Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Universitäten, Forschungseinrichtungen und Disziplinen versammelten sich am 6.5.2024 vor der Parteizentrale der NEOS, um auf das Sicherheitsrisiko Klimakrise aufmerksam zu machen und eine effektive, wissenschaftsbasierte und sozial gerechte Klimapolitik einzufordern. Prof. Sigrid Stagl, Ökonomin an der Wirtschaftsuniversität Wien und Prof. Reinhard Steurer, Professor für Klimapolitik an der BOKU Wien, analysierten die klimapolitische Strategie der NEOS aus dem Blickwinkel ihrer jeweiligen Fachgebiete. “Das Beispiel der LED-Lampe zeigt dies deutlich: Auch Verbote führen zu Innovationen – und sind damit auch ein wichtiger Teil der Lösung in der Klimakrise. Leider ist das bei den NEOS nicht angekommen. Sonst zeichnen sie sich oft durch rationale Ansätze aus”, resümiert Sigrid Stagl.
Am 28. April, drei Tage vor dem internationalen Tag der Arbeit, wird in vielen Ländern der Workers Memorial Day begangen, zum Gedenken an Lohnarbeiter:innen, die bei der Arbeit getötet, verstümmelt, verletzt wurden oder erkrankt sind. Der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) hat diesen Tag heuer unter das Thema „Klimarisiken für Arbeitnehmer:innen“ gestellt.
Workers Memorial Day: Remember the dead, fight for the living! Foto: Trade Union Congress
Extreme Wetterbedingungen gefährden die Sicherheit am Arbeitsplatz und die Gesundheit der Arbeitnehmer:innen in der Landwirtschaft, auf dem Bau und in anderen Berufen, wo sie im Freien arbeiten. Hitzebedingte Todesfälle und Krankheiten sind stark angestiegen. Die Arbeit bei extremen Wetterbedingungen macht besonders müde und daher anfällig für Unfälle und Verletzungen. Stressbedingte Krankheiten nehmen zu. Während der Hitzewellen im Jahr 2023 starben Berichten zufolge unter anderem Postangestellte und Zustellfahrer:innen während der Arbeit an Hitzschlag. Es gibt echte Gründe zur Besorgnis darüber, dass weder Arbeitgeber noch Aufsichtsbehörden das Problem mit der nötigen Ernsthaftigkeit behandeln.
Ein Report1 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) vom September 2023 hält fest: „Der Klimawandel hat zahlreiche gesundheitliche Auswirkungen auf Arbeitnehmer, darunter Verletzungen, Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Atemwegserkrankungen und Auswirkungen auf ihre psychosoziale Gesundheit. Die geschätzte Zahl der Todesfälle unter der Weltbevölkerung im erwerbsfähigen Alter aufgrund der Einwirkung heißer Temperaturen ist gestiegen.“
Deshalb fordert der Internationale Gewerkschaftsbund robuste Richtlinien und Praktiken, um die arbeitende Bevölkerung vor den gefährlichen Auswirkungen des Klimawandels zu schützen. Klimarisikobewertungen und Notfallvorsorge müssen in die Arbeitssicherheits- und Gesundheitsstandards integriert werden. Dazu gehören Konsultationen mit Gewerkschaften, die Durchführung umfassender Sicherheitsschulungen und die Durchsetzung strenger Sicherheitsstandards, um die mit extremen Wetterbedingungen verbundenen Risiken zu mindern. „Im Mittelpunkt steht dabei die Demokratie, denn Demokratie am Arbeitsplatz bedeutet, dass den Arbeitnehmern zugehört wird und sie zu ihrer eigenen Sicherheit beitragen können“, so der Generalsekretär des IGB Luc Triangle.
Es ist nicht nur das veränderte Klima, das zu gesteigerter Gefährdung der Arbeitenden führt, es sind auch die globalen Machtverhältnisse. In einer 2024 in den Annals of the American Association of Geographers2 veröffentlichten Studie über den südostasiatischen Ziegelgürtel untersuchten Forscher:innen aus Großbritannien und Südostasien, wie der Rückgang der Ziegelproduktionskapazität im Vereinigten Königreich nach der Finanzkrise von 2008 zu einem steilen Anstieg der Ziegelimporte, von außerhalb der EU, geführt hat. Ziegel werden in Indien während der heißesten Zeit des Jahres hergestellt. Während dieser Zeit sind die Arbeiter gezwungen, in der intensiven, direkten Sonneneinstrahlung zu arbeiten und haben kaum Zugang zu Schatten. Viele der Arbeitenden in der Industrie stehen in Schuldknechtschaft und sind – oft gemeinsam mit ihren Familien – gezwungen, unter ungesunden und manchmal tödlichen Bedingungen zu arbeiten, um Zinsen für langfristige Schulden bei den Besitzern der Brennöfen zu begleichen3.
Frauen in Tamil Nadu: Arbeit in extremer Hitze erhöht das Risiko von Früh- und Fehlgeburten Foto: Internationale Arbeitsorganisation
Zwei Millionen Lebensjahre verloren durch hitzebedingte Unfälle
Mit steigender Temperatur steigt auch die Unfallrate am Arbeitsplatz. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) der Vereinten Nationen schätzt, dass Hitze am Arbeitsplatz im Jahr 2020 weltweit 23 Millionen Arbeitsunfälle und 19.000 Todesfälle verursacht hat und insgesamt 2 Millionen behinderungsbereinigte Lebensjahre (Disability Adjusted Life Years, DALYs) gekostet hat.
Eine UCLA-Studie4 aus dem Jahr 2021 ergab, dass selbst ein geringfügiger Anstieg der Temperaturen am Arbeitsplatz in Kalifornien zu 20.000 zusätzlichen Verletzungen pro Jahr führte, was gesellschaftliche Kosten in Höhe von 1 Milliarde US-Dollar verursachte.
Die Studie ergab, dass Arbeiter:innen an Tagen mit Temperaturen über 32 °C ein um 6 bis 9 Prozent höheres Verletzungsrisiko haben, als an Tagen mit kühleren Temperaturen. Wenn das Thermometer 38 °C überschreitet, steigt das Verletzungsrisiko um 10 bis 15 Prozent.
In einem Artikel aus dem Jahr 2019 im American Journal of Industrial Medicine heißt es: „Unter Bauarbeitern, die 6 Prozent der arbeitenden Bevölkerung ausmachen, geschahen zwischen 1992 und 2016 in den USA 36 Prozent aller berufsbedingten hitzebedingten Todesfälle. Die Durchschnittstemperaturen von Juni bis August stiegen im Untersuchungszeitraum allmählich an. Steigende Sommertemperaturen von 1997 bis 2016 waren mit höheren hitzebedingten Sterberaten verbunden.“
Auch die Arbeit in der Landwirtschaft ist ein Beruf mit hohem Risiko. Ein Artikel im American Journal of Industrial Medicine5 aus dem Jahr 2015 kam zu dem Schluss, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Landarbeiter an hitzebedingten Todesfällen sterben, 35-mal höher ist als bei Arbeitern in anderen Berufen.
Die Lasten der Arbeit unter schlechten Bedingungen tragen die Arbeitnehmer:innen, ihre Familien und Gemeinschaften. Aber auch die Auswirkungen auf die Gewinne sind beträchtlich: Bei hohen Temperaturen verringert sich die Arbeitsproduktivität, weil es entweder zu heiß zum Arbeiten ist oder die Arbeiter langsamer arbeiten müssen. Im Jahr 2019 prognostizierte die ILO6, dass bis 2030 weltweit 2,2 Prozent der Gesamtarbeitszeit durch hohe Temperaturen verloren gehen werden – ein Produktivitätsverlust, der 80 Millionen Vollzeitarbeitsplätzen entspricht. Bis 2030 könnte das die weltweite Wirtschaftsleistung um 2,4 Milliarden USD verringern.
Hitzebedingte Krankheiten
Eine globale ILO-Analyse von Klimamodellen, globalen Temperaturprognosen, Arbeitskräftedaten und arbeitsmedizinischen Informationen aus dem Jahr 2024 ergab, dass im Jahr 2020 mindestens 2,41 Milliarden Vollzeitbeschäftigte der Hitze am Arbeitsplatz ausgesetzt waren. Für viele kann dies ernsthaft gesundheitsschädlich sein.
Der Schweregrad hitzebedingter Erkrankungen reicht von leichtem Hitzeausschlag und Schwellungen über Hitzestress und Hitzeerschöpfung bis hin zu schwerwiegenden und möglicherweise tödlichen Erkrankungen wie Rhabdomyolyse (Muskelschäden), akuter Nierenschädigung, Hitzschlag und durch Hitzestress verursachten Herzstillstand. Arbeitnehmer mit Vorerkrankungen wie Diabetes, Lungen- oder Herzerkrankungen können besonders gefährdet sein7.
Eine kürzlich bekanntgewordene chronische Nierenerkrankung (CKDu), wurde bei Bananenarbeitern und anderen Personen beobachtet, die schwere Handarbeit bei heißen Temperaturen verrichten. Diese Krankheit tötet jedes Jahr Tausende. Ein Artikel aus dem Jahr 2016 im Clinical Journal der American Society of Nephrology8 deutete darauf hin, dass CKDu eine der ersten durch den Klimawandel verursachten Epidemien darstellen könnte.
Gemeinsame Schätzungen von WHO und ILO, die 2023 in der Zeitschrift Environment International9 veröffentlicht wurden, gehen davon aus, dass im Jahr 2019 weltweit 1,6 Milliarden Arbeitnehmer beruflich der UV-Strahlung der Sonne ausgesetzt waren, „was 28,4 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter entspricht“. Es ist der häufigste berufsbedingte Krebsrisikofaktor, wenn Arbeitnehmer routinemäßig Konzentrationen ausgesetzt sind, die über den empfohlenen Tagesgrenzwerten liegen.
UV-Strahlung kann auch zu irreversiblen Schäden an den Augen führen, entweder durch Schädigung durch sehr hohe kurzfristige Belastung oder durch langfristige Belastung, was zu Makuladegeneration, Augentumoren und grauem Star führt.
Studienergebnisse, die im April 2024 im International Journal of Obstetrics & Gynaecology10 veröffentlicht wurden, besagen, dass die Arbeit bei extremer Hitze das Risiko einer Tot- und Fehlgeburt bei schwangeren Frauen verdoppeln kann. An der Studie nahmen 800 schwangere Frauen im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu teil, die alle mittlere bis schwere Arbeit verrichteten.
Auch Arbeiter:innen in geschlossenen Räumen können gefährdet sein. Erdrückende Temperaturen, insbesondere dort, wo Prozesse Hitze erzeugen, wie Bäckereien, Gießereien, Wäschereien und Glashütten, können die Konzentration beeinträchtigen und möglicherweise ernsthafte körperliche und geistige Belastungen verursachen.
Extremwetter
In Kentucky starben 2021 acht Arbeiter:innen, als die Kerzenfabrik Mayfield Consumer Products durch einen Tornado dem Erdboden gleichgemacht wurde. Man hatte ihnen mitgeteilt, dass sie entlassen würden, wenn sie den Arbeitsplatz verlassen würden. Die US-Sicherheitsbehörde OSHA verhängte gegen das Unternehmen eine Geldstrafe von 40.000 US-Dollar wegen sieben „schwerwiegender“ Sicherheitsverstöße im Zusammenhang mit den Todesfällen.
Am selben Tag starben sechs Arbeiter:innen, als ein von einem Tornado heimgesuchtes Amazon-Lagerhaus in Edwardsville, Illinois, einstürzte. In einer Erklärung der Einzelhandels-, Großhandels- und Kaufhausgewerkschaft (RWDSU)11 wurde Amazon dafür kritisiert, dass es von seinen Arbeitern verlangt habe, während eines großen Tornados weiterzuarbeiten.
Waldbrände – die infolge des Klimawandels viel häufiger auftreten – können tödlich sein, wobei Rettungskräfte besonders gefährdet sind. Es sind nicht nur die Hitze und die Flammen – auch der Rauch ist ein echter Killer. Im Jahr 2023 erlangten die spanischen Gewerkschaften, die Feuerwehrleute der Andalusischen Umwelt- und Wasserbehörde vertreten, die Anerkennung, dass der Rauch krebserregend ist.
Laut der Sicherheitsforschungsbehörde der US-Regierung NIOSH12 gehört zu den häufigsten Gefahren, denen Feuerwehrleute bei der Arbeit an der Feuerlinie ausgesetzt sind, „vom Feuer eingeschlossen zu werden, hitzebedingte Krankheiten und Verletzungen, Rauchvergiftung, fahrzeugbedingte Verletzungen (einschließlich Flugzeuge), Ausrutschen, Stolpern und Stürze “ Darüber hinaus besteht bei ihnen aufgrund längerer intensiver körperlicher Anstrengung möglicherweise ein „Risiko für plötzlichen Herztod und Rhabdomyolyse“.
Überschwemmungen können den Transport für alle Arbeitnehmer:innen gefährlich machen und ein erhöhtes Infektionsrisiko mit sich bringen. Je nachdem, wo auf der Welt sie sich befinden, kann das alles sein, von Erkältungen bis hin zu Cholera. Landarbeiter:innen könnten bei Überschwemmungen einen gefährlichen oder gar keinen Job mehr haben.
Überschwemmungen können auch ein Risiko durch Krankheiten im Zusammenhang mit dem Rückfluss von Abwasser darstellen. Risiken durch Trümmer wie umgestürzte Bäume oder eindringendes Wasser, die die elektrische Sicherheit oder den Brandschutz gefährden, können die Arbeit gefährlich oder unmöglich machen.
Bei Aufräumarbeiten besteht die Gefahr von Verletzungen durch Trümmer oder durch mit Chemikalien kontaminierte Materialien, und von Infektionen durch ungeklörte Abwässer. Foto: Internationale Arbeitsorganisation
Luftverschmutzung
Luftverschmutzung und Smogereignisse können zu akuten und langfristigen Gesundheitsrisiken führen. In einem Artikel aus dem Jahr 2023 im Journal of Occupational and Environmental Hygiene13 wurde darauf hingewiesen, dass sich die zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels auf die Luftschadstoffwerte unverhältnismäßig stark auf Arbeiter auswirken werden, die im Freien arbeiten, da sie stärker Feinstaub, Ozon und Allergenen ausgesetzt sind. „Diese Studie zeigt, dass Arbeitnehmer:innen im Zusammenhang mit dem Klimawandel einer erhöhten Morbidität und Mortalität ausgesetzt sind.“
Und der Klimawandel kann die alltäglichen Gefahren am Arbeitsplatz verschlimmern. Der ILO-Leitfaden 2023 zu Risiken, die von Chemikalien als Folge des Klimawandels ausgehen14, warnt davor, dass zu den unvorhergesehenen Risiken ein erhöhter Einsatz gefährlicher Pestizide gehören kann, um veränderte Auswirkungen von Schädlingen auf Nutzpflanzen und Nutztiere zu bewältigen. Viele Prozesse, wie etwa Gießereien, Hochöfen oder die chemische Produktion, sind für den kontinuierlichen Betrieb ausgelegt. Extreme Wetterereignisse können diese Prozesse oder wesentliche Sicherheitsmaßnahmen unterbrechen und möglicherweise verheerende Folgen haben.
Arbeiter:innen, die an Rettungs-, Aufräum- und Wiederherstellungsmaßnahmen nach extremen Wetterereignissen beteiligt sind, können einem hohen Risiko ausgesetzt sein, da sie zwangsläufig unter den gefährlichsten Bedingungen und oft stundenlang arbeiten müssen, manchmal ohne die notwendige Unterstützung und Schutzausrüstung.
Systemrelevante Arbeitskräfte – diejenigen, die unsere Gesundheitsfürsorge, den Transport, die Ernährung und andere lebens- und gesellschaftserhaltende Dienstleistungen erbringen – sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt, da sie auch unter extremen Bedingungen arbeiten müssen, unter normalen Umständen jedoch möglicherweise nicht als besonders gefährdet gelten und daher eventuell nicht über die erforderliche Ausbildung, Schutzkleidung oder Ausrüstung verfügen.
Infektionen
Auch am Arbeitsplatz stellen Infektionen eine zunehmende Bedrohung dar. „Die Klimakrise, die Urbanisierung und die veränderte Landnutzung wirken sich auf die Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz aus und haben dazu geführt, dass biologische Gefahren neue Risiken oder Risiken an neuen Orten mit sich bringen“, heißt es in einem Briefing15 des IGB vom Dezember 2023 zu biologischen Gefahren.
Der Policy Brief der ILO vom September 2023 „Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz in einem gerechten Übergang“16 warnt: „Risiken durch vektorübertragene Krankheiten wie Malaria oder Dengue-Fieber werden mit steigenden Temperaturen zunehmen, einschließlich möglicher Verschiebungen in der geografischen Verbreitung diese Vektoren als Folge des Klimawandels.“
„Diese Entwicklung betrifft alle Arbeiter, insbesondere Outdoor-Arbeiter, bei denen ein höheres Risiko besteht, sich durch Vektoren wie Mücken, Flöhe und Zecken übertragene Krankheiten anzustecken.“
Das Recht unsichere und gefährliche Arbeit zu verweigern
Mit der Verschärfung der Klimakrise werden Arbeitnehmer zunehmend mit natürlichen Gefahren am Arbeitsplatz konfrontiert sein, warnte ein Bericht des US-amerikanischen National Employment Law Project17. Es wird argumentiert, dass Arbeitnehmer zunehmend von ihrem Recht Gebrauch machen müssen, gefährliche Arbeit zu verweigern – und darüber hinaus zusätzliche neue Rechte benötigen. „Sie müssen ein echtes Recht haben, angesichts von Naturkatastrophen gefährliche Arbeit zu verweigern, und dies muss durch Bestimmungen zum Schutz vor Vergeltungsmaßnahmen und umfangreiche Leistungen der Arbeitslosenversicherung unterstützt werden.“
Artikel 13 der ILO-Konvention 155 über Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz besagt, dass alle Arbeitnehmer, die glauben, dass ihre Arbeit „eine unmittelbare und ernsthafte Gefahr“ für das Leben darstellt, „im Einklang mit den nationalen Bedingungen und Praktiken vor unangemessenen Folgen geschützt werden müssen.“ Artikel 19 fügt hinzu: „Ein Arbeitnehmer meldet unverzüglich seinem unmittelbaren Vorgesetzten jede Situation, von der er begründet annehmen kann, dass sie eine unmittelbare und ernsthafte Gefahr für sein Leben oder seine Gesundheit darstellt. Bis der Arbeitgeber erforderlichenfalls Abhilfemaßnahmen ergriffen hat, kann der Arbeitgeber nicht verlangen, dass die Arbeitnehmer an einen Arbeitsplatz zurückkehren, an dem weiterhin eine unmittelbare und ernsthafte Gefahr für Leben oder Gesundheit besteht.“
Selbst wenn Treibhausgas-Emissionen ab heute drastisch reduziert würden, müsste die Weltwirtschaft aufgrund des Klimawandels bis 2050 bereits mit einem Einkommensverlust von 19 Prozent rechnen. Das zeigt eine Studie, die jetzt in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht wurde. Die Forschenden schätzen die jährlichen Schäden im Jahr 2050 auf weltweit rund 38 Billionen Dollar. Maßnahmen zur Begrenzung des Klimawandels auf 2°C würden nur ein Sechstel davon kosten.
Die Forschenden des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung haben für diese Studie empirische Daten aus mehr als 1.600 Regionen über die letzten 40 Jahre analysiert.
„Für die meisten Regionen, darunter Nordamerika und Europa, werden hohe Einkommensverluste vorhergesagt, wobei Südasien und Afrika am stärksten betroffen sind“, sagt PIK-Forscher und Erstautor der Studie Maximilian Kotz. „Diese Verluste werden durch unterschiedlichste wirtschaftsrelevante Wirkungen des Klimawandels verursacht, wie zum Beispiel Folgen für landwirtschaftliche Erträge, Arbeitsproduktivität oder Infrastruktur.“ Insgesamt schätzen die Forschenden die jährlichen Schäden im Jahr 2050 auf weltweit rund 38 Billionen Dollar. „Diese Schäden resultieren hauptsächlich aus dem Temperaturanstieg, aber auch aus Veränderungen bei den Niederschlägen und der Temperaturvariabilität. Die Berücksichtigung anderer Wetterextreme wie Stürme oder Waldbrände könnte sie noch weiter erhöhen“, so Kotz.
Enorme wirtschaftliche Kosten auch für die Vereinigten Staaten und die Europäische Union
„Unsere Studie zeigt, dass der Klimawandel innerhalb der nächsten 25 Jahre in fast allen Ländern der Welt massive wirtschaftliche Schäden verursachen wird, auch in Ländern wie Deutschland, Frankreich und den Vereinigten Staaten“, sagt PIK-Forscherin Leonie Wenz, die die Studie leitete. „Diese Schäden innerhalb der nächsten Jahre sind eine Folge unserer bisherigen Emissionen. Wenn wir zumindest einige davon vermeiden wollen, brauchen wir mehr Anpassungsmaßnahmen. Zusätzlich müssen wir unsere CO2-Emissionen drastisch und sofort reduzieren – andernfalls werden die wirtschaftlichen Verluste in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts noch höher sein und bis Ende des Jahrhunderts im globalen Durchschnitt bis zu 60 Prozent betragen. Es kostet uns viel weniger, das Klima zu schützen, als dies nicht zu tun – und zwar selbst dann, wenn man nur rein wirtschaftliche Auswirkungen berücksichtigt und weitere Folgen wie die Verluste von Menschenleben oder der biologischen Vielfalt außen vor lässt.“
Bisherige Prognosen der durch den Klimawandel verursachten globalen wirtschaftlichen Schäden haben sich hauptsächlich auf die Folgen des Anstiegs der Jahresmitteltemperatur auf Länderebene fokussiert und lange Zeiträume betrachtet. In der vorliegenden Studie nutzte das Forschungsteam hingegen neueste empirische Erkenntnisse darüber, wie Wetterextreme und -änderungen das Wirtschaftswachstum in mehr als 1.600 subnationalen Regionen weltweit in den letzten 40 Jahren beeinflusst haben. Auf diese Weise konnten die Forschenden die durch Temperatur- und Niederschlagsveränderungen zu erwartenden zukünftigen Schäden zeitlich und räumlich sehr detailliert beziffern. Zudem berücksichtigten sie, wie lange sich die Klimafolgen in der Vergangenheit auf die Wirtschaft ausgewirkt haben. Indem sie sich dann auf die nächsten 26 Jahren konzentrierten, konnten sie Unsicherheiten reduzieren, die mit langfristigen Projektionen verbunden sind. Dafür kombinierte das Team die empirischen Ergebnisse mit Simulationen von 21 Klimamodellen der neusten Generation.
Länder, die den Klimawandel am wenigsten verursacht haben, sind am stärksten betroffen
„Unsere Studie verdeutlicht die erhebliche Ungleichheit der Klimafolgen: Zwar stellen wir fast überall Auswirkungen fest, insgesamt das 80-fache des derzeitigen Bundeshaushalts von Deutschland, aber die tropischen Länder sind am meisten betroffen. Weil es dort bereits wärmer ist, schlägt dort der Klimawandel am heftigsten zu. Die Länder, die am wenigsten für den Klimawandel verantwortlich sind, werden voraussichtlich Einkommensverluste erleiden, die 60 Prozent höher sind als in den Ländern mit höherem Einkommen und 40 Prozent höher als in den Ländern mit höheren Emissionen. Sie verfügen auch über die geringsten Ressourcen, um sich an die Klimafolgen anzupassen. Die Entscheidung liegt bei uns: Ein Strukturwandel hin zu einem erneuerbaren Energiesystem ist für unsere Sicherheit notwendig und ist auch die ökonomisch vernünftige Lösung. Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird der Klimawandel zu katastrophalen Folgen führen. Die Temperatur des Planeten kann nur stabilisiert werden, wenn wir aufhören Öl, Gas und Kohle zu verbrennen“, sagt Anders Levermann, Leiter der Forschungsabteilung Komplexitätsforschung am PIK und Autor der Studie.
Artikel: Maximilian Kotz, Anders Levermann, Leonie Wenz (2024): The economic commitment of climate change. Nature. [DOI: 10.1038/s41586-024-07219-0]
An die 100 österreichische Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Fachrichtungen fordern Politik auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Klimakrise. Bei einer öffentlichen Pressekonferenz am 4. April 2024 machten sie auf das Sicherheitsrisiko durch unzureichende Klimapolitik aufmerksam, und verlangten Politik mit Sachverstand im Super-Wahljahr. “Es geht um die Zivilisation, wie wir sie kennen – um Zivilisationsschutz. Wir hoffen, dass die ÖVP eine einer staatstragenden Partei entsprechende Klimapolitik entwickelt – und das noch vor den EU und NR Wahlen” so Dr. Nicolas Roux von der Universität für Bodenkultur Wien.
In der ehemaligen Fabrik des Autozulieferers GKN Automotive in Campo Bisenzio bei Florenz sollen nun statt Achsschäften für schwere Autos klimafreundliche Lastenfahrräder und umweltfreundliche Solarpaneele und Batterien gebaut werden. Das planen die Beschäftigten, die das Werk seit zweieinhalb Jahren besetzt halten. Unterstützt werden sie dabei von einem breiten Bündnis von Klima-Aktivist:innen, Wissenschaftler:innen und großen Teilen der Bevölkerung.
Kündigung per Email
Am 9. Juni 2021 erhielt die gesamte Belegschaft per Email die Kündigung. Drei Jahre zuvor hatte die Beteiligungsgesellschaft Melrose Industries das britische Traditionsunternehmen GKN übernommen und in mehrere eigenständige Unternehmen aufgeteilt. Schon damals schlossen sich an die hundert Beschäftigte zum Collettivo di Fabbrica GKN zusammen. Das Motto von Melrose „Buy, Improve, Sell“ ließ sie vermuten, dass das Unternehmen zerschlagen werden sollte.
Am Tag des Kündigungsschreibens besetzten sie die Fabrik und beschlossen eine unbefristete Betriebsversammlung abzuhalten. Dadurch erhielt die Besetzung einen legalen Rahmen. Es ging zunächst darum, den Abtransport der Maschinen im Wert von vielen Millionen Euro und der noch lagernden Achsen zu verhindern.
GKN factory occupation needs YOUR help to start green production under workers control
Zusammenarbeit mit der Wissenschaft
Gemeinsam mit Wissenschaftler:innen der Universität Pisa erarbeiteten sie einen „Reindustrialisierungsplan“ mit zwei unterschiedlichen Szenarien: Die modernen Maschinen der Fabrik könnten Achsen statt für PKWs für Busse oder Züge produzieren. Das zweite Szenario war radikaler: Die Fabrik könnte auf die Erzeugung von Elektrolyseanlagen für die Herstellung von grünem Wasserstoff umgerüstet werden. Der Plan betonte, dass er den Leitlinien des EU-geförderten italienischen „Aufbau- und Resilienzplans“ (PNRR) entsprach und in diesem Rahmen öffentlich gefördert werden konnte.
Gemeinsam für Arbeitsplätze und Klima
Gleichzeitig suchte das Kollektiv den Kontakt mit Klimaaktivist:innen. Im Herbst 2021 nahm es an den Protesten gegen den G20-Gipfel in Italien teil. Im September 2022 organisierte es gemeinsam mit Fridays for Future den Klimastreik in Florenz mit 40.000 Teilnehmer:innen.
In einer gemeinsamen Erklärung heißt es:
„Wir werden nie wieder zulassen, dass Verlagerungen, Entlassungen und Prekarität unter dem Vorwand der Klimakrise gerechtfertigt werden. Wir werden auch nicht zulassen, dass eine Verzögerung oder Umgehung des ökologischen und klimatischen Übergang mit der Verteidigung der bestehenden Arbeitsplätze gerechtfertigt wird.“
Zermürbungstaktik
Ein neuer Besitzer versprach im Dezember 2021 einen Transformationsplan, der sich auf erneuerbare Enegien stützen sollte, und und zahlte den Arbeiter:innen auch bis November 2022 ein „Transformationsgeld“. Alle Arbeitsplätze sollten erhalten bleiben.
Das Arbeiter:innenkollektiv vermutete von Anfang an, dass es dem neuen Eigentümer nur darum ging, Zeit zu gewinnen – und das mit Hilfe öffentlicher Gelder. Das würde bedeuten, vom Staat Gelder für Personalentlassungen zu bekommen, dem Werk Maschinen im Wert von mehreren Millionen Euro zu entziehen, darauf zu warten, dass die Mobilisierung der Arbeiter:innen nachlassen und sie nach einem Jahr der Ungewissheit bei 60 Prozent Gehalt gehen würden.
Ab da erhielten die Arbeiter:innen keinen Lohn, aber – da über ihre Klage auf Lohnfortzahlung nicht entschieden war – auch kein Arbeitslosengeld. Viele mussten sich neue Jobs suchen, unterstützten aber weiter die Bewegung.
Reindustrialisierung von unten
Nachdem sie ein Jahr lang hingehalten wurden, gaben die Arbeiter:innen die Hoffnung auf öffentliche Unterstützung für den Reindustrialisierungsplan auf und begannen mit dem Projekt der „Reindustrialisierung von unten“. Gemeinsam mit der Forscher:innengruppe erstellten sie den „Lebenslauf“ der Fabrik, kartierten das Fabriklayout, inventarisierten alle Maschinen und die logistische Infrastruktur. Mit diesem Wissen untersuchten sie verschiedene Projekte, bei denen sie die vorhandenen Maschinen und Fähigkeiten für die Umstellung auf nachhaltige Mobilität und erneuerbare Energien nutzen konnten. Dazu wurde die Möglichkeit der Entwicklung von Lastenfahrrädern untersucht, sowohl für die Nahlogistik als auch für den Warenumschlag in großen Lagerhäusern. Der erste vollständig „made in GKN“-Prototyp eines Lastenfahrrads, lackiert in den Farben der A-Liga Fußballmannschaft von Florenz, wurde im Februar 2023 präsentiert, mit begeisterten Rezensionen von Fachzeitschriften wie Bike Italia.
Gleichzeitig präsentierten sie ihren Vorschlag für die Umwandlung des Werks in eine Solidargemeinschaft für erneuerbare Energien. Dafür sollen auch siliziumfreie Solarpaneele und kobalt- und lithiumfreie Batterien entwickelt und erzeugt werden. Sobald das Kerngeschäft in Betrieb ist und berechnet wird, wie viel Energie benötigt wird, um es am Laufen zu halten, kann die überschüssige Produktion wieder in das allgemeine Netz eingespeist werden, wovon das gesamte Gebiet profitieren soll.
Übernahme durch die Beschäftigten
Nahezu zeitgleich, ebenfalls im Februar 2023, gab der Besitzer die Liquidation der Firma bekannt. Die Antwort der Beschäftigten darauf ist der Plan, den Betrieb in eine Genossenschaft umzuwandeln. Die gesetzliche Grundlage dafür ist in Italien das Macora-Gesetz von 1985. Es regelt das Vorkaufsrecht der Belegschaft bei Betriebsschließungen wegen Insolvenz oder aus anderen Gründen und ermöglicht die Fortführung des Unternehmens als Mitarbeitergenossenschaft. Einige Hundert solcher Unternehmenssanierungen sind seit dem Erlass gelungen.
Ein Unternehmen fürs Gemeinwohl
Doch die GKN-Beschäftigten wollen das Modell erweitern: Durch die aktive Beteiligung der Bevölkerung soll garantiert werden, dass das neue Unternehmen gemeinwohlorientiert arbeitet: „Wir wollen die Region, welche es uns ermöglicht hat, so lange Widerstand zu leisten, in die Verwaltung der ersten öffentlichen, nachhaltigen und gemeinwohlorientierten Fabrik Italiens einbeziehen“, heißt es in dem Plan.
In einem ersten Schritt starteten die Arbeiter:innen mit Unterstützung von Fridays for Future und ein Crowdfunding, um die Kosten der Genossenschaftsgründung und die Akquisition von Fördermitteln zu finanzieren, weiters die Kreditraten für die neuen Produktionsanlagen und Unterstützung der ersten Mitglieder, die die gesetzlich vorgeschriebenen Genossenschaftsanteile von 4.000 Euro aufbringen müssen. Die angestrebten 75.000 Euro wurden um fast 100.000 Euro übertroffen.
Zehntausend Mal hundert
Die laufende Phase ist das Kapital-Crowdfunding (Equity Crowdfunding), das eine Million Euro aufbringen soll. Es richtet sich an Bürger:innen, Verbände, Bewegungen, Arbeiter:innen, Gewerkschaftsmitglieder und solidarische Aktivist:innen. 10.000 Anteile zu je 100 Euro werden ausgegeben, jedoch müssen mindestens fünf Anteile erworben werden. Die Stückelung in Anteile zu 100 Euro soll es Menschen oder Vereinen, die nicht mehr aufbringen können, ermöglichen, gemeinsam mit anderen Anteile zu kaufen. Bis zum Juni 2024 soll diese erste Million aufgebracht werden. Mehr Informationen zur Zeichnung gibt es hier.
Inzwischen gibt es drei Prototypen des Lastenfahrrads: ein muskelbetriebenes und zwei elektrische Räder (davon eines für Frachtladung und eines für den „häuslichen“ Gebrauch). Die Prototypen werden derzeit in den Straßen von Florenz von der ethischen/fairen Liefergenossenschaft Robin Food eingesetzt. Das Fahrrad heißt „Insorgiamo!“ – „Erheben wir uns!“
Zu diesem Schluss kommt die jüngste Analyse von Transport & Environment (T&E), die Dachorganisation von nichtstaatlichen europäischen Organisationen, die sich für einen nachhaltigen Verkehr einsetzen. Die europäischen Verkehrsemissionen sind seit 1990 um mehr als ein Viertel gestiegen, und die T&E-Analyse zum Stand des europäischen Verkehrs kommt zu dem Ergebnis, dass die Emissionen in der gesamten Wirtschaft zwar bereits rückläufig sind, die Verkehrsemissionen jedoch weiter steigen. Europa muss beginnen, sein Verkehrsemissionsproblem ernst zu nehmen, wenn es im Jahr 2050 Netto-Null erreichen will, sagt T&E.
Dekarbonisierung des Verkehrs dreimal so langsam wie im Rest der Wirtschaft
Seit dem Höhepunkt der Emissionen aus Mobilität im Jahr 2007 verlief die Dekarbonisierung des Verkehrs mehr als dreimal langsamer als im Rest der Wirtschaft. Im Rahmen der aktuellen Klimapolitik könnte sein Anteil bis 2030 44 % aller Treibhausgasemissionen erreichen, gegenüber 29 % heute. Die Verkehrsemissionen in der EU betragen inzwischen mehr als 1000 Megatonnen CO2-Äquivalente.
Autos, die Benzin und Diesel verbrennen, sind mit einem Anteil von mehr als 40 % die größte Quelle der verkehrsbedingten Emissionen. Die Abhängigkeit vom Auto hat seit den 1990er Jahren zugenommen, was durch den Autobahnbau und eine wachsende Fahrzeugflotte ermöglicht wurde. Erst seit Kurzem ist eine Reduzierung der durchschnittlichen Autoemissionen zu beobachten, da eine Welle von Elektrofahrzeugen auf den Markt kommt.
Die Emissionen des Luftverkehrs haben sich in den letzten 30 Jahren verdoppelt – schneller als in jedem anderen Verkehrssektor. Die zusätzliche Belastung durch Kondensstreifen verdreifacht möglicherweise die Klimaauswirkungen des Fliegens.
EU-Klimavorschriften sind nicht ausreichend
Die EU-Klimavorschriften werden die Verkehrsemissionen bis zum Jahr 2040 nur um 25 % gegenüber 1990 senken und bis zum Jahr 2050 um 62 %. Autos, Lieferwagen und Lastwagen, die bis zur Mitte der 2030er Jahre gekauft werden, werden noch viele Jahre lang auf europäischen Straßen unterwegs sein und dabei Benzin und Diesel verbrennen. Schifffahrtsbetreiber haben wenig Anreiz, ihre betriebliche Effizienz zu steigern, und die durch die Erhöhung der Flughafenkapazität angekurbelte Nachfrage nach Flügen macht alle Gewinne aus der Einführung umweltfreundlicher Treibstoffe in diesem Jahrzehnt zunichte.
Ausbau von Flughäfen und Autobahnen stoppen
Um die Menge an erneuerbaren Energien, die für die Dekarbonisierung des Sektors erforderlich sind, zu reduzieren, muss die ständig wachsende Nachfrage nach Verkehrsmitteln gestoppt werden. Und das bedeutet, dass der Bau von Autobahnen und der Ausbau der Flughafenkapazitäten beendet werden muss.
Ehrgeizige und verbindliche Ziele für den Anteil an Elektrofahrzeuge für Unternehmen mit großen Fahrzeugflotten sind ein wesentlicher Schlüssel zur Beschleunigung des Übergangs zur Nullemission. Das könnte bis 2040 Einsparungen von 213 Mio. t CO2-Äquivalente bringen.
Die Erschließung von Effizienzsteigerungen im Schifffahrtssektor könnte zusätzliche 93 Mio. t CO2-Äquivalenteeinsparen.
Direkte Elektrifizierung ist effizienter als Wasserstoff und E-Fuels
Die direkte Elektrifizierung des Straßenverkehrs ist mehr als zweimal effizienter als Wasserstoffantrieb und viermal effizienter als die Verwendung von E-Fuels. Europa kann es sich nicht leisten, erneuerbare Elektrizität zu verschwenden.
Vorläufige Daten zeigen, dass die Emissionen im Straßenverkehr im vergangenen Jahr um 8 Mio. t CO2-Äquivalente und im Schiffsverkehr um 5 Mio. t CO2-Äquivalente zurückgegangen sind. Diese Reduzierung wurde durch das Wachstum der Luftfahrtemissionen zunichte gemacht, die um 15 Mio. t CO2-Äquivalente anstiegen.
Was haben Waschbär, Götterbaum und Roter Amerikanischer Sumpfkrebs gemeinsam? Sie alle sind in Österreich invasive gebietsfremde Arten – vom Menschen eingeführte Arten, die der Natur Schaden zufügen. Und damit oft genug auch uns Menschen.
Das Auftreten neuer Tier- oder Pflanzenarten klingt vielleicht zunächst nicht weiter bedrohlich. Tatsächlich macht die Mehrheit eingeführter Arten wenig Probleme. Die weltweit mehr als 3500 invasiven Arten allerdings verändern Boden, Gewässer und Ökosysteme, verdrängen heimische Arten oder übertragen Krankheiten. In österreichischen Süßgewässern breiten sich beispielsweise eine Reihe invasiver amerikanischer Krebsarten (Roter Amerikanischer Sumpfkrebs, Signalkrebs, Marmorkrebs) aus. Sie übertragen die Krebspest, die ihnen selbst wenig anhaben kann, einheimische Krebse dagegen stark dezimiert. Ein anderes Beispiel sind Waschbären, deren Vorfahren vor Jahrzehnten aus Pelztierfarmen entkamen und die nun österreichweit vorkommen. Sie ernähren sich unter anderem von lokalen Tierarten, von Amphibien bis hin zu Vögeln, und können für deren Populationen problematisch werden; zudem richten sie Schäden an Gebäuden an.
Insgesamt sind die Auswirkungen invasiver Arten enorm, wie ein kürzlich publizierter Bericht des Weltbiodiversitätsrates IPBES betont: Sie spielen beispielsweise weltweit bei geschätzt 60% der Aussterbeereignisse eine Rolle; bei 16% sind sie sogar der alleinige Auslöser1. Sie zählen zu den fünf Hauptursachen der Biodiversitätskrise (genau wie übrigens der menschengemachte Klimawandel). Die global durch invasive Arten entstehenden jährlichen Kosten werden auf 423 Milliarden US-Dollar geschätzt1. Den Menschen in Österreich schaden invasive Arten als Landwirtschafts- oder Forstschädlinge (wie der Maiswurzelbohrer, ein maiszerstörender Käfer), Krankheitsüberträger (wie die Tigermücken), Allergieauslöser (wie die Beifuß-Ambrosie) oder unerwünschte Mitbewohner (wie der Waschbär).
Invasive Arten nehmen zu
Wie kommt es, dass wir Menschen diese Arten verbreiten? In der Vergangenheit geschah das oft mit Absicht. Seit dem 15. oder 16. Jahrhundert brachten „Entdeckungsreisende“ exotische Pflanzen aus ästhetischen Gründen nach Europa, die sich dann unter Umständen in die Natur ausbreiteten (auch heute noch stammen viele invasive Pflanzen aus dem gärtnerischen Bereich). Umgekehrt bildeten sich in Kolonien wie Australien „Akklimatisationsgesellschaften“ – Gruppen von Europäern, die die dortige Natur durch Einführung von Arten aus ihrer Heimat „verbessern“ wollten. Heute wird ein Großteil der neuen Arten unbeabsichtigt mit Waren in neue Gebiete transportiert, z.B. per Schiff. Auf Holzgütern, Getreide oder Gemüse können Insekten oder Pflanzensamen leicht unbemerkt mitreisen. Und da globale Vernetzung und Handel immer weiter zunehmen, steigt auch die Zahl der invasiven Arten rasant1.
Die Einführung potenziell invasiver Arten ist aber nur der erste Schritt. Für eine echte Invasion müssen sie sich im neuen Gebiet etablieren und ausbreiten. Wie invasive Arten dies in einem ihnen fremden Ökosystem überhaupt schaffen, ist nicht immer klar. Ein Grund kann sein, dass sie dort oft von Fressfeinden und Krankheitserregern befreit sind, durch die sie in ihrem Herkunftsgebiet in Schach gehalten werden. Das verschafft ihnen Vorteile gegenüber heimischen Arten.
Was haben invasive Arten mit der Klimakrise zu tun?
Ob sich eine neue Art ausbreiten kann, hängt aber auch entscheidend vom lokalen Klima ab. Eine aus den Tropen kommende Art wird sich in der Arktis meist nicht wohlfühlen. Wir verändern das Klima – wie wirkt sich das auf invasive Arten aus? Um diese Frage zu beantworten, analysieren Forschende bereits erfolgte Invasionen und treffen Vorhersagen für die Zukunft. Ein wichtiges Instrument dazu sind Verbreitungsmodelle. Sie kombinieren Informationen über die Umweltbedingungen (z.B. Temperatur und Niederschlag), an die eine Art angepasst ist, mit zukünftigen Klimaszenarien (z.B. denen des Weltklimarates IPCC). So kann prognostiziert werden, in welche Gebiete sich die Art möglicherweise in Zukunft ausbreiten kann.
Der Bericht des Weltbiodiversitätsrates2 fasst die Ergebnisse solcher und weiterer Studien zusammen und zeigt: Klimaveränderungen beeinflussen Ausbreitung und Auswirkungen invasiver Arten deutlich, und das oftmals zugunsten der invasiven Arten und auf Kosten heimischer Arten und des Menschen. Wie genau können diese Effekte aussehen?
Invasive Arten breiten sich aus. Invasive Arten werden oft durch kalte Winter aufgehalten. Gerade viele Insekten kommen mit Frostperioden schlecht zurecht. Selbst wenn sie in wärmeren Jahreszeiten ein neues Gebiet besiedeln können, sterben sie im Winter wieder aus. Das kann sich durch den Klimawandel ändern: Höhere Temperaturen ermöglichen es vielen invasiven Arten, sich polwärts und / oder in die Höhe auszubreiten3. So nehmen in Europa mit zunehmenden Wintertemperaturen beispielsweise invasive Schädlingsinsekten zu4. Dazu kommt, dass einige gebietsfremde Arten momentan noch an menschliche Strukturen wie Wohngebäude, Gewächshäuser oder Städte gebunden sind, in denen für sie angenehme Temperaturen herrschen. Diese Arten sind „Schläfer“ – steigen die Durchschnittstemperaturen, breiten sie sich in die Natur aus2. Neben der Temperatur können auch andere Aspekte des Klimawandels invasive Arten begünstigen; einige Arten profitieren sogar von Stürmen oder Waldbränden2.
Heimische Arten ziehen den Kürzeren. Die Klimakrise stresst heimische Arten, die oft nicht an die veränderten Bedingungen angepasst sind. So haben invasive Arten weniger Konkurrenz. Letztere sind oft bereits aus ihrem Ursprungsgebiet an höhere Temperaturen gewöhnt. Das trifft z.B. auf einige der oben erwähnten in Österreich invasiven Krebsarten zu, die somit neben der Resistenz gegen die Krebspest einen weiteren Vorteil gegenüber heimischen Arten haben5. Es wird außerdem vermutet, dass invasive Arten generell besonders anpassungs- und verbreitungsfähig sein könnten und dadurch besser auf Umweltveränderungen reagieren können6. So wurde z.B. gezeigt, dass sich invasive Pflanzenarten in den wärmer werdenden Alpen doppelt so schnell in die Höhe ausbreiten wie heimische Arten7.
Negative Auswirkungen auf den Menschen nehmen zu. Einige invasive Arten, die sich durch Klimaveränderungen weiter ausbreiten, haben gesundheitliche Auswirkungen. Die Beifuß-Ambrosie (Ragweed) ist ein starker Allergieauslöser. Mit ihrer Ausbreitung in Europa wird wohl auch die Zahl allergischer Menschen deutlich zunehmen8, denn eine Allergie wird bei wiederholtem Kontakt mit den Pollen wahrscheinlicher. Die Klimakrise begünstigt zudem viele invasive Arten, die Krankheiten übertragen können. Zwei invasive Mückenarten, die Asiatische Tigermücke und die Gelbfiebermücke, können z.B. Zika-Virus und Chikungunya-Virus übertragen. Beide Mückenarten mögen es warm. Modelle sagen voraus, dass sich die Bedingungen für die aus Afrika stammende Gelbfiebermücke in vielen Teilen der Erde verbessern werden, auch in Südeuropa9. Die Asiatische Tigermücke hat sich bereits jetzt bis nach Österreich ausgebreitet10. Momentan spielt sie hier glücklicherweise als Krankheitsüberträger keine große Rolle; dies kann sich jedoch in Zukunft leicht ändern.
Invasive Arten profitieren nicht immer und überall. Während invasive Arten in den gemäßigten Zonen wahrscheinlich zunehmen werden, können sich die Bedingungen für einige Arten in den Tropen verschlechtern, z.B. durch zu extreme Hitze4. Neben der Temperatur bestimmen weitere Faktoren wie die Niederschlagsmengen, wo eine Art leben kann – so kann eine Zunahme von Dürreperioden zu einer Abnahme invasiver Arten führen2. Viele Aspekte der Klimakrise, wie z.B. die Zunahme von Extremereignissen, haben komplexe, noch nicht ausreichend untersuchte Auswirkungen2.
Was können wir tun?
Die Bekämpfung invasiver Arten ist nicht einfach. Zum einen stellt sie bei Tieren ein ethisches Problem dar. Das großangelegte Töten invasiver Säugetiere wie Ratten oder Katzen in Australien wirkt auf viele Menschen drastisch. Zum anderen ist die Zurückdrängung invasiver Arten aufwendig und kostenintensiv. Zwar sind Ausrottungsversuche durchaus oft erfolgreich, vor allem, wenn das besiedelte Gebiet relativ begrenzt war. Aber nicht alle Arten lassen sich aufhalten – viele Pflanzen bilden jahrelang keimfähige Samen, die man kaum alle einsammeln kann, und Gewässerorganismen sind schwer kontrollierbar. Aus diesen Gründen gilt: Prävention ist besser als Bekämpfung. Maßnahmen, die früh ansetzen, sind z.B. Import- und Grenzkontrollen sowie die Überwachung von Ökosystemen, damit neue invasive Arten so schnell wie möglich entdeckt werden1.
Da das Problem invasiver Arten eng mit internationalem Handel und Transport zusammenhängt, kann es nicht allein lokal gelöst werden. Weltweite Abkommen erkennen invasive Arten inzwischen als kritisches Problem an. Im Dezember 2022 beschloss die internationale Staatengemeinschaft im Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework, die Einführung und Etablierung invasiver Arten bis zum Jahr 2030 um mindestens 50% zu reduzieren. Für die EU gibt es bereits seit Jahren eine Liste invasiver Arten, die nicht eingeführt, gehandelt oder freigesetzt werden dürfen. Trotzdem sind sich WissenschaftlerInnen einig, dass noch viel zu tun ist1. So haben die meisten Länder zwar Ziele festgelegt, setzen diese aber größtenteils nicht durch konkrete Bestimmungen um.
Obwohl invasive Arten und die Biodiversitätskrise insgesamt – genau wie die Klimakrise – globale Herausforderungen sind, die politisch angegangen werden müssen, können wir auch im Kleinen einen Beitrag leisten. Das Wichtigste: Versuchen, nicht selbst zum Problem beizutragen. Dazu gehört, keine Gartenabfälle in der Natur zu entsorgen, im Garten möglichst heimische Arten anzupflanzen, und keine exotischen Tiere zu kaufen und dann freizusetzen (was unsere LeserInnen hoffentlich sowieso nie tun würden).
Wer mit unterschiedlichen Süßgewässern in Kontakt kommt, z.B. AnglerInnen, TaucherInnen und BenutzerInnen von Freizeitbooten, sollte besonders vorsichtig sein und vor jedem „Gewässerwechsel“ das Material reinigen. Zwei der bedeutendsten invasiven Arten sind die Zebramuschel und ihre Verwandte, die Quaggamuschel. Diese setzen sich an Booten fest und können, falls ein Boot in ein anderes Gewässer transportiert wird, dort wieder freigesetzt werden. Einmal in einem Gewässer etabliert, bilden diese Muscheln Massenvorkommen, verändern das Nahrungsnetz und besetzen Boote, Stege und Rohre großflächig. Die Verbreitung dieser Muschelarten kann durch Reinigung der Boote verhindert werden11.
Auch zur Früherkennung invasiver Arten kann man beitragen. Auf Plattformen wie iNaturalist (www.inaturalist.org) können Fotos von Tieren, Pflanzen und Pilzen – ob invasiv oder nicht – mit Fundort hochgeladen werden; die App unterstützt dann bei der Artbestimmung. So entstehen riesige Datensätze, die automatisch auch Daten zu Vorkommen und Ausbreitung invasiver Arten beinhalten. Gezielter gehen Citizen Science-Projekte vor, bei denen BürgerInnen aufgefordert werden, Daten zu bestimmten Artengruppen zu sammeln. Über die App „Mosquito Alert“ (www.mosquitoalert.com) können Fotos mutmaßlich invasiver Mücken eingereicht werden, die dann von ExpertInnen begutachtet werden. So wird die Ausbreitung der Mückenarten in Echtzeit verfolgt.
Wer mehr Zeit hat, kann an Aktionen lokaler Naturschutzgruppen teilnehmen. Manchmal suchen diese HelferInnen für das Entfernen von Pflanzen wie Goldrute oder Drüsiges Springkraut, die dichte Bestände bilden und heimische Arten verdrängen. Zumindest lokal tragen solche Maßnahmen zur Eindämmung der invasiven Pflanzen und zum Schutz des Ökosystems bei.
Zu guter Letzt: Ein Bewusstsein in der Bevölkerung ist wichtig, damit politischer Handlungsdruck entsteht und die Einführung und Ausbreitung invasiver Arten verhindert werden kann1. Und so kann man bereits durch Ansprechen des Themas einen Beitrag leisten.
Literatur
1. Roy, H. E. et al.IPBES Invasive Alien Species Assessment: Summary for Policymakers. (2023).
2. Hulme, P. E. et al.IPBES Invasive Alien Species Assessment: Chapter 3. Drivers Affecting Biological Invasions. (2024).
3. Grünig, M., Calanca, P., Mazzi, D. & Pellissier, L. Inflection point in climatic suitability of insect pest species in Europe suggests non-linear responses to climate change. Global Change Biology26, 6338–6349 (2020).
4. Bellard, C. et al. Will climate change promote future invasions? Global Change Biology19, 3740–3748 (2013).
5. Capinha, C., Larson, E. R., Tricarico, E., Olden, J. D. & Gherardi, F. Effects of climate change, invasive species, and disease on the distribution of native European crayfishes. Conservation Biology27, 731–740 (2013).
6. Davidson, A. M., Jennions, M. & Nicotra, A. B. Do invasive species show higher phenotypic plasticity than native species and, if so, is it adaptive? A meta-analysis. Ecology Letters14, 419–431 (2011).
7. Dainese, M. et al. Human disturbance and upward expansion of plants in a warming climate. Nature Clim Change7, 577–580 (2017).
8. Lake, I. R. et al. Climate change and future pollen allergy in Europe. Environmental Health Perspectives125, 385–391 (2017).
9. Iwamura, T., Guzman-Holst, A. & Murray, K. A. Accelerating invasion potential of disease vector Aedes aegypti under climate change. Nat Commun11, 2130 (2020).
10. Reichl, J. et al. A citizen science report—Tiger mosquitoes (Aedes albopictus) in allotment gardens in Graz, Styria, Austria. Parasitol Res123, 79 (2023).
11. De Ventura, L., Weissert, N., Tobias, R., Kopp, K. & Jokela, J. Overland transport of recreational boats as a spreading vector of zebra mussel Dreissena polymorpha. Biol Invasions18, 1451–1466 (2016).
Unsere westliche Gesellschaft wird als „Konsumgesellschaft“ bezeichnet, auch als „Wachstumsgesellschaft“. Auf einem endlichen Planeten ist aber unendliches Wachstum nicht möglich, und auch nicht unendlich steigender Konsum, selbst wenn die konsumierten Güter immer effizienter hergestellt werden. Eine nachhaltige Entwicklung ohne Suffizienz – auf Deutsch: „Genügsamkeit“ – wird es nicht geben. Doch was genau ist das? Askese? Verzicht auf Wohlstand? Oder eine andere Art von Wohlstand?
„Suffizienz bedeutet, wenige Dinge intensiv zu genießen, statt sich mit so vielen Dingen zu umgeben, dass kein Genuss mehr möglich ist.“, schreibt der Ökonom Niko Paech1. Wörtlich bedeutet es: ausreichend versorgt sein, genug haben. Worum es dabei geht, ist, die vorhandenen Ressourcen so zu nutzen, dass sie sich wieder regenerieren können. Logisch ist leicht einzusehen, dass es gar nicht anders geht.
Dennoch steigern wir im Westen unseren Konsum von Jahr zu Jahr, und das meiste von dem, was uns die Technologie durch höhere Effizienz an Ressourcen einspart, wird von diesem steigenden Konsum wieder aufgefressen.
Ein durchschnittlicher PKW verbrauchte 1995 noch 9,1 Liter Kraftstoff auf 100 km und insgesamt verbrauchten deutsche PKW in diesem Jahr 47 Mrd. Liter. 2019 betrug der Durchschnittsverbrauch 7,7 Liter, doch der Gesamtverbrauch betrug immer noch 47 Mrd. Liter2.
1990 betrug die durchschnittliche Motorleistung von neu zugelassenen PKW in Deutschland 95 PS, 2020 aber 160 PS3.
2001 legten die Deutschen in ihren PKWs 575 Millionen km zurück, 2019 bereits 645 Millionen km. Diese Steigerung geht auf die größere Anzahl von PKW pro 1000 Einwohner:innen zurück4.
Der technische Fortschritt führte also nur dazu, dass Autos leistbarer, schneller und schwerer werden konnten, aber nicht zu einem geringeren Energieverbrauch.
Um die schlimmsten Folgen des Klimawandels zu vermeiden, müssen wir die durchschnittlichen globalen Treibhausgasemissionen von 6,8 Tonnen pro Kopf und Jahr (davon 4,2 Tonnen CO2)5 auf unter eine Tonne6 drücken. Und zwar schnell, nämlich bis zur Mitte des Jahrhunderts. Für Österreich liegt der Ausgangspunkt bei 13,8 Tonnen konsumbasierter Emissionen7. Die sind ungleich verteilt: Die obersten 10 % der Bevölkerung verursachen vier Mal so viele Emissionen wie die untersten 10 Prozent8. Die Aufgabe, die vor uns steht, ist also riesig. Um sie zu bewältigen, brauchen wir den technischen Fortschritt: erneuerbare Energien, Steigerung der Energie- und Ressourceneffizienz auf allen Gebieten. Dazu naturbasierte Lösungen wie die Wiederherstellung von natürlichen Landschaften, die viel mehr CO2 aufnehmen können als reine Baumpflanzungen. Aber das alles wird uns nicht schnell genug ans Ziel bringen, wenn wir nicht die Erzeugung – und damit den Verbrauch – von materiellen Gütern einschränken. Die größten Einsparungsmöglichkeiten gibt es bei Mobilität, Ernährung und Bauen und Wohnen. An der Suffizienz führt kein Weg vorbei. Die Autos auf den Straßen müssen weniger werden. Statt allein in einem 1,5 Tonnen schweren Auto zu sitzen, müssen wir uns einen Bus, eine Straßenbahn, einen Eisenbahnzug mit anderen teilen. Die grausame Massentierhaltung muss verschwinden, und damit auch das Billigfleisch im Supermarkt. Gleichzeitig braucht es massive Umverteilungsmaßnahmen, denn es kann nicht sein, dass die einen Biofleisch schlemmen, während andere sich nicht einmal am Sonntag ihr Schnitzel oder ihre Lammkoteletts leisten können.
Barrieren für Suffizienz
Die Notwendigkeit, nicht mehr zu verbrauchen als was nachwächst, ist leicht zu verstehen, doch diese Einsicht umzusetzen ist schwer. Warum ist das so? Warum ist es so schwer „genug“ zu sagen? Der Soziologe Oliver Stengel nennt fünf Barrieren, die einem suffizienten Verhalten entgegenstehen9:
Weniger Fleisch zu essen, beispielsweise, spart zwar Geld, hat aber andere Kosten: Gewohnheiten zu ändern erfordert Anstrengung. Man muss über seine Handlungen ständig nachdenken. Man muss wieder kochen lernen, man muss seinen Weg durch den Supermarkt ändern oder überhaupt woanders einkaufen, und vieles mehr.
Die zweite Barriere ist kulturell: Gesteigerter Konsum steht für Erfolg, man zeigt, dass man es sich leisten kann. Einschränkung steht für Askese, Rückschritt, Not. Besonders das eigene Haus und das große, schnelle Auto sind Statussymbole. Der Führerschein gehört zur Bildung wie der Schulabschluss, er ist das Symbol für Erwachsensein. Wer ständig geschäftlich herumfliegt, muss wohl eine wichtige Person sein, wer seinen Urlaub statt auf den Malediven im Gänsehäufel verbringt, ist ein armer Schlucker. Aber wenn du wirklich zur Elite gehören willst, musst du nach Bora Bora. Auch beim Essen geht es um Status, aber auch um Geschlechterrollen: Ein richtiger Mann grillt Fleisch im Garten und haut sich zwei Zentimeter dicke Steaks rein.
Die dritte Barriere ist: Wir orientieren uns am Verhalten anderer. Wir tun das, was „normal“ ist. Wir wollen keine Außenseiter sein, nicht als Spinner gelten. Aber die Spinner von gestern werden manchmal zu Vorreitern neuer Trends: Veganer:innen sind immer noch eine verschwindende Minderheit – in Österreich 2% der Erwachsenen. Aber jeder Supermarkt hat heute ein veganes Angebot.
Viertens neigen Menschen dazu, ihre Verantwortung abzugeben: Ich als Einzelner kann nichts tun, das muss „die Politik“ machen. „Die Politik“ wiederum macht die Wählerschaft verantwortlich. Und die Unternehmen machen die Kund:innen verantwortlich: Ihr kauft das, also produzieren wir es.
Konsum erhält das System
Fünftens aber gibt es systemische Gründe für den ständig steigenden Konsum. Unternehmen, die der marktwirtschaftlichen Konkurrenz ausgesetzt sind, müssen ständig die Arbeitsproduktivität erhöhen um nicht überholt zu werden. Daraus resultiert entweder ein Verlust von Arbeitsplätzen bei gleichbleibender Produktion, oder eine gesteigerte Produktion mit derselben Anzahl von Arbeitsplätzen. Und wenn der Markt gesättigt ist, wenn eh schon alle einen Fernseher haben, eine Waschmaschine, ein Handy, dann müssen die Bildschirme immer größer werden, die Waschmaschinen eine Hintertür haben, wo man noch während des Waschgangs Wäsche hineinstopfen kann, die Handys immer mehr Speicherplatz, leistungsfähigere Kameras usw. haben, damit man trotzdem noch etwas verkaufen kann. Das neue Modell lässt das vorhergehende veralten, entwertet es. Das hat denselben Effekt wie die Sollbruchstelle, die idealerweise am Tag nach Ablauf der Garantie das Gerät unbrauchbar macht.
Zu den ökonomischen kommen aber auch noch politische Barrieren. Wenn eine ganze Gesellschaft tatsächlich suffizient leben würde, würde das die „Politik“ vor immense Aufgaben stellen: Wenn der Konsum zurückgeht, bauen die Unternehmen Arbeitsplätze ab, verliert der Staat Steuereinnahmen, gerät das Pensionssystem in Schwierigkeiten und so weiter. Die „Politik“ will solche Schwierigkeiten möglichst vermeiden. Deshalb propagiert sie, je nach ideologischer Einstellung, „Klimaschutz mit Augenmaß“ oder „grünes Wachstum“, anstatt den Umbau des Systems ernsthaft in die Hand zu nehmen.
Das System der Marktwirtschaft und die zugehörige Politik drängen uns den Konsum auf. Von diesem Zwang heißt es sich zu befreien. Daher der Titel dieses Beitrags, der aus einem Aufsatz von Uta von Winterfeld stammt: Niemand soll immer mehr haben wollen müssen. Nach Winterfeld geht es um das Recht auf Suffizienz, nicht um die Pflicht dazu10.
Keine Angst ums Wohlbefinden
Das Ziel von Suffizienz ist nicht, auf Wohlbefinden zu verzichten. Misst man Wohlbefinden an der durchschnittlichen Lebenserwartung und den Konsum an den konsumbasierten Treibhausgas-Emissionen, dann sieht man zum Beispiel: US-Amerikaner:innen verursachen im Durchschnitt pro Person und Jahr 15,5 Tonnen CO2 und werden 76,4 Jahre alt. Die Einwohner:innen von Costa Rica verursachen 2,2 Tonnen CO2 und werden 80,8 Jahre alt11.
Suffizienz zielt darauf ab, Bedürfnisse auf möglichst ressourcensparende Weise zu befriedigen. Bedürfnisse lassen sich auf unterschiedliche Weise befriedigen. Von A nach B kann man auch anders als mit dem Auto kommen. Wer mit dem Fahrrad einkaufen fährt, spart nicht nur das Geld fürs Benzin, sondern auch fürs Fitnesszentrum. Wohlige Wärme kann man erzielen, indem man die Heizung aufdreht oder einen Pullover anzieht oder das Haus thermisch saniert. Wenn man seine Waschmaschine gut behandelt, kann sie 20 Jahre und länger halten. Zumindest können das ältere Modelle. Wenn alle Waschmaschinen doppelt so lange halten wie heute (normalerweise 5 bis 10 Jahre), müssen klarerweise nur halb so viele erzeugt werden. Angeschlagene Möbel lassen sich reparieren oder neu lackieren. Auch die Haltbarkeit von Kleidungsstücken lässt sich durch gute Behandlung verlängern. Richtig waschen, kleinere Schäden ausbessern, langweilig gewordene Stücke mit einer Freundin oder einem Freund tauschen. Und selber nähen verschafft mehr und dauerhaftere Befriedigung als Shoppen. Fast 40 % aller Kleidung wird nie getragen12. Diese Kleidung erst gar nicht zu kaufen verursacht keinerlei Verlust an Komfort.
Das Prinzip lautet: reduzieren (also von vornherein weniger Zeug kaufen, sich bei jedem Kauf fragen: Brauche ich das wirklich?), länger nutzen, reparieren, weiternutzen (z.B. weiterschenken und gebraucht kaufen), und erst ganz am Schluss recyceln. Es heißt aber auch, sich unabhängig zu machen von Moden und Trends. Teilen und gemeinsam nutzen schafft auch neue soziale Kontakte. Und was noch wichtig ist: Geld, das man sich durch einen bescheideneren Alltag erspart, nicht für eine Flugreise ausgeben, mit der man mit einem Schlag seine ganze CO2-Bilanz wieder ruiniert. Rebound effect heißt der Fachausdruck dafür, und einen solchen gilt es zu vermeiden. Wenn man auf Grund eines suffizienten Lebensstils einen Teil seines Einkommens nicht mehr braucht, kann man mit diesem Teil soziale Projekte oder Naturschutzprojekte unterstützen. Oder auch überlegen, Teilzeit zu arbeiten.
Suffizienz organisieren
Alles kann man freilich nicht den Einzelnen aufhalsen. Die Forderung an die Industrie muss sein, haltbare und reparierbare Produkte zu erzeugen, die Praxis des „geplanten Verschleißes“ zu beenden. Von A nach B mit eigener Kraft zu kommen ist leichter, wenn A und B näher zusammenrücken, also vor allem Wohnung, Arbeit und Versorgung. Da ist die Stadtplanung gefordert. Auch müssen Fußgänger:innen und Radfahrer:innen sich sicher fühlen können. Gemeinsam nutzen und teilen wird erleichtert, wenn die Wohnsituation dem gerecht wird durch Gemeinschaftsräume, Gemeinschaftsküchen, Do-it-yourself-Räume, Waschküchen usw.
Wenn allgemein jede Steigerung der Produktivität durch eine entsprechende Verkürzung der Arbeitszeit ausgeglichen würde, würde der Ausstoß an Gütern stabil bleiben. Die durchschnittliche jährliche geleistete Arbeitszeit ist im Euroraum seit 1995 um 6 % gesunken, die Produktivität aber um 25 % gestiegen13. Um den Lebensstandard von 1995 zu halten, könnten wir heute um 20 % weniger arbeiten als damals. Dies nur zur Veranschaulichung, denn tatsächlich müsste die Arbeit auch umstrukturiert werden, von der materiellen Produktion (und deren Verwaltung) hin zu Bildung, Wissenschaft, Gesundheit, Pflege, Kultur. Und es müssten auch die Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten gerechter verteilt werden. Arbeit einzusparen soll nicht dazu führen, dass einige Menschen weiter arbeiten wie bisher, während andere ohne Arbeit und ohne Einkommen bleiben.
Wirtschaft im Dienst von Mensch und Natur
Solange Gewinnmaximierung der Motor der Wirtschaft ist, kann Suffizienz im gesellschaftlichen Ausmaß nicht erreicht werden. Aber nicht jedes Unternehmen muss Gewinn machen. Die „Social Economy“ versteht sich als Wirtschaft im Dienst der Menschen und der Natur. Dazu zählen etwa das gemeinnützige bzw. genossenschaftliche Wohnen, erneuerbare Energiegemeinschaften, Handwerks- und Industrieunternehmen in Belegschaftshand, der genossenschaftliche Einzelhandel, Kredit-, Plattform- und Vermarktungsgenossenschaften, Initiativen solidarischer Landwirtschaft, NGOs im Bereich nachhaltiger Entwicklung und viele mehr14. Laut EU-Kommission gibt es in Europa rund 2,8 Millionen Organisationen der Social Economy. Sie schaffen mehr als 13 Millionen Arbeitsplätze und beschäftigen damit 6,3 % der Europäischen Erwerbsbevölkerung15. Weil solche Unternehmen nicht gewinnorientiert sind, unterliegen sie auch nicht dem Wachstumszwang. Eine Voraussetzung für Suffizienz, für die Möglichkeit zu sagen: „Es ist genug“, ist, dass demokratisch ausgehandelt wird, was, wie viel und wie produziert wird. Die Social Economy bietet diese Möglichkeit, wenn auch erst in bescheidenem Rahmen. Diesen nicht gewinnorientierten Zweig der Wirtschaft zu fördern und auszuweiten ist – neben dem Ausbau des Sozialstaats – eine der wesentlichen Voraussetzungen für die sozial-ökologische Transformation. Demokratisches Wirtschaften ist noch keine Garantie für nachhaltiges Wirtschaften. Es schafft erst die Möglichkeit, dass sich Vernunft und der Sinn für das „rechte Maß“ durchsetzen.
1Paech, Niko (2013): Lob der Reduktion. In: Suffizienz als Schlüssel zu mehr Lebensglück und Umweltschutz, o.O.. oekom verlag.
9Stengel, Oliver (2013): Steter Tropfen. Wider die Barrieren der Suffizienz, In: Suffizienz als Schlüssel zu mehr Lebensglück und Umweltschutz, o.O.. oekom verlag.
10Von Winterfeld, Uta (2007): Keine Nachhaltigkeit ohne Suffizienz. vorgänge Heft 3/2007, S. 46-54
Immer mehr Klimawissenschaftler:innen kommen zum Schluss, dass es nicht genügt, die Ergebnisse ihrer Forschungen den Regierungen zur Verfügung zu stellen, schreibt Daniel Grossman in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift nature1. Sie sind empört und verzweifelt darüber, dass immer düsterere Prognosen und immer schlimmere Extremwetterereignisse nicht die erforderlichen Handlungen hervorrufen. Als Beispiel zitiert der Beitrag die Geowissenschaftlerin Rose Abramoff und den Astrophysiker Peter Kalmus, die beide mit spektakulären Aktionen Festnahmen und den Verlust ihrer Jobs riskierten.
Kalmus zum Beispiel blockierte im April 2022 zusammen mit drei Kolleg:innen den Zugang zu einer Filiale der Bank J. P. Morgan in Los Angeles, die große Summen in fossile Unternehmen investiert. Er wurde wegen Besitzstörung festgenommen. Gemeinsam mit Abramoff störte er eine Konferenz der American Geophysical Union mit einem Banner der Scientist Rebellion. Abramoff verlor ihren Job beim Oak Ridge National Laboratory in Tennessee. Kalmus wurde von seinem Arbeitgeber Jet Propulsion Laboratory nur verwarnt.
Abramoffs politisches Erwachen geschah 2019, als sie diverse Kapitel des IPCC-Reports begutachtete. Der neutrale Ton des Dokuments, der der Größe der drohenden Katastrophe nicht gerecht wurde, empörte sie. Am 6. April 2022 kettete sie sich während eines Klimaprotests an den Zaun des weißen Hauses. Sie wurde am selben Tag festgenommen wie Kalmus auf der anderen Seite des Kontinents. Seither setzte sie 14 spektakuläre Aktionen, von denen sieben zu einer Festnahmen führten.
Das sind nur zwei Beispiele für eine ständig wachsende Gruppe Gruppe von Wissenschaftler:innen, die sich nicht mehr damit begnügen wollen, ihre erschütternden Erkenntnisse neutral formuliert in Papers und Zeitschriften zu veröffentlichen. Eine kürzlich veröffentlichte Studie von Fabian Dablander (Universität Amsterdam)2 hat ergeben, dass 90 Prozent von 9.220 befragten Forscher:innen der Ansicht sind, dass „fundamentale Veränderungen der sozialen, politischen und ökonomischen Systeme notwendig sind“. Für die Studie wurden Forscher:innen in 115 Ländern befragt, die zwischen 2020 und 2022 in wissenschaftlichen Journalen publiziert hatten. Die Befragung wurde an 250.000 Autor:innen verschickt. Studienautor Dablander räumt ein, dass vermutlich ein Ungleichgewicht zugunsten der politisch denkenden Autor:innen besteht, weil die eher bereit sein würden, den Fragebogen auszufüllen und zurückzuschicken. 78 Prozent der Antwortenden hatten Fragen des Klimawandels außerhalb ihrer Kollegenschaft diskutiert. 23 Prozent hatten sich an legalen Protesten beteiligt und 10 Prozent – beinahe 900 Wissenschaftler:innen – an Aktionen des zivilen Ungehorsams.. Der Unterschied zwischen Wissenschaftler:innen, die mit Klimafragen beschäftigt sind und Forscher:innen anderer Disziplinen ist deutlich: An Protesten beteiligten sich 2,5 Mal so viele Klimaforscher:innen wie Nichtklimaforscher:innen. Unter den Teilnehmer:innen an Aktionen des zivilen Ungehorsams überwogen Klimaforscher:innen 4:1.
Eine andere Studie von Viktoria Cologna (Universtät Zürich)3 von 2021 hat ergeben, dass von 1.100 Klimawissenschaftler:innen 90 Prozent sich zumindest einmal öffentlich in Klimafragen engagiert hatten, etwa durch Presseinterviews, Briefings für Entscheidungsträger:innen oder auf Social Media. Oft befürchten Wissenschaftler:innen, dass sie an Glaubwürdigkeit verlieren, wenn sie sich politisch äußern. Doch Colognas Studie, die auch Nicht-Wissenschaftler:innen einbezog, ergab, dass 70 Prozent der Deutschen und 74 Prozent der Amerikaner:innen es begrüßen, wenn Wissenschaftler:innen sich aktiv für Klimaschutzmaßnahmen einsetzen.
Titelfoto: Stefan Müller via Wikimedia. CC BY – Aktivist von Scientist Rebellion, wird von der Polizei nach Brückenblockade unter Anwendung von Schmerzgriffen abgeführt.
2 Dablander, F., Sachisthal, M. & Haslbeck J. (2024): Going Beyond Research: Climate Actions by Climate and Non-Climate Researchers. Preprint at PsyArXiv https://doi.org/10.31234/osf.io/5fqtr
3 Cologna, V., Knutti, R., Oreskes, N. & Siegrist, M. (2021): Majority of German citizens, US citizens and climate scientists support policy advocacy by climate researchers and expect greater political engagement. In: Environ. Res. Lett. 16, 024011. https://dx.doi.org/10.1088/1748-9326/abd4ac
Kipppunkte stellen einige der größten Risiken für die lebenserhaltenden Systeme der Erde und die Stabilität unserer Gesellschaft dar. In einem bislang einmaligen Vorhaben hat ein großes internationales Forschungsteam auf der COP28 einen umfassenden Bericht über Kipppunkte im Erdsystem und ihre potenziellen Auswirkungen sowie Möglichkeiten für gesellschaftliche Veränderungen veröffentlicht. Mehr als 200 Forschende aus aller Welt haben an dem „Global Tipping Points Report“ mitgewirkt. Der über 500 Seiten umfassende Bericht ist ein maßgeblicher Leitfaden zum aktuellen Wissensstand über Kipppunkte. Er beschreibt Möglichkeiten zur Beschleunigung dringend benötigter Veränderungen und skizziert Optionen, wie die Politik die Risiken und Chancen von Kipppunkten besser steuern kann.
„Dieser Bericht ist der bisher umfassendste Überblick über Kipppunkte im Erdsystem“, erklärt Sina Loriani vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), einer der Hauptautoren des Berichts. „Das Überschreiten von Kippunkten kann grundlegende und mitunter abrupte Veränderungen auslösen, die das Schicksal wesentlicher Teile unseres Erdsystems für die nächsten Hunderte oder Tausende von Jahren unumkehrbar bestimmen könnten. Diese Kipppunkt-Risiken sind potenziell verheerend und sollten mit Blick auf heutige und künftige Generationen sehr ernst genommen werden, trotz der verbleibenden wissenschaftlichen Unsicherheiten.“
5 Kippsysteme derzeit gefährdet, 3 weitere in Gefahr bei Überschreitung von 1.5°C
Fünf große Kippsysteme laufen bereits Gefahr, bei der derzeitigen globalen Erwärmung ihren jeweiligen Kipppunkt zu überschreiten, so die Forschenden in ihrem Bericht: Der grönländische und der westantarktische Eisschild, die subpolare Wirbelzirkulation im Nordatlantik, Warmwasserkorallenriffe und einige Permafrost-Gebiete. Wenn die globale Erwärmung auf 1,5°C ansteigt, könnten mit borealen Wäldern, Mangroven und Seegraswiesen drei weitere Systeme in den 2030er Jahren vom Kippen bedroht sein.
In dem Bericht fassen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Informationen über Kippsysteme und die damit verbundenen Temperaturschwellen aus Studien über Klimaveränderungen in der Erdgeschichte, heutigen Erdbeobachtungen und Computersimulationen zusammen. Die Autoren weisen darauf hin, dass systematischere Untersuchungen, wie das vom PIK geleitete Tipping Point Modelling Intercomparison Project (TIPMIP), erforderlich sind, um in Zukunft genauere Erkenntnisse über Kipppunkte und die damit verbundenen wissenschaftlichen Unsicherheiten zu gewinnen.
„Unsere Analyse zeigt übereinstimmende Kernaussagen in der bisher veröffentlichten Forschung zu Kipppunkten im Erdsystem auf. Sie verdeutlicht, dass der gegenwärtige Klimawandel und der Verlust der Natur grundlegende Veränderungen in Schlüsselelementen des Erdsystems verursachen könnten, mit weitreichenden Folgen für Milliarden von Menschen auf der ganzen Welt“, sagt Jonathan Donges vom PIK, einer der Hauptautoren des Berichts. „Zu diesen Auswirkungen gehören ein beschleunigter Anstieg des Meeresspiegels, veränderte Wettermuster und geringere landwirtschaftliche Erträge – diese haben das Potenzial, negative soziale Kipppunkte auszulösen, die zu gewaltsamen Konflikten oder dem Zusammenbruch politischer Institutionen führen könnten. Kipppunkte sind auch nicht unabhängig voneinander, sondern stehen in enger Wechselwirkung: Die Überschreitung eines Kipppunkts im Erdsystem oder in der Gesellschaft könnte wiederum ein anderes Kippsystem destabilisieren, wodurch Kippkaskaden möglich werden.“
Positive Kippunkte im Gesellschaftssystem
Unter der Leitung der Universität Exeter haben mehr als 200 Forschende aus verschiedenen wissenschaftlichen Institutionen die verfügbaren Belege für die Veränderungen des Erdsystems für den Global Tipping Points Bericht zusammengetragen und geprüft. Das Forschungsteam unterstreicht, dass positive Kipppunkte für den notwendigen transformativen Wandel hin zum raschen Ausstieg aus fossilen Brennstoffen und der Verringerung der Emissionen aus der Landnutzung entscheidend sein können, um den Planeten zu stabilisieren und negative Auswirkungen von Erdysstem-Kipppunkten auf Gesellschaften zu vermeiden. Wenn man die Erkenntnisse über Kippdynamiken auf Gesellschaftssysteme anwendet, zeigt sich, dass solche wünschenswerten Veränderungen unter den richtigen Bedingungen selbstverstärkend wirken können. Ein Großteil des Berichts hebt daher die Potenziale für abrupte soziale und technologische Veränderungen hervor und verdeutlicht, dass solche nichtlinearen Veränderungen bereits heute auf den Märkten für erneuerbare Energien und Elektrofahrzeuge zu beobachten sind. Der Bericht hebt mehrere Optionen zur Beschleunigung der Transformation hervor, wie etwa koordinierte Anstrengungen, um positive gesellschaftliche Kipppunkte in den Sektoren Energie, Verkehr und Ernährung auszulösen, und das Vertiefen von Wissen über Kipppunkte in einem IPCC-Sonderbericht.
„Die Welt befindet sich nicht mehr in einem Zustand des schrittweisen und linearen Wandels“, fasst PIK-Direktor Johan Rockström zusammen. „Das bedeutet, wir müssen einen rasanten und tiefgreifenden Wandel über mehrere Sektoren und Regionen hinweg auslösen, indem wir aus den fossilen Brennstoffen aussteigen und gleichzeitig positive soziale und wirtschaftliche Kipppunkte nutzen. Die Anreize und Hebel für eine Transformation müssen sich so grundlegend ändern, dass wir als Gesellschaft einen neuen, nachhaltigen Kurs einschlagen. Der Global Tipping Points Bericht bietet den ersten umfassenden Leitfaden, um uns über die bevorstehenden Gefahren und Chancen aufzuklären.“
Report: T.M. Lenton, D.I. Armstrong McKay, S. Loriani, J.F. Abrams, S.J. Lade, J.F. Donges, M. Milkoreit, T. Powell, S.R. Smith, C. Zimm, J.E. Buxton, L. Laybourn, A. Ghadiali, J. Dyke (eds) (2023): The Global Tipping Points Report 2023. University of Exeter, Exeter, UK.