe in diesem Jahrzehnt zunichte.

Ausbau von Flughäfen und Autobahnen stoppen

Um die Menge an erneuerbaren Energien, die für die Dekarbonisierung des Sektors erforderlich sind, zu reduzieren, muss die ständig wachsende Nachfrage nach Verkehrsmitteln gestoppt werden. Und das bedeutet, dass der Bau von Autobahnen und der Ausbau der Flughafenkapazitäten beendet werden muss.

Ehrgeizige und verbindliche Ziele für den Anteil an Elektrofahrzeuge für Unternehmen mit großen Fahrzeugflotten sind ein wesentlicher Schlüssel zur Beschleunigung des Übergangs zur Nullemission. Das könnte bis 2040 Einsparungen von 213 Mio. t CO2-Äquivalente bringen.

Die Erschließung von Effizienzsteigerungen im Schifffahrtssektor könnte zusätzliche 93 Mio. t CO2-Äquivalenteeinsparen.

Direkte Elektrifizierung ist effizienter als Wasserstoff und E-Fuels

Die direkte Elektrifizierung des Straßenverkehrs ist mehr als zweimal effizienter als Wasserstoffantrieb und viermal effizienter als die Verwendung von E-Fuels. Europa kann es sich nicht leisten, erneuerbare Elektrizität zu verschwenden.

Vorläufige Daten zeigen, dass die Emissionen im Straßenverkehr im vergangenen Jahr um 8 Mio. t CO2-Äquivalente und im Schiffsverkehr um 5 Mio. t CO2-Äquivalente zurückgegangen sind. Diese Reduzierung wurde durch das Wachstum der Luftfahrtemissionen zunichte gemacht, die um 15 Mio. t CO2-Äquivalente anstiegen.

Titelfoto: Dieter Heinrich via flickr, CC BY-ND

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Anderes Klima, andere Arten: Wie die Klimakrise sich auf biologische Invasionen auswirkt
von Anja Marie Westram

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Was haben Waschbär, Götterbaum und Roter Amerikanischer Sumpfkrebs gemeinsam? Sie alle sind in Österreich invasive gebietsfremde Arten – vom Menschen eingeführte Arten, die der Natur Schaden zufügen. Und damit oft genug auch uns Menschen.

Das Auftreten neuer Tier- oder Pflanzenarten klingt vielleicht zunächst nicht weiter bedrohlich. Tatsächlich macht die Mehrheit eingeführter Arten wenig Probleme. Die weltweit mehr als 3500 invasiven Arten allerdings verändern Boden, Gewässer und Ökosysteme, verdrängen heimische Arten oder übertragen Krankheiten. In österreichischen Süßgewässern breiten sich beispielsweise eine Reihe invasiver amerikanischer Krebsarten (Roter Amerikanischer Sumpfkrebs, Signalkrebs, Marmorkrebs) aus. Sie übertragen die Krebspest, die ihnen selbst wenig anhaben kann, einheimische Krebse dagegen stark dezimiert. Ein anderes Beispiel sind Waschbären, deren Vorfahren vor Jahrzehnten aus Pelztierfarmen entkamen und die nun österreichweit vorkommen. Sie ernähren sich unter anderem von lokalen Tierarten, von Amphibien bis hin zu Vögeln, und können für deren Populationen problematisch werden; zudem richten sie Schäden an Gebäuden an.

Insgesamt sind die Auswirkungen invasiver Arten enorm, wie ein kürzlich publizierter Bericht des Weltbiodiversitätsrates IPBES betont: Sie spielen beispielsweise weltweit bei geschätzt 60% der Aussterbeereignisse eine Rolle; bei 16% sind sie sogar der alleinige Auslöser1. Sie zählen zu den fünf Hauptursachen der Biodiversitätskrise (genau wie übrigens der menschengemachte Klimawandel). Die global durch invasive Arten entstehenden jährlichen Kosten werden auf 423 Milliarden US-Dollar geschätzt1. Den Menschen in Österreich schaden invasive Arten als Landwirtschafts- oder Forstschädlinge (wie der Maiswurzelbohrer, ein maiszerstörender Käfer), Krankheitsüberträger (wie die Tigermücken), Allergieauslöser (wie die Beifuß-Ambrosie) oder unerwünschte Mitbewohner (wie der Waschbär).

Invasive Arten nehmen zu

Wie kommt es, dass wir Menschen diese Arten verbreiten? In der Vergangenheit geschah das oft mit Absicht. Seit dem 15. oder 16. Jahrhundert brachten „Entdeckungsreisende“ exotische Pflanzen aus ästhetischen Gründen nach Europa, die sich dann unter Umständen in die Natur ausbreiteten (auch heute noch stammen viele invasive Pflanzen aus dem gärtnerischen Bereich). Umgekehrt bildeten sich in Kolonien wie Australien „Akklimatisationsgesellschaften“ – Gruppen von Europäern, die die dortige Natur durch Einführung von Arten aus ihrer Heimat „verbessern“ wollten. Heute wird ein Großteil der neuen Arten unbeabsichtigt mit Waren in neue Gebiete transportiert, z.B. per Schiff. Auf Holzgütern, Getreide oder Gemüse können Insekten oder Pflanzensamen leicht unbemerkt mitreisen. Und da globale Vernetzung und Handel immer weiter zunehmen, steigt auch die Zahl der invasiven Arten rasant1.

Die Einführung potenziell invasiver Arten ist aber nur der erste Schritt. Für eine echte Invasion müssen sie sich im neuen Gebiet etablieren und ausbreiten. Wie invasive Arten dies in einem ihnen fremden Ökosystem überhaupt schaffen, ist nicht immer klar. Ein Grund kann sein, dass sie dort oft von Fressfeinden und Krankheitserregern befreit sind, durch die sie in ihrem Herkunftsgebiet in Schach gehalten werden. Das verschafft ihnen Vorteile gegenüber heimischen Arten.

Was haben invasive Arten mit der Klimakrise zu tun?

Ob sich eine neue Art ausbreiten kann, hängt aber auch entscheidend vom lokalen Klima ab. Eine aus den Tropen kommende Art wird sich in der Arktis meist nicht wohlfühlen. Wir verändern das Klima – wie wirkt sich das auf invasive Arten aus? Um diese Frage zu beantworten, analysieren Forschende bereits erfolgte Invasionen und treffen Vorhersagen für die Zukunft. Ein wichtiges Instrument dazu sind Verbreitungsmodelle. Sie kombinieren Informationen über die Umweltbedingungen (z.B. Temperatur und Niederschlag), an die eine Art angepasst ist, mit zukünftigen Klimaszenarien (z.B. denen des Weltklimarates IPCC). So kann prognostiziert werden, in welche Gebiete sich die Art möglicherweise in Zukunft ausbreiten kann.

Der Bericht des Weltbiodiversitätsrates2 fasst die Ergebnisse solcher und weiterer Studien zusammen und zeigt: Klimaveränderungen beeinflussen Ausbreitung und Auswirkungen invasiver Arten deutlich, und das oftmals zugunsten der invasiven Arten und auf Kosten heimischer Arten und des Menschen. Wie genau können diese Effekte aussehen?

  1. Invasive Arten breiten sich aus. Invasive Arten werden oft durch kalte Winter aufgehalten. Gerade viele Insekten kommen mit Frostperioden schlecht zurecht. Selbst wenn sie in wärmeren Jahreszeiten ein neues Gebiet besiedeln können, sterben sie im Winter wieder aus. Das kann sich durch den Klimawandel ändern: Höhere Temperaturen ermöglichen es vielen invasiven Arten, sich polwärts und / oder in die Höhe auszubreiten3. So nehmen in Europa mit zunehmenden Wintertemperaturen beispielsweise invasive Schädlingsinsekten zu4. Dazu kommt, dass einige gebietsfremde Arten momentan noch an menschliche Strukturen wie Wohngebäude, Gewächshäuser oder Städte gebunden sind, in denen für sie angenehme Temperaturen herrschen. Diese Arten sind „Schläfer“ – steigen die Durchschnittstemperaturen, breiten sie sich in die Natur aus2. Neben der Temperatur können auch andere Aspekte des Klimawandels invasive Arten begünstigen; einige Arten profitieren sogar von Stürmen oder Waldbränden2.
  2. Heimische Arten ziehen den Kürzeren. Die Klimakrise stresst heimische Arten, die oft nicht an die veränderten Bedingungen angepasst sind. So haben invasive Arten weniger Konkurrenz. Letztere sind oft bereits aus ihrem Ursprungsgebiet an höhere Temperaturen gewöhnt. Das trifft z.B. auf einige der oben erwähnten in Österreich invasiven Krebsarten zu, die somit neben der Resistenz gegen die Krebspest einen weiteren Vorteil gegenüber heimischen Arten haben5. Es wird außerdem vermutet, dass invasive Arten generell besonders anpassungs- und verbreitungsfähig sein könnten und dadurch besser auf Umweltveränderungen reagieren können6. So wurde z.B. gezeigt, dass sich invasive Pflanzenarten in den wärmer werdenden Alpen doppelt so schnell in die Höhe ausbreiten wie heimische Arten7.
  3. Negative Auswirkungen auf den Menschen nehmen zu. Einige invasive Arten, die sich durch Klimaveränderungen weiter ausbreiten, haben gesundheitliche Auswirkungen. Die Beifuß-Ambrosie (Ragweed) ist ein starker Allergieauslöser. Mit ihrer Ausbreitung in Europa wird wohl auch die Zahl allergischer Menschen deutlich zunehmen8, denn eine Allergie wird bei wiederholtem Kontakt mit den Pollen wahrscheinlicher. Die Klimakrise begünstigt zudem viele invasive Arten, die Krankheiten übertragen können. Zwei invasive Mückenarten, die Asiatische Tigermücke und die Gelbfiebermücke, können z.B. Zika-Virus und Chikungunya-Virus übertragen. Beide Mückenarten mögen es warm. Modelle sagen voraus, dass sich die Bedingungen für die aus Afrika stammende Gelbfiebermücke in vielen Teilen der Erde verbessern werden, auch in Südeuropa9. Die Asiatische Tigermücke hat sich bereits jetzt bis nach Österreich ausgebreitet10. Momentan spielt sie hier glücklicherweise als Krankheitsüberträger keine große Rolle; dies kann sich jedoch in Zukunft leicht ändern.
  4. Invasive Arten profitieren nicht immer und überall. Während invasive Arten in den gemäßigten Zonen wahrscheinlich zunehmen werden, können sich die Bedingungen für einige Arten in den Tropen verschlechtern, z.B. durch zu extreme Hitze4. Neben der Temperatur bestimmen weitere Faktoren wie die Niederschlagsmengen, wo eine Art leben kann – so kann eine Zunahme von Dürreperioden zu einer Abnahme invasiver Arten führen2. Viele Aspekte der Klimakrise, wie z.B. die Zunahme von Extremereignissen, haben komplexe, noch nicht ausreichend untersuchte Auswirkungen2.

Was können wir tun?

Die Bekämpfung invasiver Arten ist nicht einfach. Zum einen stellt sie bei Tieren ein ethisches Problem dar. Das großangelegte Töten invasiver Säugetiere wie Ratten oder Katzen in Australien wirkt auf viele Menschen drastisch. Zum anderen ist die Zurückdrängung invasiver Arten aufwendig und kostenintensiv. Zwar sind Ausrottungsversuche durchaus oft erfolgreich, vor allem, wenn das besiedelte Gebiet relativ begrenzt war. Aber nicht alle Arten lassen sich aufhalten – viele Pflanzen bilden jahrelang keimfähige Samen, die man kaum alle einsammeln kann, und Gewässerorganismen sind schwer kontrollierbar. Aus diesen Gründen gilt: Prävention ist besser als Bekämpfung. Maßnahmen, die früh ansetzen, sind z.B. Import- und Grenzkontrollen sowie die Überwachung von Ökosystemen, damit neue invasive Arten so schnell wie möglich entdeckt werden1.

Da das Problem invasiver Arten eng mit internationalem Handel und Transport zusammenhängt, kann es nicht allein lokal gelöst werden. Weltweite Abkommen erkennen invasive Arten inzwischen als kritisches Problem an. Im Dezember 2022 beschloss die internationale Staatengemeinschaft im Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework, die Einführung und Etablierung invasiver Arten bis zum Jahr 2030 um mindestens 50% zu reduzieren. Für die EU gibt es bereits seit Jahren eine Liste invasiver Arten, die nicht eingeführt, gehandelt oder freigesetzt werden dürfen. Trotzdem sind sich WissenschaftlerInnen einig, dass noch viel zu tun ist1. So haben die meisten Länder zwar Ziele festgelegt, setzen diese aber größtenteils nicht durch konkrete Bestimmungen um.

Obwohl invasive Arten und die Biodiversitätskrise insgesamt – genau wie die Klimakrise – globale Herausforderungen sind, die politisch angegangen werden müssen, können wir auch im Kleinen einen Beitrag leisten. Das Wichtigste: Versuchen, nicht selbst zum Problem beizutragen. Dazu gehört, keine Gartenabfälle in der Natur zu entsorgen, im Garten möglichst heimische Arten anzupflanzen, und keine exotischen Tiere zu kaufen und dann freizusetzen (was unsere LeserInnen hoffentlich sowieso nie tun würden).

Wer mit unterschiedlichen Süßgewässern in Kontakt kommt, z.B. AnglerInnen, TaucherInnen und BenutzerInnen von Freizeitbooten, sollte besonders vorsichtig sein und vor jedem „Gewässerwechsel“ das Material reinigen. Zwei der bedeutendsten invasiven Arten sind die Zebramuschel und ihre Verwandte, die Quaggamuschel. Diese setzen sich an Booten fest und können, falls ein Boot in ein anderes Gewässer transportiert wird, dort wieder freigesetzt werden. Einmal in einem Gewässer etabliert, bilden diese Muscheln Massenvorkommen, verändern das Nahrungsnetz und besetzen Boote, Stege und Rohre großflächig. Die Verbreitung dieser Muschelarten kann durch Reinigung der Boote verhindert werden11.

Auch zur Früherkennung invasiver Arten kann man beitragen. Auf Plattformen wie iNaturalist (www.inaturalist.org) können Fotos von Tieren, Pflanzen und Pilzen – ob invasiv oder nicht – mit Fundort hochgeladen werden; die App unterstützt dann bei der Artbestimmung. So entstehen riesige Datensätze, die automatisch auch Daten zu Vorkommen und Ausbreitung invasiver Arten beinhalten. Gezielter gehen Citizen Science-Projekte vor, bei denen BürgerInnen aufgefordert werden, Daten zu bestimmten Artengruppen zu sammeln. Über die App „Mosquito Alert“ (www.mosquitoalert.com) können Fotos mutmaßlich invasiver Mücken eingereicht werden, die dann von ExpertInnen begutachtet werden. So wird die Ausbreitung der Mückenarten in Echtzeit verfolgt.

Wer mehr Zeit hat, kann an Aktionen lokaler Naturschutzgruppen teilnehmen. Manchmal suchen diese HelferInnen für das Entfernen von Pflanzen wie Goldrute oder Drüsiges Springkraut, die dichte Bestände bilden und heimische Arten verdrängen. Zumindest lokal tragen solche Maßnahmen zur Eindämmung der invasiven Pflanzen und zum Schutz des Ökosystems bei.

Zu guter Letzt: Ein Bewusstsein in der Bevölkerung ist wichtig, damit politischer Handlungsdruck entsteht und die Einführung und Ausbreitung invasiver Arten verhindert werden kann1. Und so kann man bereits durch Ansprechen des Themas einen Beitrag leisten.

Literatur

1.           Roy, H. E. et al. IPBES Invasive Alien Species Assessment: Summary for Policymakers. (2023).

2.           Hulme, P. E. et al. IPBES Invasive Alien Species Assessment: Chapter 3. Drivers Affecting Biological Invasions. (2024).

3.           Grünig, M., Calanca, P., Mazzi, D. & Pellissier, L. Inflection point in climatic suitability of insect pest species in Europe suggests non-linear responses to climate change. Global Change Biology 26, 6338–6349 (2020).

4.           Bellard, C. et al. Will climate change promote future invasions? Global Change Biology 19, 3740–3748 (2013).

5.           Capinha, C., Larson, E. R., Tricarico, E., Olden, J. D. & Gherardi, F. Effects of climate change, invasive species, and disease on the distribution of native European crayfishes. Conservation Biology 27, 731–740 (2013).

6.           Davidson, A. M., Jennions, M. & Nicotra, A. B. Do invasive species show higher phenotypic plasticity than native species and, if so, is it adaptive? A meta-analysis. Ecology Letters 14, 419–431 (2011).

7.           Dainese, M. et al. Human disturbance and upward expansion of plants in a warming climate. Nature Clim Change 7, 577–580 (2017).

8.           Lake, I. R. et al. Climate change and future pollen allergy in Europe. Environmental Health Perspectives 125, 385–391 (2017).

9.           Iwamura, T., Guzman-Holst, A. & Murray, K. A. Accelerating invasion potential of disease vector Aedes aegypti under climate change. Nat Commun 11, 2130 (2020).

10.         Reichl, J. et al. A citizen science report—Tiger mosquitoes (Aedes albopictus) in allotment gardens in Graz, Styria, Austria. Parasitol Res 123, 79 (2023).

11.         De Ventura, L., Weissert, N., Tobias, R., Kopp, K. & Jokela, J. Overland transport of recreational boats as a spreading vector of zebra mussel Dreissena polymorpha. Biol Invasions 18, 1451–1466 (2016).

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Niemand soll immer mehr haben wollen müssen!
Suffizienz als Nachhaltigkeitsstrategie
von Martin Auer

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Unsere westliche Gesellschaft wird als „Konsumgesellschaft“ bezeichnet, auch als „Wachstumsgesellschaft“. Auf einem endlichen Planeten ist aber unendliches Wachstum nicht möglich, und auch nicht unendlich steigender Konsum, selbst wenn die konsumierten Güter immer effizienter hergestellt werden. Eine nachhaltige Entwicklung ohne Suffizienz – auf Deutsch: „Genügsamkeit“ – wird es nicht geben. Doch was genau ist das? Askese? Verzicht auf Wohlstand? Oder eine andere Art von Wohlstand?

„Suffizienz bedeutet, wenige Dinge intensiv zu genießen, statt sich mit so vielen Dingen zu umgeben, dass kein Genuss mehr möglich ist.“, schreibt der Ökonom Niko Paech1. Wörtlich bedeutet es: ausreichend versorgt sein, genug haben. Worum es dabei geht, ist, die vorhandenen Ressourcen so zu nutzen, dass sie sich wieder regenerieren können. Logisch ist leicht einzusehen, dass es gar nicht anders geht.

Dennoch steigern wir im Westen unseren Konsum von Jahr zu Jahr, und das meiste von dem, was uns die Technologie durch höhere Effizienz an Ressourcen einspart, wird von diesem steigenden Konsum wieder aufgefressen.

Ein durchschnittlicher PKW verbrauchte 1995 noch 9,1 Liter Kraftstoff auf 100 km und insgesamt verbrauchten deutsche PKW in diesem Jahr 47 Mrd. Liter. 2019 betrug der Durchschnittsverbrauch 7,7 Liter, doch der Gesamtverbrauch betrug immer noch 47 Mrd. Liter2.

1990 betrug die durchschnittliche Motorleistung von neu zugelassenen PKW in Deutschland 95 PS, 2020 aber 160 PS3.

2001 legten die Deutschen in ihren PKWs 575 Millionen km zurück, 2019 bereits 645 Millionen km. Diese Steigerung geht auf die größere Anzahl von PKW pro 1000 Einwohner:innen zurück4.

Der technische Fortschritt führte also nur dazu, dass Autos leistbarer, schneller und schwerer werden konnten, aber nicht zu einem geringeren Energieverbrauch.

Um die schlimmsten Folgen des Klimawandels zu vermeiden, müssen wir die durchschnittlichen globalen Treibhausgasemissionen von 6,8 Tonnen pro Kopf und Jahr (davon 4,2 Tonnen CO2)5 auf unter eine Tonne6 drücken. Und zwar schnell, nämlich bis zur Mitte des Jahrhunderts. Für Österreich liegt der Ausgangspunkt bei 13,8 Tonnen konsumbasierter Emissionen7. Die sind ungleich verteilt: Die obersten 10 % der Bevölkerung verursachen vier Mal so viele Emissionen wie die untersten 10 Prozent8. Die Aufgabe, die vor uns steht, ist also riesig. Um sie zu bewältigen, brauchen wir den technischen Fortschritt: erneuerbare Energien, Steigerung der Energie- und Ressourceneffizienz auf allen Gebieten. Dazu naturbasierte Lösungen wie die Wiederherstellung von natürlichen Landschaften, die viel mehr CO2 aufnehmen können als reine Baumpflanzungen. Aber das alles wird uns nicht schnell genug ans Ziel bringen, wenn wir nicht die Erzeugung – und damit den Verbrauch – von materiellen Gütern einschränken. Die größten Einsparungsmöglichkeiten gibt es bei Mobilität, Ernährung und Bauen und Wohnen. An der Suffizienz führt kein Weg vorbei. Die Autos auf den Straßen müssen weniger werden. Statt allein in einem 1,5 Tonnen schweren Auto zu sitzen, müssen wir uns einen Bus, eine Straßenbahn, einen Eisenbahnzug mit anderen teilen. Die grausame Massentierhaltung muss verschwinden, und damit auch das Billigfleisch im Supermarkt. Gleichzeitig braucht es massive Umverteilungsmaßnahmen, denn es kann nicht sein, dass die einen Biofleisch schlemmen, während andere sich nicht einmal am Sonntag ihr Schnitzel oder ihre Lammkoteletts leisten können.

Barrieren für Suffizienz

Die Notwendigkeit, nicht mehr zu verbrauchen als was nachwächst, ist leicht zu verstehen, doch diese Einsicht umzusetzen ist schwer. Warum ist das so? Warum ist es so schwer „genug“ zu sagen? Der Soziologe Oliver Stengel nennt fünf Barrieren, die einem suffizienten Verhalten entgegenstehen9:

Weniger Fleisch zu essen, beispielsweise, spart zwar Geld, hat aber andere Kosten: Gewohnheiten zu ändern erfordert Anstrengung. Man muss über seine Handlungen ständig nachdenken. Man muss wieder kochen lernen, man muss seinen Weg durch den Supermarkt ändern oder überhaupt woanders einkaufen, und vieles mehr.

Die zweite Barriere ist kulturell: Gesteigerter Konsum steht für Erfolg, man zeigt, dass man es sich leisten kann. Einschränkung steht für Askese, Rückschritt, Not. Besonders das eigene Haus und das große, schnelle Auto sind Statussymbole. Der Führerschein gehört zur Bildung wie der Schulabschluss, er ist das Symbol für Erwachsensein. Wer ständig geschäftlich herumfliegt, muss wohl eine wichtige Person sein, wer seinen Urlaub statt auf den Malediven im Gänsehäufel verbringt, ist ein armer Schlucker. Aber wenn du wirklich zur Elite gehören willst, musst du nach Bora Bora. Auch beim Essen geht es um Status, aber auch um Geschlechterrollen: Ein richtiger Mann grillt Fleisch im Garten und haut sich zwei Zentimeter dicke Steaks rein.

Die dritte Barriere ist: Wir orientieren uns am Verhalten anderer. Wir tun das, was „normal“ ist. Wir wollen keine Außenseiter sein, nicht als Spinner gelten. Aber die Spinner von gestern werden manchmal zu Vorreitern neuer Trends: Veganer:innen sind immer noch eine verschwindende Minderheit – in Österreich 2% der Erwachsenen. Aber jeder Supermarkt hat heute ein veganes Angebot.

Viertens neigen Menschen dazu, ihre Verantwortung abzugeben: Ich als Einzelner kann nichts tun, das muss „die Politik“ machen. „Die Politik“ wiederum macht die Wählerschaft verantwortlich. Und die Unternehmen machen die Kund:innen verantwortlich: Ihr kauft das, also produzieren wir es.

Konsum erhält das System

Fünftens aber gibt es systemische Gründe für den ständig steigenden Konsum. Unternehmen, die der marktwirtschaftlichen Konkurrenz ausgesetzt sind, müssen ständig die Arbeitsproduktivität erhöhen um nicht überholt zu werden. Daraus resultiert entweder ein Verlust von Arbeitsplätzen bei gleichbleibender Produktion, oder eine gesteigerte Produktion mit derselben Anzahl von Arbeitsplätzen. Und wenn der Markt gesättigt ist, wenn eh schon alle einen Fernseher haben, eine Waschmaschine, ein Handy, dann müssen die Bildschirme immer größer werden, die Waschmaschinen eine Hintertür haben, wo man noch während des Waschgangs Wäsche hineinstopfen kann, die Handys immer mehr Speicherplatz, leistungsfähigere Kameras usw. haben, damit man trotzdem noch etwas verkaufen kann. Das neue Modell lässt das vorhergehende veralten, entwertet es. Das hat denselben Effekt wie die Sollbruchstelle, die idealerweise am Tag nach Ablauf der Garantie das Gerät unbrauchbar macht.

Zu den ökonomischen kommen aber auch noch politische Barrieren. Wenn eine ganze Gesellschaft tatsächlich suffizient leben würde, würde das die „Politik“ vor immense Aufgaben stellen: Wenn der Konsum zurückgeht, bauen die Unternehmen Arbeitsplätze ab, verliert der Staat Steuereinnahmen, gerät das Pensionssystem in Schwierigkeiten und so weiter. Die „Politik“ will solche Schwierigkeiten möglichst vermeiden. Deshalb propagiert sie, je nach ideologischer Einstellung, „Klimaschutz mit Augenmaß“ oder „grünes Wachstum“, anstatt den Umbau des Systems ernsthaft in die Hand zu nehmen.

Das System der Marktwirtschaft und die zugehörige Politik drängen uns den Konsum auf. Von diesem Zwang heißt es sich zu befreien. Daher der Titel dieses Beitrags, der aus einem Aufsatz von Uta von Winterfeld stammt: Niemand soll immer mehr haben wollen müssen. Nach Winterfeld geht es um das Recht auf Suffizienz, nicht um die Pflicht dazu10.

Keine Angst ums Wohlbefinden

Das Ziel von Suffizienz ist nicht, auf Wohlbefinden zu verzichten. Misst man Wohlbefinden an der durchschnittlichen Lebenserwartung und den Konsum an den konsumbasierten Treibhausgas-Emissionen, dann sieht man zum Beispiel: US-Amerikaner:innen verursachen im Durchschnitt pro Person und Jahr 15,5 Tonnen CO2 und werden 76,4 Jahre alt. Die Einwohner:innen von Costa Rica verursachen 2,2 Tonnen CO2 und werden 80,8 Jahre alt11.

Suffizienz zielt darauf ab, Bedürfnisse auf möglichst ressourcensparende Weise zu befriedigen. Bedürfnisse lassen sich auf unterschiedliche Weise befriedigen. Von A nach B kann man auch anders als mit dem Auto kommen. Wer mit dem Fahrrad einkaufen fährt, spart nicht nur das Geld fürs Benzin, sondern auch fürs Fitnesszentrum. Wohlige Wärme kann man erzielen, indem man die Heizung aufdreht oder einen Pullover anzieht oder das Haus thermisch saniert. Wenn man seine Waschmaschine gut behandelt, kann sie 20 Jahre und länger halten. Zumindest können das ältere Modelle. Wenn alle Waschmaschinen doppelt so lange halten wie heute (normalerweise 5 bis 10 Jahre), müssen klarerweise nur halb so viele erzeugt werden. Angeschlagene Möbel lassen sich reparieren oder neu lackieren. Auch die Haltbarkeit von Kleidungsstücken lässt sich durch gute Behandlung verlängern. Richtig waschen, kleinere Schäden ausbessern, langweilig gewordene Stücke mit einer Freundin oder einem Freund tauschen. Und selber nähen verschafft mehr und dauerhaftere Befriedigung als Shoppen. Fast 40 % aller Kleidung wird nie getragen12. Diese Kleidung erst gar nicht zu kaufen verursacht keinerlei Verlust an Komfort.

Das Prinzip lautet: reduzieren (also von vornherein weniger Zeug kaufen, sich bei jedem Kauf fragen: Brauche ich das wirklich?), länger nutzen, reparieren, weiternutzen (z.B. weiterschenken und gebraucht kaufen), und erst ganz am Schluss recyceln. Es heißt aber auch, sich unabhängig zu machen von Moden und Trends. Teilen und gemeinsam nutzen schafft auch neue soziale Kontakte. Und was noch wichtig ist: Geld, das man sich durch einen bescheideneren Alltag erspart, nicht für eine Flugreise ausgeben, mit der man mit einem Schlag seine ganze CO2-Bilanz wieder ruiniert. Rebound effect heißt der Fachausdruck dafür, und einen solchen gilt es zu vermeiden. Wenn man auf Grund eines suffizienten Lebensstils einen Teil seines Einkommens nicht mehr braucht, kann man mit diesem Teil soziale Projekte oder Naturschutzprojekte unterstützen. Oder auch überlegen, Teilzeit zu arbeiten.

Suffizienz organisieren

Alles kann man freilich nicht den Einzelnen aufhalsen. Die Forderung an die Industrie muss sein, haltbare und reparierbare Produkte zu erzeugen, die Praxis des „geplanten Verschleißes“ zu beenden. Von A nach B mit eigener Kraft zu kommen ist leichter, wenn A und B näher zusammenrücken, also vor allem Wohnung, Arbeit und Versorgung. Da ist die Stadtplanung gefordert. Auch müssen Fußgänger:innen und Radfahrer:innen sich sicher fühlen können. Gemeinsam nutzen und teilen wird erleichtert, wenn die Wohnsituation dem gerecht wird durch Gemeinschaftsräume, Gemeinschaftsküchen, Do-it-yourself-Räume, Waschküchen usw.

Wenn allgemein jede Steigerung der Produktivität durch eine entsprechende Verkürzung der Arbeitszeit ausgeglichen würde, würde der Ausstoß an Gütern stabil bleiben. Die durchschnittliche jährliche geleistete Arbeitszeit ist im Euroraum seit 1995 um 6 % gesunken, die Produktivität aber um 25 % gestiegen13. Um den Lebensstandard von 1995 zu halten, könnten wir heute um 20 % weniger arbeiten als damals. Dies nur zur Veranschaulichung, denn tatsächlich müsste die Arbeit auch umstrukturiert werden, von der materiellen Produktion (und deren Verwaltung) hin zu Bildung, Wissenschaft, Gesundheit, Pflege, Kultur. Und es müssten auch die Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten gerechter verteilt werden. Arbeit einzusparen soll nicht dazu führen, dass einige Menschen weiter arbeiten wie bisher, während andere ohne Arbeit und ohne Einkommen bleiben.

Wirtschaft im Dienst von Mensch und Natur

Solange Gewinnmaximierung der Motor der Wirtschaft ist, kann Suffizienz im gesellschaftlichen Ausmaß nicht erreicht werden. Aber nicht jedes Unternehmen muss Gewinn machen. Die „Social Economy“ versteht sich als Wirtschaft im Dienst der Menschen und der Natur. Dazu zählen etwa das gemeinnützige bzw. genossenschaftliche Wohnen, erneuerbare Energiegemeinschaften, Handwerks- und Industrieunternehmen in Belegschaftshand, der genossenschaftliche Einzelhandel, Kredit-, Plattform- und Vermarktungsgenossenschaften, Initiativen solidarischer Landwirtschaft, NGOs im Bereich nachhaltiger Entwicklung und viele mehr14. Laut EU-Kommission gibt es in Europa rund 2,8 Millionen Organisationen der Social Economy. Sie schaffen mehr als 13 Millionen Arbeitsplätze und beschäftigen damit 6,3 % der Europäischen Erwerbsbevölkerung15. Weil solche Unternehmen nicht gewinnorientiert sind, unterliegen sie auch nicht dem Wachstumszwang. Eine Voraussetzung für Suffizienz, für die Möglichkeit zu sagen: „Es ist genug“, ist, dass demokratisch ausgehandelt wird, was, wie viel und wie produziert wird. Die Social Economy bietet diese Möglichkeit, wenn auch erst in bescheidenem Rahmen. Diesen nicht gewinnorientierten Zweig der Wirtschaft zu fördern und auszuweiten ist – neben dem Ausbau des Sozialstaats – eine der wesentlichen Voraussetzungen für die sozial-ökologische Transformation. Demokratisches Wirtschaften ist noch keine Garantie für nachhaltiges Wirtschaften. Es schafft erst die Möglichkeit, dass sich Vernunft und der Sinn für das „rechte Maß“ durchsetzen.


1Paech, Niko (2013): Lob der Reduktion. In: Suffizienz als Schlüssel zu mehr Lebensglück und Umweltschutz, o.O.. oekom verlag.

2https://www.umweltbundesamt.de/daten/verkehr/endenergieverbrauch-energieeffizienz-des-verkehrs

3A. Ajanovic, L. Schipper, R. Haas (2012): The impact of more efficient but larger new passenger cars on energy consumption in EU-15 countries https://doi.org/10.1016/j.energy.2012.05.039 und .https://de.statista.com/statistik/daten/studie/249880/umfrage/ps-zahl-verkaufter-neuwagen-in-deutschland/

4https://www.forschungsinformationssystem.de/servlet/is/80865/

5https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_countries_by_greenhouse_gas_emissions und https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_countries_by_carbon_dioxide_emissions_per_capita

6https://www.umweltbundesamt.de/service/uba-fragen/wie-hoch-sind-die-treibhausgasemissionen-pro-person

7https://www.technik.steiermark.at/cms/dokumente/12449173_128523298/4eaf6f42/THG-Budget_Stmk_WegenerCenter_update.pdf

8https://greenpeace.at/uploads/2023/08/gp_reportklimaungerechtigkeitat.pdf

9Stengel, Oliver (2013): Steter Tropfen. Wider die Barrieren der Suffizienz, In: Suffizienz als Schlüssel zu mehr Lebensglück und Umweltschutz, o.O.. oekom verlag.

10Von Winterfeld, Uta (2007): Keine Nachhaltigkeit ohne Suffizienz. vorgänge Heft 3/2007, S. 46-54

11https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_countries_by_carbon_dioxide_emissions_per_capita und https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_countries_by_life_expectancy

12Greenpeace (2015): Wegwerfware Kleidung. https://www.greenpeace.de/publikationen/20151123_greenpeace_modekonsum_flyer.pdf

13https://www.bankaustria.at/files/analyse_arbeitszeit_19062023.pdf

14Social Economy Deklaration; https://static.uni-graz.at/fileadmin/_files/_event_sites/_se-conference/Social_Economy_Deklaration_20092023_web.pdf

15EU-Commission (2022): Factsheet Social Economy Action Plan, https://ec.europa.eu/social/BlobServlet?docId=24985&langId=en

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Ungehorsame Wissenschaftler:innen
von Martin Auer

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Immer mehr Klimawissenschaftler:innen kommen zum Schluss, dass es nicht genügt, die Ergebnisse ihrer Forschungen den Regierungen zur Verfügung zu stellen, schreibt Daniel Grossman in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift nature1. Sie sind empört und verzweifelt darüber, dass immer düsterere Prognosen und immer schlimmere Extremwetterereignisse nicht die erforderlichen Handlungen hervorrufen. Als Beispiel zitiert der Beitrag die Geowissenschaftlerin Rose Abramoff und den Astrophysiker Peter Kalmus, die beide mit spektakulären Aktionen Festnahmen und den Verlust ihrer Jobs riskierten.

Kalmus zum Beispiel blockierte im April 2022 zusammen mit drei Kolleg:innen den Zugang zu einer Filiale der Bank J. P. Morgan in Los Angeles, die große Summen in fossile Unternehmen investiert. Er wurde wegen Besitzstörung festgenommen. Gemeinsam mit Abramoff störte er eine Konferenz der American Geophysical Union mit einem Banner der Scientist Rebellion. Abramoff verlor ihren Job beim Oak Ridge National Laboratory in Tennessee. Kalmus wurde von seinem Arbeitgeber Jet Propulsion Laboratory nur verwarnt.

Abramoffs politisches Erwachen geschah 2019, als sie diverse Kapitel des IPCC-Reports begutachtete. Der neutrale Ton des Dokuments, der der Größe der drohenden Katastrophe nicht gerecht wurde, empörte sie. Am 6. April 2022 kettete sie sich während eines Klimaprotests an den Zaun des weißen Hauses. Sie wurde am selben Tag festgenommen wie Kalmus auf der anderen Seite des Kontinents. Seither setzte sie 14 spektakuläre Aktionen, von denen sieben zu einer Festnahmen führten.

Das sind nur zwei Beispiele für eine ständig wachsende Gruppe Gruppe von Wissenschaftler:innen, die sich nicht mehr damit begnügen wollen, ihre erschütternden Erkenntnisse neutral formuliert in Papers und Zeitschriften zu veröffentlichen. Eine kürzlich veröffentlichte Studie von Fabian Dablander (Universität Amsterdam)2 hat ergeben, dass 90 Prozent von 9.220 befragten Forscher:innen der Ansicht sind, dass „fundamentale Veränderungen der sozialen, politischen und ökonomischen Systeme notwendig sind“. Für die Studie wurden Forscher:innen in 115 Ländern befragt, die zwischen 2020 und 2022 in wissenschaftlichen Journalen publiziert hatten. Die Befragung wurde an 250.000 Autor:innen verschickt. Studienautor Dablander räumt ein, dass vermutlich ein Ungleichgewicht zugunsten der politisch denkenden Autor:innen besteht, weil die eher bereit sein würden, den Fragebogen auszufüllen und zurückzuschicken. 78 Prozent der Antwortenden hatten Fragen des Klimawandels außerhalb ihrer Kollegenschaft diskutiert. 23 Prozent hatten sich an legalen Protesten beteiligt und 10 Prozent – beinahe 900 Wissenschaftler:innen – an Aktionen des zivilen Ungehorsams.. Der Unterschied zwischen Wissenschaftler:innen, die mit Klimafragen beschäftigt sind und Forscher:innen anderer Disziplinen ist deutlich: An Protesten beteiligten sich 2,5 Mal so viele Klimaforscher:innen wie Nichtklimaforscher:innen. Unter den Teilnehmer:innen an Aktionen des zivilen Ungehorsams überwogen Klimaforscher:innen 4:1.

Eine andere Studie von Viktoria Cologna (Universtät Zürich)3 von 2021 hat ergeben, dass von 1.100 Klimawissenschaftler:innen 90 Prozent sich zumindest einmal öffentlich in Klimafragen engagiert hatten, etwa durch Presseinterviews, Briefings für Entscheidungsträger:innen oder auf Social Media. Oft befürchten Wissenschaftler:innen, dass sie an Glaubwürdigkeit verlieren, wenn sie sich politisch äußern. Doch Colognas Studie, die auch Nicht-Wissenschaftler:innen einbezog, ergab, dass 70 Prozent der Deutschen und 74 Prozent der Amerikaner:innen es begrüßen, wenn Wissenschaftler:innen sich aktiv für Klimaschutzmaßnahmen einsetzen.

Titelfoto: Stefan Müller via Wikimedia. CC BY – Aktivist von Scientist Rebellion, wird von der Polizei nach Brückenblockade unter Anwendung von Schmerzgriffen abgeführt.


1 Großmann, Daniel (2024): Scientists under arrest: the researchers taking action over climate change. In: Nature 626, 710-712 (2024) doi: https://doi.org/10.1038/d41586-024-00480-3, bzw. https://www.nature.com/articles/d41586-024-00480-3

2 Dablander, F., Sachisthal, M. & Haslbeck J. (2024): Going Beyond Research: Climate Actions by Climate and Non-Climate Researchers. Preprint at PsyArXiv https://doi.org/10.31234/osf.io/5fqtr

3 Cologna, V., Knutti, R., Oreskes, N. & Siegrist, M. (2021): Majority of German citizens, US citizens and climate scientists support policy advocacy by climate researchers and expect greater political engagement. In: Environ. Res. Lett. 16, 024011. https://dx.doi.org/10.1088/1748-9326/abd4ac

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Global Tipping Points Report: Fünf Kippsysteme im Erdsystem schon jetzt gefährdet – doch es gibt auch positive gesellschaftliche Kippunkte
Potsdam Institut für Klimafolgenforschung

Lesedauer 3 Minuten.   

Kipppunkte stellen einige der größten Risiken für die lebenserhaltenden Systeme der Erde und die Stabilität unserer Gesellschaft dar. In einem bislang einmaligen Vorhaben hat ein großes internationales Forschungsteam auf der COP28 einen umfassenden Bericht über Kipppunkte im Erdsystem und ihre potenziellen Auswirkungen sowie Möglichkeiten für gesellschaftliche Veränderungen veröffentlicht. Mehr als 200 Forschende aus aller Welt haben an dem „Global Tipping Points Report“ mitgewirkt. Der über 500 Seiten umfassende Bericht ist ein maßgeblicher Leitfaden zum aktuellen Wissensstand über Kipppunkte. Er beschreibt Möglichkeiten zur Beschleunigung dringend benötigter Veränderungen und skizziert Optionen, wie die Politik die Risiken und Chancen von Kipppunkten besser steuern kann.

„Dieser Bericht ist der bisher umfassendste Überblick über Kipppunkte im Erdsystem“, erklärt Sina Loriani vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), einer der Hauptautoren des Berichts. „Das Überschreiten von Kippunkten kann grundlegende und mitunter abrupte Veränderungen auslösen, die das Schicksal wesentlicher Teile unseres Erdsystems für die nächsten Hunderte oder Tausende von Jahren unumkehrbar bestimmen könnten. Diese Kipppunkt-Risiken sind potenziell verheerend und sollten mit Blick auf heutige und künftige Generationen sehr ernst genommen werden, trotz der verbleibenden wissenschaftlichen Unsicherheiten.“

5 Kippsysteme derzeit gefährdet, 3 weitere in Gefahr bei Überschreitung von 1.5°C

Fünf große Kippsysteme laufen bereits Gefahr, bei der derzeitigen globalen Erwärmung ihren jeweiligen Kipppunkt zu überschreiten, so die Forschenden in ihrem Bericht: Der grönländische und der westantarktische Eisschild, die subpolare Wirbelzirkulation im Nordatlantik, Warmwasserkorallenriffe und einige Permafrost-Gebiete. Wenn die globale Erwärmung auf 1,5°C ansteigt, könnten mit borealen Wäldern, Mangroven und Seegraswiesen drei weitere Systeme in den 2030er Jahren vom Kippen bedroht sein.

In dem Bericht fassen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Informationen über Kippsysteme und die damit verbundenen Temperaturschwellen aus Studien über Klimaveränderungen in der Erdgeschichte, heutigen Erdbeobachtungen und Computersimulationen zusammen. Die Autoren weisen darauf hin, dass systematischere Untersuchungen, wie das vom PIK geleitete Tipping Point Modelling Intercomparison Project (TIPMIP), erforderlich sind, um in Zukunft genauere Erkenntnisse über Kipppunkte und die damit verbundenen wissenschaftlichen Unsicherheiten zu gewinnen.

„Unsere Analyse zeigt übereinstimmende Kernaussagen in der bisher veröffentlichten Forschung zu Kipppunkten im Erdsystem auf. Sie verdeutlicht, dass der gegenwärtige Klimawandel und der Verlust der Natur grundlegende Veränderungen in Schlüsselelementen des Erdsystems verursachen könnten, mit weitreichenden Folgen für Milliarden von Menschen auf der ganzen Welt“, sagt Jonathan Donges vom PIK, einer der Hauptautoren des Berichts. „Zu diesen Auswirkungen gehören ein beschleunigter Anstieg des Meeresspiegels, veränderte Wettermuster und geringere landwirtschaftliche Erträge – diese haben das Potenzial, negative soziale Kipppunkte auszulösen, die zu gewaltsamen Konflikten oder dem Zusammenbruch politischer Institutionen führen könnten. Kipppunkte sind auch nicht unabhängig voneinander, sondern stehen in enger Wechselwirkung: Die Überschreitung eines Kipppunkts im Erdsystem oder in der Gesellschaft könnte wiederum ein anderes Kippsystem destabilisieren, wodurch Kippkaskaden möglich werden.“

Positive Kippunkte im Gesellschaftssystem

Unter der Leitung der Universität Exeter haben mehr als 200 Forschende aus verschiedenen wissenschaftlichen Institutionen die verfügbaren Belege für die Veränderungen des Erdsystems für den Global Tipping Points Bericht zusammengetragen und geprüft. Das Forschungsteam unterstreicht, dass positive Kipppunkte für den notwendigen transformativen Wandel hin zum raschen Ausstieg aus fossilen Brennstoffen und der Verringerung der Emissionen aus der Landnutzung entscheidend sein können, um den Planeten zu stabilisieren und negative Auswirkungen von Erdysstem-Kipppunkten auf Gesellschaften zu vermeiden. Wenn man die Erkenntnisse über Kippdynamiken auf Gesellschaftssysteme anwendet, zeigt sich, dass solche wünschenswerten Veränderungen unter den richtigen Bedingungen selbstverstärkend wirken können. Ein Großteil des Berichts hebt daher die Potenziale für abrupte soziale und technologische Veränderungen hervor und verdeutlicht, dass solche nichtlinearen Veränderungen bereits heute auf den Märkten für erneuerbare Energien und Elektrofahrzeuge zu beobachten sind. Der Bericht hebt mehrere Optionen zur Beschleunigung der Transformation hervor, wie etwa koordinierte Anstrengungen, um positive gesellschaftliche Kipppunkte in den Sektoren Energie, Verkehr und Ernährung auszulösen, und das Vertiefen von Wissen über Kipppunkte in einem IPCC-Sonderbericht.

„Die Welt befindet sich nicht mehr in einem Zustand des schrittweisen und linearen Wandels“, fasst PIK-Direktor Johan Rockström zusammen. „Das bedeutet, wir müssen einen rasanten und tiefgreifenden Wandel über mehrere Sektoren und Regionen hinweg auslösen, indem wir aus den fossilen Brennstoffen aussteigen und gleichzeitig positive soziale und wirtschaftliche Kipppunkte nutzen. Die Anreize und Hebel für eine Transformation müssen sich so grundlegend ändern, dass wir als Gesellschaft einen neuen, nachhaltigen Kurs einschlagen. Der Global Tipping Points Bericht bietet den ersten umfassenden Leitfaden, um uns über die bevorstehenden Gefahren und Chancen aufzuklären.“


Report: 
T.M. Lenton, D.I. Armstrong McKay, S. Loriani, J.F. Abrams, S.J. Lade, J.F. Donges, M. Milkoreit, T. Powell, S.R. Smith, C. Zimm, J.E. Buxton, L. Laybourn, A. Ghadiali, J. Dyke (eds) (2023): The Global Tipping Points Report 2023. University of Exeter, Exeter, UK. 

Webseite zum Reporthttps://global-tipping-points.org/

Titelbild: KI

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Rassismus als Brennglas für Klimawandelfolgen
von Barbara Tiefenbacher-Jami

Lesedauer 5 Minuten.   

Die Auswirkungen des Klimawandels auf sozial marginalisierte und armutsbetroffene Roma-Communities

Zehn bis zwölf Millionen Roma und Rom:nija leben in Europa. Besonders in den ehemaligen kommunistischen Ländern Zentral- und Südosteuropas sind bis zu 80 Prozent von Armut und Rassismus betroffen und leben am Rande der Nicht-Roma-Gesellschaft.1

Das jahrzehntelange Zusammenspiel von Armut und Rassismus hat dazu geführt, dass Roma und Rom:nija zu den vulnerabelsten Gruppen in Europa gehören. Es besteht die Befürchtung, dass die Verwundbarkeit dieser Bevölkerungsgruppe im Zuge der globalen Erderwärmung weiter zunehmen wird.2 Untersuchungen aus den USA zeigen, dass Menschen, die von Diskriminierung und Rassismus betroffen sind, wie etwa die afroamerikanische Bevölkerung, stärker von den Folgen des Klimawandels betroffen sind.3

Man kann davon ausgehen, dass es in Europa ähnlich ist. Aber nicht alle Roma und Rom:nija sind gleich betroffen. Diejenigen Rom:nija, die zur Mittelschicht gehören oder nicht als Teil der Roma-Community wahrgenommen werden, sind nicht im gleichen Maße betroffen wie jene, die in segregierten Roma-Siedlungen in bitterer Armut leben.4

Die Roma-Dachorganisation ERGO (European Roma Grassroots Organisations Network) in Brüssel hat schon vor einigen Jahren unter dem Blickwinkel des Umweltrassismus Benachteiligungen aufgrund des Wohnortes beziehungsweise der Wohnsituation aufgegriffen. Gemeinsam mit dem European Environmental Bureau haben sie auf die katastrophale Situation von Roma-Siedlungen hingewiesen. Häufig befinden sich Siedlungen in der Nähe von Industrieanlagen, neben oder auf kontaminierten Böden, oder in Hochwasserrisikogebieten. Viele verfügen auch nicht über eine ausreichende Trinkwasserversorgung oder eine funktionierende Kanalisation und Müllentsorgung.5

Mit der Zunahme von Extremwetterereignissen wie Hitze und Starkregen sind diese minderwertigen Wohngebiete weiteren Umwelteinflüssen ausgesetzt. Ein konkretes Beispiel aus Hamburg verdeutlicht die Problematik: Roma und Rom:nija erhielten dort als „Wiedergutmachung“ ein Grundstück auf einer ehemaligen Mülldeponie. Durch die Erderwärmung werden nun verstärkt giftige Dämpfe freigesetzt, die massive Gesundheitsschäden verursachen.6

Wie verheerend wiederum die Folgen von Starkregenereignissen sein können, wurde 1998 in der ostslowakischen Ortschaft Jarovnice deutlich, wo es zu starken Überflutungen kam, von denen insbesondere die am Fuße der Ortschaft gelegene Roma-Siedlung betroffen war. Dutzende Häuser wurden zerstört. Mehr als 50 Menschen starben, 40 davon Kinder aus der Roma-Siedlung.7 2014 kam es infolge von Starkregen zur Zerstörung der Roma-Siedlung Asparuhova in der bulgarischen Stadt Varna, 14 Menschen kamen ums Leben.8

Aber auch indirekt können Starkregenereignisse Rassismus verstärken, wie das folgende Beispiel vom letzten Sommer aus Kroatien vor Augen führt: Während sich die Bewohner:innen der Roma-Siedlung Autoput vor dem herannahenden Hochwasser in einer Turnhalle in Sicherheit brachten, rissen unbekannte Täter:innen die zurückgelassenen Häuser mit Baggern nieder.9

Rassismus und Ausgrenzung erschweren häufig auch die berufliche Teilhabe von Rom:nija. Dies führt zu einer niedrigen Erwerbsquote und folglich zu hoher Armut, wie die eingangs zitierte FRA-Studie aufzeigt. So lag 2021 die Erwerbsquote bei Rom:nija in den untersuchten Ländern bei 43%, bei der Nicht-Roma-Community hingegen durchschnittlich bei rund 70%.10 Gleichzeitig reichen die staatlichen Sozialleistungen kaum aus, um das Existenzminimum zu finanzieren. Um ihre Lebenssituation zu verbessern, wählen betroffene Roma und Rom:nija insbesondere in den zentral- und osteuropäischen Ländern als Ausweg die Migration in den “Westen”, unter anderem nach Österreich. Je nach vorhandenen Ressourcen und sozialen Netzwerken gehen sie in der Migration verschiedenen Beschäftigungen nach,11 unter anderem auch informellen Tätigkeiten im öffentlichen urbanen Raum, wie Betteln, dem Verkauf von Straßenzeitungen oder dem Ausüben von Straßenmusik, um Geld zu verdienen.12 Diese Menschen sind besonders vulnerabel, da sie sich im Freien aufhalten müssen, um Geld zu verdienen. Gleichzeitig sind sie auch darauf angewiesen, dass sich andere Menschen, die ihnen eine Spende zukommen lassen oder eine Zeitung abkaufen, ebenfalls im öffentlichen Raum bewegen. Bei Hitzewellen sind jedoch weniger PassantInnen unterwegs und auch für die Armutsmigrant:innen selbst, kann der Aufenthalt im überhitzten urbanen Raum gesundheitsgefährdend sein. Folglich haben sie finanzielle Einbußen, was sich wiederum auf ihre Familien in den Herkunftsländern auswirkt. Im August 2023 gab die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) bekannt, dass in Österreich in den letzten Jahrzehnten Hitzewellen um 50% häufiger geworden sind und auch länger andauern, wovon insbesondere städtische Gebiete betroffen sind.13 Menschen, die informellen Tätigkeiten nachgehen, können jedoch bei extremer Hitze ihre Aktivitäten nicht einfach in kühlere ländliche Regionen oder in klimatisierte Innenräume verlegen – sie sind auf den öffentlichen urbanen Raum angewiesen, um Geld zu verdienen.

Die prekäre finanzielle Situation beeinflusst weiters auch die Möglichkeiten, Lebensmittel zu kaufen. In der FRA-Studie wurde erhoben, dass 29% der Roma-Kinder in Haushalten leben, in denen mindestens ein Mal im letzten Monat eine Person hungrig zu Bett gegangen ist.14 Nehmen Extremwetterereignisse zu, kann dies zu einem Ansteigen der Lebensmittelpreise führen.15 Folglich wird die Zahl der armutsbetroffenen Rom:nija, die an Mangelernährung und Hunger leiden, weiter zunehmen. Bereits jetzt ist im EU-Durchschnitt die Lebenserwartung von Rom:nija um zehn Jahre kürzer als die von Nicht-Rom:nija, wie die Studie der FRA aufzeigt.16 Dies ist einerseits der schlechten sozioökonomischen Situation geschuldet und andererseits aber auch Rassismus und Diskriminierung im Gesundheitswesen. So gaben rund 14% der Rom:nija in den untersuchten Ländern an, dass sie in den letzten zwölf Monaten aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit zur Roma-Community Diskriminierung im Gesundheitswesen erfahren haben.17 Nach wie vor gibt es in Krankenhäusern eigene nach Ethnizität (Roma vs. Nicht-Roma) getrennte Abteilungen. Werden Viruserkrankungen, wie Zoonosen, aufgrund der Erderwärmung wahrscheinlicher, werden auch die Herausforderungen für die Gesundheitsversorgung zunehmen. Ist das Gesundheitswesen zudem rassistisch und diskriminierend, werden vulnerable Gruppen einem erhöhtem Risiko ausgesetzt.

Auch dass während Hitzewellen keine Abkühlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, ist besonders für Kinder, ältere Menschen und gesundheitlich beeinträchtigte Personen gesundheitsgefährdend. Dies ist besonders erschreckend, wenn es daran liegt, dass der Zugang zu Freibädern, Seen oder auch (halb-)öffentlichen klimatisierten Räumlichkeiten wie Büchereien, Museen oder Einkaufszentren nicht allen gleichermaßen offen steht. In den letzten Jahren hat u.a. das European Roma Rights Center in Nordmazedonien, Bulgarien, Rumänien, Spanien, Groß Britannien und der Slowakei Fälle dokumentiert, in denen Roma und Rom:nija aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit der Zutritt zu öffentlichen Bädern verwehrt worden ist.18 Diese Beispiele verdeutlichen, dass Ethnizität eine zentrale Kategorie sein kann, die darüber bestimmt, ob Menschen Schutz vor Hitze erhalten oder nicht.

Die Verknüpfung von rassistisch motivierten Praktiken und den Auswirkungen der Erderwärmung macht deutlich, dass marginalisierte und armutsbetroffene Roma und Rom:nija aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit und ökonomischen Handlungsfähigkeit weitaus stärker von den Folgen des Klimawandels betroffen sind und sein werden als Nicht-Rom:nija. Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, dass Roma-NGOs und Menschenrechtsorganisationen gemeinsam mit Klimaschutzaktivist:innen und Klimawissenschaftler:innen Allianzen bilden, um das Bewusstsein dafür zu stärken. Denn es gilt zu erkennen, dass Rassismus und Armut die Auswirkungen der globalen Erderwärmung auch in Europa verschärfen werden.


Barbara Tiefenbacher-Jami beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Fragestellungen aus dem Bereich der Romani Studies. Sie promovierte zu Prozessen und Folgen der Selbst- und Fremdethnisisierung von Roma-Communities. Von 2009 bis 2021 war sie Vorstandsmitglied von Romano Centro – Verein für Roma in Wien. Zudem arbeitete sie 2007/08 in einer segregierten Roma-Siedlung in der Slowakei in einem Freizeitzentrum mit armutsbetroffenen und marginalisierten Kindern und Jugendlichen.

Titelfoto: Barbara Tiefenbacher-Jami – Kaum mehr lesbarer Wegweiser zu einer Roma-Siedlung in der Slowakei


1 Fundamental Rights Agency (2022): Roma in European Countries – Main Results, Roma Survey https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/fra-2022-roma-survey-2021-main-results2_en.pdf (abgerufen 27.01.2024)

2 Vgl dazu auch: Antal, Atilla (2018): Climate and social justice in Eastern and Southern Europe: The social nature of climate change (Working Paper 1), https://www.inogov.eu/wp-content/uploads/2018/08/Antal_WP1.pdf (abgerufen 03.02.2024).

3 https://www.mckinsey.com/bem/our-insights/impacts-of-climate-change-on-black-populations-in-the-united-states# (abgerufen 04.02.2024)

4 Zu den Folgen von Selbst- und Fremdethnisierungen siehe: Tiefenbacher, Barbara (2014): “Es springt so hin und her.” Verhandlungen um ethnische Zugehörigkeiten in post-/migrantischen Romani Communitys in Österreich (Dissertation), Univ. Wien.

5 https://eeb.org/wp-content/uploads/2020/04/Pushed-to-the-Wastelands.pdf (abgerufen am 28.01.2024) Ende Jänner fand zu dem Thema auch eine Online-Veranstaltung statt: https://ergonetwork.org/2024/01/roma-and-environmental-racism-the-role-of-the-eu-strategic-framework-in-ensuring-environmental-rights-and-dignity/ (abgerufen 29.01.2024).

6 https://www.boell.de/sites/default/files/2021-12/E-Paper Der Elefant im Raum – Umweltrassismus in Deutschland Endf.pdf S.14 (abgerufen 04.02.2024).

7 http://www.errc.org/roma-rights-journal/the-aftermath-of-the-summer-floods-in-jarovnice-slovakia (abgerufen 28.01.2024).

8 https://www.opensocietyfoundations.org/voices/flood-lays-bare-inequality-bulgaria (abgerufen 04.02.2024)

9 https://www.slobodnaevropa.org/a/romi-hrvatska-naselje/32573019.html und https://glaspodravine.hr/podravski-romi-bagerima-su-nam-bez-znanja-sravnili-naselje-u-kojem-smo-zivjeli/ (abgerufen 27.01.2024)

10 https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/fra-2022-roma-survey-2021-main-results2_en.pdf S. 43 (abgerufen 28.01.2024).

11 Vgl. zB Grill, Jan (2011): From Street Busking in Switzerland to meat factories in the UK. A comparative study of two Roma migrations from Slovakia. In: Kaneff, Deema / Pine, Frances (Hg.): Global Connections and Emerging inequalities in Europe, Perspectives on poverty and transnational migration. London – New York – Delhi: Anthem Press, S. 79– 102.

12 Benedik, Stefan / Tiefenbacher, Barbara / Zettelbauer, Heidrun, u. Mitarb. v. Edit Szénássy (2013): Die imaginierte „Bettlerflut“. Migrationen von Roma/Rom:nija – Konstrukte und Positionen. Klagenfurt/Celovec: Drava; Tiefenbacher, Barbara (2014): “Es springt so hin und her” Verhandlungen um ethnische Zugehörigkeiten in post-/migrantischen Romani Communitys in Österreich (Dissertation), Univ. Wien.

13 https://www.zamg.ac.at/cms/de/klima/news/hitzewellen-laenger-und-haeufiger (abgerufen 04.02.2024)

14 https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/fra-2022-roma-survey-2021-main-results2_en.pdf S. 61 (abgerufen 28.01.2024).

15 https://www.derstandard.at/story/3000000202535/climateflation-wird-der-klimawandel-zum-preistreiber-bei-lebensmitteln?ref=nl). (abgerufen am 28.01.2024)

16 https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/fra-2022-roma-survey-2021-main-results2_en.pdf (abgerufen 28.01.2024).

17 https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/fra-2022-roma-survey-2021-main-results2_en.pdf S. 49 (abgerufen 28.01.2024).

18 http://www.errc.org/news/romani-children-win-discrimination-case-after-being-denied-entry-to-a-public-swimming-pool-in-romania); http://www.errc.org/press-releases/macedonian-court-rules-against-swimming-pool-for-discriminating-against-roma; https://www.rferl.org/a/bulgaria-roma-discrimination-swimming-pools/32529839.html (alle abgerufen am 28.01.2024)

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Was sind Kipppunkte im Klimasystem?
von Albert Ossó (Universität Graz), Laurenz Roither (Climate Change Centre Austria)

Lesedauer 5 Minuten.   
  • Klima-Kipppunkte sind kritische Schwellen, an denen schon geringfügige weitere Störungen das Klimasystem grundlegend verändern können.
  • Kippelemente sind großräumige Komponenten des Klimasystems, die einen Kipppunkt erreichen können. Dies verändert die Funktionsweise des Systems an sich und kann erhebliche Auswirkungen auf das menschliche Wohlergehen haben.
  • Mehrere Kipppunkte könnten im Rahmen der im Pariser Abkommen festgelegten globalen Erwärmung von 1,5 bis < 2 °C überschritten werden. Das Risiko hierfür erhöht sich bei einer Erwärmung von 2 °C bis 3 °C jedoch stark. Auf diesem Pfad befinden wir uns momentan. • Es ist möglich, dass kausale Wechselwirkungen zwischen Kipppunkten existieren. Die Auslösung eines Kipppunkts kann die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass in einer Kaskade weitere Kipppunkte ausgelöst werden.

Ein Kipppunkt in einem System ist ein Punkt, an dem kein Zurück mehr möglich ist. Wird dieser Punkt erreicht, können selbst kleine Änderungen drastische und nicht umkehrbare Veränderungen im Verhalten des Systems bewirken. Dieses Phänomen ist in komplexen Systemen weit verbreitet. Beispiele gibt es in biologischen, sozialen und wirtschaftlichen Systemen und auch im Klimasystem. Bereits 1987 beschrieb Wallace S. Broecker in einem Kommentar in der Zeitschrift Nature die Gefahr, dass erhöhte Treibhausgasemissionen (THG) plötzliche Veränderungen im Klima verursachen können [1]. Auch Belege aus historischen Klimaaufzeichnungen weisen auf das Auftreten solcher abrupter Übergänge hin [2].

In einer wegweisenden Veröffentlichung von 2008 führten Tim Lenton und seine Kolleg:innen den Begriff „kritisches Element“ ein. Sie beschrieben damit Teile des Erdsystems, die durch vom Menschen verursachte Klimaveränderungen an einen Kipppunkt getrieben werden könnten [3]. Sie definierten einen Klima-Kipppunkt als eine Schwelle in einem entscheidenden Parameter. Ein Beispiel hierfür ist die zunehmende globale Durchschnittstemperatur: Sie steigt schon seit einiger Zeit, bis jetzt allerdings ohne globale Systemelemente zu kippen. Aber sobald die Temperaturschwelle für das betrachtete kritische Element erreicht ist, führt selbst eine geringfügige zusätzliche Erwärmung das System in einen völlig anderen Zustand. Selbstverstärkende Rückkopplungen sind ein weiteres Merkmal von Kipppunkten. Das gekippte Element treibt das Klimasystem in einen neuen Zustand. In diesem Zustand strebt das System wieder nach Stabilität. Neue Rückkopplungen entstehen und erhalten die veränderten Bedingungen, z. B. die erhöhte Temperatur, aufrecht.

Politikrelevante Kippelemente im Klimasystem

Potenzielle Klima-Kipppunkte werden mit Hilfe von Expert:innenurteilen identifiziert. Diese basieren auf Beobachtungen, paläoklimatischer Evidenz und Ergebnissen aus global koordinierten Klimamodellierungsprojekten, wie sie auch vom Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) verwendet werden.

Außerdem wird abgeschätzt, ob es zu selbstverstärkenden Effekten kommt, bei welcher Temperatur solche Veränderungen beginnen, ob diese Veränderungen unumkehrbar sind und wie schnell diese Übergänge ablaufen können. Zuletzt wird bewertet, welche Folgen diese Veränderungen auf globaler oder regionaler Ebene haben [3, 4].

Ein Kipppunkt kann auch natürlich ohne menschlichen Einfluss auftreten, wie etwa während der sogenannten “Schneeball-Erde“-Ereignisse vor vielen Millionen Jahren. Allerdings sind diese natürlichen Ereignisse im Kontext der vom Menschen verursachten Erwärmung nicht relevant. Der Schwerpunkt liegt vielmehr auf Kippelementen, die maßgeblich mit menschlichen Aktivitäten zusammenhängen:

  1. Sie werden wesentlich von menschlichen Handlungen wie Treibhausgasemissionen und Veränderungen in der Landnutzung beeinflusst;
  2. Entscheidungen, die innerhalb eines „politischen Zeithorizonts“ (ungefähr 100 Jahre) getroffen werden, sind für das Erreichen einer kritischen Schwelle relevant;
  3. Die Zeit, um eine grundlegende Veränderung im System beobachten zu können, fällt in einen „ethischen Zeithorizont“ (ungefähr 1000 Jahre); und
  4. Sie haben das Potenzial, grundlegende Veränderungen im gesamten Erdsystem auszulösen.

Mithilfe dieser Bedingungen haben McKay et al. (2022) [4] globale und regionale Kippelemente identifiziert, die sowohl das Klimasystem als auch die menschliche Gesellschaft bedrohen. Tabelle 1 fasst die wichtigsten Kipppunkte zusammen. Die Tabelle ordnet die Kippelemente nach ihren Bereichen im Erdsystem. In der ersten Spalte werden diese Elemente kategorisiert. Die zweite Spalte gibt die Stärke der Erderwärmung (∆T) an, ab der der Kipppunkt ausgelöst wird. Dies umfasst die beste Schätzung sowie minimale und maximale Werte. Zusätzlich beschreibt die dritte Spalte die Zeiträume, die das System benötigt, um in den neuen Zustand überzugehen und sich dort zu stabilisieren. Auch hier werden beste, minimale und maximale Schätzungen angegeben. Die letzte Spalte zeigt die globale und regionale Temperaturänderung an, die durch Erreichung des Kipppunkts zusätzlich entstehen würde. Um die Interpretation zu erleichtern, ist das Vertrauen der Wissenschaft in die Aussagen farbcodiert: Grün steht für hohes Vertrauen, gelb bedeutet mittleres Vertrauen und rot steht für niedriges Vertrauen in die Schätzungen des Schwellenwerts, der Zeitskala und der Auswirkungen.

Tabelle1: Kippelemente im Klimasystem, angelehnt an Armstrong McKay et al [4]

Laut McKay et al. 2022 gibt es drei wichtige globale Kipppunkte, die wahrscheinlich bei einer Erwärmung von 1,5 bis knapp unter 2 °C – dem Zielbereich des Pariser Abkommens – überschritten werden könnten (siehe Tabelle 1, fett gedruckt). Jedoch erhöht sich das Risiko deutlich, dass diese Kipppunkte eintreten und weitere hinzukommen, wenn wir eine Erwärmung von 2 bis 3 °C betrachten. Aktuell steuern wir auf eine Erwärmung in dieser Größenordnung zu. Außerdem könnten diese Kipppunkte miteinander verknüpft sein: Wird einer erreicht, kann sich die Wahrscheinlichkeit zusätzlich erhöhen, dass nacheinander auch andere ausgelöst werden [5].

Globale Kippelemente, die mit hoher Wahrscheinlichkeit im Bereich der 1,5-2 °C Erwärmung erreicht werden könnten:

Kollaps des Grönlandeisschilds (GrES)

Wegen zunehmender Oberflächenschmelze und beschleunigtem Abbrechen von Eis ins Meer schrumpft der Grönlandeisschild sehr schnell [6]. Alles deutet darauf hin, dass er sich einem kritischen Kipppunkt nähert [4]. Seine Dicke (bis 3 km) hat bis jetzt dazu beigetragen, dass die Oberfläche hoch gelegenen, kalten Luftschichten ausgesetzt war. Das sorgte für einen stabilen Eisschild. Durch das Schmelzen verliert er jedoch an Höhe, was zu wärmeren Temperaturen an seiner Oberfläche und zu immer mehr Abschmelzung führt. Modellsimulationen legen einen Schwellenwert bei etwa 1,5 °C Temperaturanstieg nahe, ab dem das Schmelzen selbstverstärkend werden könnte. Würde der gesamte GrES schmelzen, könnte der globale Meeresspiegel um etwa 7 Meter steigen [7].

Kollaps des Westantarktischen Eisschilds (WAES)

Große Teile des WAES liegen unter dem Meeresspiegel. Wenn das Eis durch wärmere Luft- und Wassertemperaturen schmilzt, zieht sich auch der Boden (Grundlinie) des Eisschilds zurück. Beim WAES befindet sich diese an vielen Stellen auf Hängen, die sich zum Eisschild hin neigen. Das ermöglicht es wärmerem Meerwasser zwischen Untergrund und Eisschild einzudringen und löst einen selbstverstärkenden Rückzug aus (siehe Abbildung 1). Das komplette Schmelzen des WAES könnte den globalen Meeresspiegel um etwa 5 Meter ansteigen lassen [8].

Abbildung 1: Schematische Darstellung des Übergangsbereichs zwischen Eisschild und Ozean. Der Eisschild zieht sich zurück und erreicht rückläufig geneigte Hänge, angelehnt an [9]

Kollaps der Konvektion in den Labrador- und Irmingermeeren / des Nordatlantischen subpolaren Wirbels (SPW)

Die Abkühlung des Wassers an der Oberfläche des SPW im Winter erlaubt Tiefenwasserbildung. Dabei sinkt Meerwasser von der Oberfläche in tiefe Schichten ab, weil es sehr kalt und salzhaltig und somit sehr dicht (schwer) ist. Dieser Prozess beeinflusst die atlantische meridionale Umwälzzirkulation (AMOC), die Wärme im Atlantik nach Norden transportiert. Allerdings wird das Absinken durch wärmere Winter und einen geringeren Salzgehalt abgeschwächt. Die Gründe hierfür sind mehr Niederschlag und schmelzende Eisschilde, die große Mengen Süßwasser beimischen und so die Dichte des Oberflächenwassers verringern. Modellsimulationen deuten auf einen möglichen Kollaps bei etwa 1,8 °C Klimaerwärmung (Bereich: 1,1 bis 3,8 °C) innerhalb von etwa 10 Jahren hin. Das könnte zu einer regionalen Abkühlung von 2 bis 3 °C im Nordatlantik und möglicherweise 0,5 °C weltweit führen. Diese Verschiebung könnte den Jetstream nach Norden drängen und extremes Wetter in Europa verursachen sowie die Stärke der AMOC beeinträchtigen.

Für weiterführende Informationen besuchen Sie gerne folgende Website: www.global-tipping-points.org

Titelbild: Kalbender Gletscher, Foto: Roland Seiffert via flickr, CC BY-NC

Literatur

[1] Broecker, W. S. (1987). Unpleasant surprises in the greenhouse?. Nature, 328(6126), 123-126.
[2] Brovkin, V., Brook, E., Williams, J. W., Bathiany, S., Lenton, T. M., Barton, M., … & Yu, Z. (2021). Past abrupt changes, tipping points and cascading impacts in the Earth system, Nat. Geosci., 14, 550–558.
[3] Lenton, T. M., Held, H., Kriegler, E., Hall, J. W., Lucht, W., Rahmstorf, S., & Schellnhuber, H. J. (2008). Tipping elements in the Earth‘s climate system. Proceedings of the national Academy of Sciences, 105(6), 1786-1793.
[4] Armstrong McKay, D. I., Staal, A., Abrams, J. F., Winkelmann, R., Sakschewski, B., Loriani, S., … & Lenton, T. M. (2022). Exceeding 1.5 C global warming could trigger multiple climate tipping points. Science, 377(6611), eabn7950.
[5] Kriegler, E., Hall, J. W., Held, H., Dawson, R., & Schellnhuber, H. J. (2009). Imprecise probability assessment of tipping points in the climate system. Proceedings of the national Academy of Sciences, 106(13), 5041-5046.
[6] The IMBIE Team (2020). Mass balance of the Greenland Ice Sheet from 1992 to 2018, Nature, 579, 233–239. [7] Masson-Delmotte, V., Zhai, P., Pirani, S., Connors, C., Péan, S., Berger, N., … Scheel Monteiro, P. M. (2021). PCC, 2021: Summary for Policymakers. In: Climate Change 2021: The Physical Science Basis. Contribution of Working Group I to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change Cambridge University Press, Cambridge, United Kingdom and New York, NY, USA.
[8] Naughten, K. A., Holland, P. R., & De Rydt, J. (2023). Unavoidable future increase in West Antarctic ice-shelf melting over the twenty-first century. Nature Climate Change, 1-7.
[9] Pattyn, F. (2018). The paradigm shift in Antarctic ice sheet modelling. Nature communications, 9(1), 2728.

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Die Klimakosten des Kriegs in Gaza und Israel
von Martin Auer

Lesedauer < 1 Minute.   

In einer Kurzstudie haben Benjamin Neimark von der Queen Mary University of London und vier Kolleg:innen die klimatechnischen Auswirkungen der ersten 60 Tage des Kriegs zwischen Israel und Hamas errechnet. Die CO2-Emissionen in diesem Zeitraum waren so hoch wie die der 20 durch die Klimaerhitzung verwundbarsten Länder. Über 99 % dieser 281.000 Tonnen CO2 (entspricht etwa dem Verbrennen von 150.000 Tonnen Kohle) wurden durch die Bombardierung des Gaza-Streifens und die Bodenoffensive der israelischen Armee verursacht. Einbezogen wurden Emissionen vom Treibstoff für Flugzeuge, Panzer und andere Fahrzeuge, und die Emissionen durch die Herstellung und das Explodieren von Bomben, Artilleriegeschossen und Raketen. Andere Treibhausgase wie zum Beispiel Methan wurden in die Studie nicht einbezogen. Fast die Hälfte der CO2-Emissionen wurde durch die US-amerikanischen Flugzeuge verursacht, die militärischen Nachschub nach Israel brachten.

Die Raketen, die von der Hamas auf Israel abgefeuert wurden, verursachten ungefähr 713 Tonnen CO2 (entspricht 300 Tonnen verbrannter Kohle).

36 bis 45 % aller Gebäude in Gaza sind zerstört worden. Der Wiederaufbau dieser 100.000 Gebäude in Gaza wird mindestens 30 Millionen Tonnen CO2 verursachen. Das entspricht den jährlichen Emissionen von Neuseeland.

Generell verursachen die Militärs der Welt 5,5 % der globalen Emissionen, mehr als die zivile Luftfahrt und die Schifffahrt zusammengenommen. Beim Klimagipfel COP28 in Dubai standen die Zusammenhänge zwischen Krieg, Sicherheit und der Klimakatastrophe zwar auf der Agenda, doch das führte nicht zu irgendwelchen wirksamen Schritten, um die Militärs in die Verantwortung zu nehmen und mehr Transparenz zu erreichen.

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Dürren im Klimawandel von Douglas Maraun und Laurenz Roither

Lesedauer 5 Minuten.   
  • In den letzten Jahren führten regenarme Sommer wiederholt zu starken Sommerdürren.
  • Reine Niederschlagsdefizite (meteorologische Dürre) sind bisher Ausdruck natürlicher Schwankungen; Jahrzehnte vergleichbarer oder sogar stärkerer Defizite gab es in den letzten 210 Jahren mehrmals.
  • In Sommerdürren der letzten Jahre trocknete auch der Boden sehr stark aus (Bodenfeuchtedürre), da die Verdunstung über die letzten Jahrzehnte anstieg. Dies lässt sich zu einem großen Teil auf den Klimawandel zurückführen, teilweise aber auch auf sinkende Aerosolkonzentrationen. (Aerosole sind Schwebstoffe, die Sonnenlicht zurückstreuen, v. a. Schwefeldioxid, das bei Verbrennung von Kohle und Öl entsteht.)
  • Aussagen über meteorologische Dürren im Klimawandel sind noch mit großen Unsicherheiten behaftet. Auch wenn es grundsätzlich immer wieder feuchte und trockene Dekaden geben wird, begünstigen steigende Temperaturen die Austrocknung des Bodens, sodass Bodenfeuchtedürren künftig sowohl trockener als auch intensiver ausfallen werden.

Sommerdürren, ihre Auslöser und Folgen

Dürre ist ein äußerst komplexes Phänomen. Aufgrund der relevanten Folgen werden vor allem Sommerdürren betrachtet. Tritt ein langanhaltendes Niederschlagsdefizit im Vergleich zum langjährigen Mittel auf, spricht man von einer meteorologischen Dürre, die Wochen bis Jahre dauern kann [1]. In den mittleren Breiten werden diese typischerweise durch anhaltende blockierende Wetterlagen ausgelöst. Ist die Verdunstung höher als der Niederschlag, trocknet der Boden aus und es herrscht eine Bodenfeuchtedürre, wegen sinkender Erträge auch landwirtschaftliche Dürre genannt [1]. Hohe Temperaturen im Sommer und Temperatur-Rückkopplungen, ein vorangegangener trockener Winter oder Frühling, sowie starkes Vegetationswachstum im Frühling (und die resultierende starke Verdunstung) können Bodenfeuchtedürren im Sommer verstärken [2]. Während hydrologischer Dürren sinken schließlich auch die Flusswasserstände und Grundwasserspiegel [3]. Hoher Wasserverbrauch und Eingriffe in Gewässer können Dürren weiter verstärken [4]. Ausbleibender Regen, hohe Temperaturen und Sonneneinstrahlung sowie starke Winde können, wie im Sommer 2012 in den USA, Bodenfeuchtedürren sehr schnell (innerhalb von Wochen) intensiv werden lassen, man spricht dann von Flash Droughts [5].

Dürren können gravierende ökologische und sozioökonomische Folgen haben, wobei die Auswirkungen nach Dauer, Jahreszeit, und Art der Auswirkung stark variieren.

Temperatur-Rückkoppelung: wird Wasser verdunstet, entzieht es der Umgebung Wärme. Trocknet der Boden stark aus, sinkt dieser Kühleffekt und die Umgebungstemperaturen erhöhen sich noch stärker.
Verdunstung über Land: aktive Wasseraufnahme der Wurzeln, Transport und Verdunstung über große Blattoberfläche der Pflanzen erhöht Verdunstungsrate im Vergleich zu nacktem Boden.

Jüngste Ereignisse im Kontext des Klimawandels

Meteorologische Dürre – definiert als reine Niederschlagsdefizite – und Bodenfeuchtedürre können sich im Klimawandel sehr unterschiedlich ändern, eine differenzierte Betrachtung ist deshalb wichtig. Seit dem Beginn des 21. Jh. häufen sich schwere Dürren in Europa. So gab es 2019 und 2015 die stärksten österreichweiten Niederschlagsdefizite im Sommer seit 1961, die meteorologische Dürre von 2003 war im Westen Österreichs die stärkste seit 1950 [6]. Im Frühling und Sommer 2018 waren vor allem der Westen und Norden Österreichs von der Rekorddürre in Mittel- und Westeuropa betroffen. Betrachtet man längere Zeiträume, zeigt sich allerdings die Bedeutung von natürlichen Klimaschwankungen für das Auftreten von Niederschlägen und somit meteorologischer Dürre. Dekaden mit ausgeprägten Niederschlagsdefiziten traten immer wieder auf, die stärksten Niederschlagsdefizite der letzten 210 Jahre gab es in den 1860er und 1940er Jahren [7].
Die Niederschlagsdefizite der letzten Jahre trafen aber mit einer in den letzten Jahrzehnten gestiegenen Verdunstung zusammen, so dass sich die Dürren der letzten Jahre zu sehr intensiven Bodenfeuchtedürren entwickelten. Die Trends zu mehr Verdunstung [8] lassen sich teilweise auf den Klimawandel, teilweise auf verbesserte Luftqualität seit den 1980er Jahren zurückführen.
Erstens ist durch sinkende Aerosolkonzentrationen die Sonnenscheindauer gestiegen [9]; zweitens sind die Temperaturen vor allem durch den menschgemachten Klimawandel, aber auch durch die sinkenden Aerosolkonzentrationen gestiegen [9]; und drittens ist, als direkte Folge der Temperaturänderungen, die Vegetationsperiode, während der die Pflanzen dem Boden Wasser entziehen, länger geworden [10].

Auch der Sommer 2022 war vor allem in Kärnten, der Steiermark, dem Burgenland und Wien sehr trocken, von der Rekordhitze und Dürre in weiten Teilen Europas wurde Österreich aber verschont. Auslöser dieses Klimaextrems war ein stabiles Hochdruckgebiet über den Britischen Inseln, der Klimawandel erhöhte die Temperaturen zusätzlich und verstärkte damit auch die Austrocknung des Bodens [11]. Vor allem Spanien, Frankreich und die Po-Ebene in Italien waren betroffen. Zum Auftreten der auslösenden Wetterlage finden sich jedoch keine Langzeittrends [12].

Sommerdürren der Zukunft

Auch bezüglich Klimaprojektionen muss zwischen den Niederschlagsdefiziten der meteorologischen Dürren und Bodenfeuchtedürren unterschieden werden.
Für Sommerniederschläge wird generell ein Rückgang über dem Alpenraum erwartet, nur wenige Klimamodelle simulieren eine leichte Zunahme [12]. Dieser Niederschlag wird außerdem an weniger Tagen fallen. Diesen Trends steht eine Zunahme des Niederschlags im Winter und Frühling entgegen [12]. Entscheidend für langanhaltende meteorologische Dürren ist die Häufigkeit und Dauer von blockierenden Hochdruckgebieten, die wiederum durch den polaren Jetstream bestimmt werden. Änderungen in diesen Wetterphänomenen sind jedoch mit großen Unsicherheiten behaftet [9], so dass unser Wissen über meteorologische Sommerdürren, definiert als reine Niederschlagsdefizite, im Klimawandel noch sehr begrenzt ist. Feuchte und trockene Dekaden werden jedoch immer wieder auftreten.

Mit steigenden Temperaturen wird die Verdunstung weiter zunehmen, so dass Bodenfeuchtedürren in Europa häufiger und länger auftreten und auch größere Flächen betreffen werden [13]. Diese Ergebnisse zeigen sich insbesondere auch für Österreich [14].

Douglas Maraun ist Leiter der Forschungsgruppe Regionales Klima an der Universität Graz

Laurenz Roither ist Mitarbeiter am Climate Change Centre Austria (CCCA)

CCCA Fact Sheet #45 | 2023, CC BY-NC-SA

Titelfoto: CIMMYT Images via flickr, CC BA-NC-SA


[1] Dai, A. (2011). Drought under global warming: a review. Wiley Interdisciplinary Reviews: Climate Change, 2(1), 45-65.
[2] Bastos, A., Ciais, P., Friedlingstein, P., Sitch, S., Pongratz, J., Fan, L., … & Zaehle, S. (2020). Direct and seasonal legacy effects of the 2018 heat wave and drought on European ecosystem productivity. Science advances, 6(24), eaba2724.
[3] Tallaksen, L.M., Van Lanen, H.A.J., 2023. Hydrological drought: processes and estimation methods for streamflow and groundwater, 2nd edition, Developments in water science. Elsevier. ISBN: 9780128190821.
[4] Van Loon, A. F., Gleeson, T., Clark, J., Van Dijk, A. I., Stahl, K., Hannaford, J., … & Van Lanen, H. A. (2016). Drought in the Anthropocene. Nature Geoscience, 9(2), 89-91.
[5] Yuan, X., Wang, Y., Ji, P., Wu, P., Sheffield, J., & Otkin, J. A. (2023). A global transition to flash droughts under climate change. Science, 380(6641), 187-191.
[6] Ionita, M., Tallaksen, L. M., Kingston, D. G., Stagge, J. H., Laaha, G., Van Lanen, H. A., … & Haslinger, K. (2017). The European 2015 drought from a climatological perspective. Hydrology and Earth System Sciences, 21(3), 1397-1419.
[7] Haslinger, K., & Blöschl, G. (2017). Space‐time patterns of meteorological drought events in the European Greater Alpine Region over the past 210 Years. Water Resources Research, 53(11), 9807-9823.
[8] Duethmann, D., & Blöschl, G. (2018). Why has catchment evaporation increased in the past 40 years? A data-based study in Austria. Hydrology and Earth System Sciences, 22(10), 5143-5158.
[9] IPCC (2021) Climate Change 2021: The Physical Science Basis. Contribution of Working Group I to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change.
[10] IPCC (2022) Climate Change 2022: Impacts, Adaptation and Vulnerability. Contribution of Working Group II to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change.
[11] Faranda, D., Pascale, S., & Bulut, B. (2023). Persistent anticyclonic conditions and climate change exacerbated the exceptional 2022 European-Mediterranean drought. Environmental Research Letters.
[12] Ritzhaupt, N., & Maraun, D. (2023). Consistency of seasonal mean and extreme precipitation projections over Europe across a range of climate model ensembles. Journal of Geophysical Research: Atmospheres, 128(1), e2022JD037845.
[13] Samaniego, L., Thober, S., Kumar, R., Wanders, N., Rakovec, O., Pan, M., … & Marx, A. (2018). Anthropogenic warming exacerbates European soil moisture droughts. Nature Climate Change, 8(5), 421-426.
[14] Haslinger, K., Schöner, W., Abermann, J., Laaha, G., Andre, K., Olefs, M., and Koch, R.: Apparent contradiction in the projected climatic water balance for Austria: wetter conditions on average versus higher probability of meteorological droughts, Nat. Hazards Earth Syst. Sci., 23, 2749–2768, https://doi. org/10.5194/nhess-23-2749-2023, 2023.

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COP28 – Erstmals: „…weg von fossilen Energiesystemen“
von Renate Christ

Lesedauer 4 Minuten.   

COP28 ist zu Ende und es ist Zeit Bilanz zu ziehen.

Die COP begann eher unerwartet mit einem positiven Schritt. Der Fonds für Verluste und Schäden, um den jahrelang – zuletzt in Scharm El-Scheich – gerungen wurde, wurde formell eingesetzt und mit finanziellen Zusagen gefüllt. Auch wenn die Summe von 700 Millionen US$ (zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Artikels) nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein kann, war es eine wichtige vertrauensbildende Maßnahme.

Global Stocktake

Haupttagesordnungspunkt dieser COP war die erste globale Bestandsaufnahme „Global Stocktake“ zur Frage: sind wir kollektiv auf dem Weg, die Ziele von Paris zu erreichen? Sie dient als Basis für die Entwicklung der nächsten nationalen Beiträge für den Zeitraum 2025 bis 2030. Das heißt man blickt zurück auf das, was seit Paris erreicht wurde und nach vorne, was notwendig ist, um die Ziele einzuhalten. Ein wesentlicher Punkt, war die Forderung nach einem Ausstieg aus fossilen Brennstoffen. Dies ist insofern bedeutsam, als in 30 Jahren internationaler Klimapolitik zwar viel über Emissionen und Konzentrationen geredet wurde, die eigentliche Ursache, nämlich die fossilen Brennstoffe aber nie direkt beim Namen genannt wurde. Entsprechend kontroversiell waren die Debatten und der letztendlich erzielte Kompromiss hat Stärken und Schwächen.

1,5°C Ziel ausdrücklich verankert

Klar ist, ohne Pariser Abkommen (PA) würde die Erwärmung noch stärker voranschreiten, nämlich auf nahezu 4°C. Wenn alle in den unter dem Pariser Abkommen vorgelegten nationalen Beiträge (NDC) vollinhaltlich umgesetzt werden ist ein Temperaturanstieg von 2,1°C bis 2,8°C zu erwarten. Dass sie wirklich voll umgesetzt werden, ist allerdings nicht immer anzunehmen. Auch Österreich hinkt den selbst gestellten Zielen hinterher. Das heißt, es passiert etwas, aber viel zu langsam und viel zu wenig. Die Wissenschaft sagt klar, die Auswirkungen von Klimaänderungen sind wesentlich geringer bei 1,5°C Erwärmung als bei 2°C. Daher kämpfen vor allem vulnerable Länder für die Einhaltung der 1,5°C Grenze. Allerdings sind dazu drastische Emissionsreduktionen in diesem Jahrzehnt – d.h. bis 2030, dem Zeitrahmen für die nächsten NDCs – nötig.

Wenn auch nicht formell bindend, sind das 1,5°C Ziel und die damit verbundenen Erfordernisse in der COP28 Entscheidung fest verankert, nämlich 43% Reduktion der Treibhausgase bis zum Jahr 2030, 60% Reduktion bis 2035 und Netto Null in 2050. Für alle weiteren Entscheidungen gibt das die Richtung an, sozusagen als „Polarstern“.

Umstieg weg von fossilen Energiesystemen

Der zentrale und hart umkämpfte Paragraph spricht erstmals von einem Umstieg weg von fossilen Energiesystemen in diesem kritischen Jahrzehnt (d.h. bis 2030), um Netto-Null in 2050 zu erreichen. Dieser Passus hat in einer früheren Version des von der Präsidentschaft vorgelegten Textes völlig gefehlt und auch alle anderen Maßnahmen wurden nur unter „könnte“ aufgezählt. Intensive Verhandlungen am letzten Tag haben endlich zu einem Kompromiss geführt, der ein klares Signal an die Wirtschaft sendet, dass das fossile Zeitalter zu Ende geht. Als weitere konkrete Maßnahmen werden eine Verdreifachung von erneuerbaren Energiequellen und eine Verdopplung der Energieeffizienz bis 2030 genannt, eine Verminderung von Methanemissionen und der Schutz von natürlichen Senken.

Schlupflöcher und der Einfluss der Öl-, Gas- und Kohlelobby

Problematisch sind allerdings einige Schlupflöcher, die den Einfluss der mächtigen Öl-, Gas- und Kohlelobby und einen wachsenden Einfluss der Atomlobby zeigen. Aber auch eine Reihe von Schwellenländern, vor allem solche die in den letzten Jahren stark in Kohlekraftwerke investiert haben oder Öl- und Gasvorkommen haben, haben Problem mit einer raschen Transformation und wollen flexiblere nationale Ausstiegspläne. So wird im Text die Rolle von Gas für die Energiesicherheit während des Umstiegs betont. Die Beendigung von Förderungen für fossile Brennstoffe wird auf „ineffiziente“ beschränkt und im Verkehrssektor wird nur von einer Reduktion der Emissionen gesprochen. Im Energiesektor wird die Nutzung von Kernenergie, CO2 Speicherung (Carbon Dioxide Capture Utilisation and Storage – CCUS) und sogenannte „low carbon“ Wasserstoffproduktion ausdrücklich erwähnt und statt Kohleausstieg findet man eine vage Formulierung zur Reduktion von „unabated“ Kohlekraftwerken, d.h. ohne CCUS. Die Erwähnung von CCUS ist insofern problematisch, als diese Technologie zwar seit Jahren bekannt ist, sich aber nie wirklich zur Marktreife entwickelt hat und ein Vertrauen darauf die Nutzung von fossilen Brennstoffen prolongieren könnte, ohne das angestrebte netto-null Ziel zu erreichen.

Abgesehen von den mit Technologien wie Kernkraft oder CCUS verbundenen Risiken und Kosten ist der Zeitraum für die Umsetzung in großem Umfang einfach zu lang, um innerhalb der 1,5°C Grenze zu bleiben. Wichtig wäre auch, und das fehlt im Schlussdokument, dass in keine neuen Kohleminen, Öl- und Gasbohrungen und andere fossile Infrastruktur investiert wird. So haben Investitionen in Flüssiggasterminals und Gasinfrastruktur in vielen Industriestaaten, auch in Österreich, zu einem gewissen Vertrauensverlust geführt. Es geht jetzt darum, wie konsequent Länder den Ausstieg aus fossiler Energie angehen, ohne Kompromisse und sogenannte Übergangstechnologien. Zu bemerken ist die immer stärker werdende Rolle der Zivilgesellschaft in der Klimapolitik, die in Dubai auf eine klare Entscheidung gepocht hat, damit ambitionierten Ländern den Rücken gestärkt hat und die hoffentlich auch konsequentes Handeln einfordern wird.

Klimawandelanpassung

Ein weiterer Fortschritt dieser Konferenz ist die Einigung auf Rahmenbedingungen für ein globales Ziel für Klimawandelanpassung. Dies ist wichtig, um gezielte Maßnahmen zur Verminderung von klimabedingten Risiken zu identifizieren, zu planen und umzusetzen und dadurch Verluste und Schäden zumindest verringern zu können.

Klimafinanzierung

Wie bisher waren auch Fragen der Finanzierung zentral, wobei das Thema sehr komplex ist, beginnend mit der Frage: was ist eigentlich Klimafinanzierung? Obwohl eine Reihe von neuen Finanzierungszusagen gemacht wurde, reichen die Summen bei weitem nicht aus, um Entwicklungsländer bei der Transformation weg von fossilen Brennstoffen und den notwendigen Anpassungsmaßnahmen entsprechend zu unterstützen, ohne die Schuldenlast zu erhöhen. Finanzierung ist daher einer der wichtigsten Tagungsordnungspunkte für COP29, die im November 2024 in Baku, Aserbaidschan stattfinden wird. Wichtig wird COP30, die in Belem in Brasilien stattfinden wird, denn bis dahin müssen die neuen und verschärften nationalen Beiträge vorgelegt werden. Es ist viel zu tun in den nächsten zwei Jahren.

Renate Christ ist selbstständige Beraterin für Klimawandel und Umweltservices. Sie leitete mehr als zehn Jahre lang das Sekretariat des IPCC.

Titelfoto: CNCD-11.11.11, CC BY-NC-SA

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