Persönliches CO2-Guthaben? Forscher*innen fachen die Diskussion neu an
von Martin Auer

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Lesedauer 7 Minuten.   

Das Thermometer des Climate Action Tracker steht auch nach dem Glasgower Klimagipfel auf 2,7°C. Es gibt keinen Zweifel daran, dass eine solche Erwärmung gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter für die Menschheit katastrophal wäre. Derzeit stehen wir schon bei 1,1°C. Es ist also notwendig, über alle nur möglichen Maßnahmen nachzudenken, die eine weitere Erwärmung hinauszögern können. Eine solche Maßnahme wäre das persönliche CO2-Guthaben, auf Englisch personal carbon allowance, abgekürzt PAC. Dieses Instrument wurde schon in den 1990er Jahren diskutiert, hat aber nur wenig Zuspruch erhalten. Vier Wissenschaftler*innen von der Königlichen Technischen Hochschule Stockholm, der Universität Oxford, der School of Sustainability Herzliya und dem University College London schlagen nun vor, diese Lenkungsmaßnahme erneut unter die wissenschaftliche Lupe zu nehmen. Der Beitrag erschien im August 2021 im Fachblatt nature sustainability1.

Was soll man sich nun unter diesem persönlichen CO2-Guthaben vorstellen? Jede (erwachsene) Person in einem Land würde pro Jahr eine gleiche Zuteilung an erlaubten CO2-Emissionen erhalten. Diese Emissionen sollen auch handelbar sein, also verkauft und gekauft werden können. Beim Kauf von Treibstoff an der Tankstelle oder einer Bahnkarte würden die verursachten Emissionen von diesem Konto abgebucht werden. Bei der Tankstelle natürlich entsprechend mehr. Ebenso würde zusammen mit der Stromrechnung ein bestimmter Betrag pro verbrauchter Kilowattstunde vom CO2-Konto abgebucht werden, desgleichen bei der Rechnung für die Fernheizung oder beim Kauf von Heizöl. Im ursprünglichen Konzept sollte diese Maßnahme die Emissionen durch Verkehr, Raumheizung, Warmwasser und Elektrizität betreffen. Neuere Modelle versuchen, möglichst alle durch Konsum verursachten Emissionen zu erfassen, also zum Beispiel auch Nahrung oder Dienstleistungen. Wer weniger verbraucht als ihm oder ihr zusteht, soll die nicht verbrauchten Emissionen verkaufen können. Wer sein CO2-Konto ausgeschöpft hat, soll Emissionen zukaufen können, sofern welche auf dem Markt für persönliche Emissionsrechte erhältlich sind. Das Emissionskontigent auf dem CO2-Konto wird von Jahr zu Jahr geringer ausfallen, entsprechend den Emissionszielen des jeweiligen Landes.

Verschiedene Forschungen verweisen auf vier Faktoren, die umweltfreundliches Verhalten fördern: ökonomische Anreize, Wissen über die Zusammenhänge, soziale Normen, die sagen, was gesellschaftlich akzeptiert ist, und Bildung und Erziehung. Das persönliche CO2-Guthaben sollte demnach bei jedem einschlägigen Kauf sichtbar machen, welche Emissionen damit verbunden sind, also das Wissen um die Zusammenhänge stärken. Es sollte einen ökonomischen Anreiz bieten, möglichst wenig Emissionen zu verursachen. Außerdem wird angenommen, dass durch das gemeinsame Ziel, die Emissionen zu senken, und durch die gerechte Aufteilung der Lasten ein CO2-sparendes Verhalten das wird, was „sich gehört“, also eine gesellschaftliche Norm.

Um 2008 prüfte die britische Regierung die Einführung eines solchen persönlichen CO2-Guthabens. Das Projekt wurde aus mehreren Gründen verworfen: Es sei gesellschaftlich nicht akzeptabel, wäre technisch schwer durchführbar und würde zu viel kosten. Seither, so meinen die Autor*innen, hätten sich aber die Umstände verändert. Sie führen die Fortschritte in der Informations- und Kommunikationstechnologie an, vor allem auch im Bereich von künstlicher Intelligenz. Weiter verweisen sie auf die Verschärfung der Klima- und Biodiversitätskrise, aber auch die Erfahrungen mit der Covid-19-Pandemie. Sie betonen, dass sie derzeit nicht für die Einführung eines persönlichen CO2-Guthabens plädieren, vielmehr wollen sie einen wissenschaftlichen und politischen Dialog über die Möglichkeiten einer solchen Maßnahme wieder in Gang setzen.

Was spricht dagegen?

Welche Hindernisse sehen die Autor*innen für die Einführung eines persönlichen CO2-Guthabens? Als Erstes führen sie an, dass es für Politiker*innen riskant sei, eine so radikale und bisher nicht erprobte Maßnahme öffentlich in Erwägung zu ziehen. Auch wird angeführt, dass eine schlechte Umsetzung der Maßnahme im Zusammenhang mit dem EU-Emissionshandel für Unternehmen zu einer doppelten CO2-Bepreisung führen könnte.

Eine Schlüsselfrage sehen die Autor*innen darin, wie das Projekt in der Praxis umgesetzt werden könnte. Welche Technologien sollen verwendet werden, damit die Menschen den Überblick über ihr Konto behalten, und wie soll der Handel mit Zuteilungen funktionieren? In einer Machbarkeitsstudie des britischen Umwelt- und Landwirtschaftsministeriums von 2008 dachte man sich die Konten analog zu Bankkonten, kombiniert mit einer Chipkarte, auf die Guthaben aufgebucht bzw. von der Beträge abgebucht werden konnten. Die CO2-Konten sollten von Banken verwaltet werden. Es stellte sich heraus, dass die Kosten für das System höher sein würden als für andere Maßnahmen, wie zum Beispiel die UK Climate Change Agreements, freiwilligen Vereinbarungen zwischen der britischen Industrie und der Umweltagentur.

Die Frage, ob ein solches Projekt gesellschaftlich akzeptiert würde, wurde mit verschiedenen Methoden untersucht: Interviews, Fokusgruppen, Umfragen, Experimenten und Modellrechnungen. Die erhobenen Einstellungen reichten von ziemlich positiv bis negativ. Die Befragten waren im Allgemeinen bereit, einige Verantwortung über ihre Emissionen zu übernehmen, aber die Kompliziertheit des Vorgangs und die zentrale Kontrolle über ihre Aktivitäten, die damit verbunden wäre, schreckten sie ab.

Eine Voraussetzung dafür, dass eine solche Maßnahme gesellschaftliche Akzeptanz findet, ist, dass sie als fair empfunden wird und niemand wesentlich benachteiligt oder bevorzugt wird. Ökonomische Berechnungen ergaben, dass die Mehrheit der Haushalte mit geringem Einkommen von der Maßnahme profitieren würde, nämlich 71 Prozent. Dagegen würde von den wohlhabenderen Haushalten eine Mehrheit verlieren, nämlich 55 Prozent. Das heißt, die meisten ärmeren Haushalte würden mehr Emissionsrechte bekommen, als sie tatsächlich für ihren Energiebedarf benötigten und könnten daher ihren Überschuss verkaufen. Die meisten wohlhabenderen Haushalte würden weniger Emissionsrechte bekommen, als sie für ihren gewohnten Energieverbrauch benötigten und würden Emissionsrechte zukaufen müssen, um ihren Verbrauch aufrechtzuerhalten. Allerdings würde dennoch ein bestimmter Prozentsatz von Haushalten mit geringem Einkommen benachteiligt werden, vor allem solche in ländlichen Gegenden (vor allem wegen ihres höheren Energiebedarfs für Verkehr und Heizung. Anm. M.A.).

Eine geänderte politische und technologische Landschaft

Seit diesen Untersuchungen, so die Autor*innen, hat sich die gesamte Landschaft für Klimaschutzmaßnahmen stark verändert. Die von der Jugend ausgehende Bewegung hat das Bewusstsein für den Klimawandel weltweit gefördert. Politischer Druck von unten hat dazu geführt, dass Regierungen Netto-Null-Verpflichtungen bis 2050 oder 2060 eingegangen sind. Die große Beteiligung an sozialen Bewegungen zeigt, dass viele Menschen sich als verantwortungsvolle Bürger*innen sehen, die Verpflichtungen gegenüber der Umwelt und den künftigen Generationen haben. Das würde nach Meinung der Autor*innen die Akzeptanz von Maßnahmen wie dem persönlichen CO2-Guthaben erhöhen.

Die Covid-19-Pandemie hätte den Menschen vor Augen geführt, dass sie, egal wo sie sich befinden, von globalen Problemen betroffen sind. Millionen von Menschen hätten zugunsten der öffentlichen Gesundheit Einschränkungen akzeptiert, die früher undenkbar gewesen wären. So könnten sie auch zugunsten eines für die Menschheit sicheren Klimas, aber auch noch vieler anderer Vorteile wie gesünderer Luft und besserer allgemeiner Gesundheit, die Einschränkungen und Kontrollen, die mit dem CO2-Guthaben verbunden wäre, eher akzeptieren.

Erkenntnisse aus den Contact-Tracing-Apps, die im Rahmen der Pandemie in einigen Ländern erfolgreich eingesetzt wurden, könnten für die Entwicklung von CO2-Guthaben-Apps verwendet werden. Solche Apps könnten sehr gut den verkehrsbedingten Energieverbrauch eine*r Handynutzer*in berechnen, da sie das Bewegungsprofil aufzeichnen und auf Grund der Reisegeschwindigkeit auch feststellen könnten, ob man zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit dem Auto oder Flugzeug unterwegs war. Solche Apps könnten auch Vorschläge für Verhaltensänderungen machen und künstliche Intelligenz könnte eingesetzt werden, um festzustellen, welche Vorschläge von den Nutzer*innen am besten angenommen werden. Ein schwerwiegendes Problem wäre freilich der Schutz der Privatsphäre. Es müsste garantiert sein, dass außer der Menge an verursachten CO2-Emissionen keine anderen persönlichen Daten weitergegeben werden. Auch hier könnten die Probleme, die bei Contact-Tracing-Apps sichtbar geworden sind, zu neuen, sichereren Lösungen führen. Ähnliche Probleme müssten natürlich auch bei der Installation von Smart Metern für den Elektrizitäts- und Wärmeverbrauch gelöst werden.

Die größte Chance auf Verwirklichung hätte ein System des persönlichen CO2-Guthabens in technologisch fortgeschrittenen Ländern, in denen die Regierung ein hohes Maß an Vertrauen genießt. Solche Länder könnten erforschen, wie eine solche Maßnahme in ihrem spezifischen sozialen, ökonomischen und geographischen Zusammenhang gerecht und auf Ausgleich bedacht umgesetzt werden könnte. Die Autor*innen heben hervor, dass ein solches Projekt nur mit aktiver Beteiligung der Bürger*innen an der Entwicklung und Umsetzung angegangen werden sollte. Cybersecurity und digitale Ethik müssten besonders berücksichtigt werden. Für die Forschungscommunity stellt sich die Aufgabe, hier noch detailliertere Untersuchungen anzustellen. Freiwillige Initiativen wären wesentlich, um verschiedene Modelle in der Praxis zu testen, partizipatorische Forschung und die Beteiligung eines breiten Spektrums an Stakeholdern würden das Wissen über die Möglichkeiten eines solchen Projekts auf eine sichere Basis stellen.

In einer gesonderten Tabelle führen die Autor*innen an, welchen Bedingungen das Konzept entsprechen müsste, um den Zielen für nachhaltige Entwicklung der UNO (Sustainable Development Goals, SDGs) gerecht zu werden:

1. Keine Armut: Persönliche CO2-Guthaben (Personal Carbon Allowances, PCAs) würden prinzipiell die Umverteilung von Wohlhabenderen zu Ärmeren begünstigen. Parallele Maßnahmen müssten für einen Ausgleich für besonders verwundbare „Verlierer“ schaffen.

2. Kein Hunger: Die Einbeziehung von Ernährung in PCAs könnte die Nachfrage nach nachhaltigerer Nahrung steigern.

3. Gesundheit und Wohlergehen: PCAs könnten einen gesünderen Lebensstil begünstigen, vor allem durch aktive Mobilität und gesünderes Essen. Sie könnten auch mit Maßnahmen zur Reduzierung der Luftverschmutzung verbunden werden und würden gesundheitliche Folgen von Energiearmut mindern.

4. Hochwertige Bildung: PCAs würden das Wissen über Nachhaltigkeit und Gesundheit vermehren.

5. Geschlechtergleichheit: PCAs würden den Geschlechtern gleiche Emissionsrechte zuteilen. Doch müsste kontrolliert werden, ob der Handel mit Emissionen nicht wieder zu Geschlechterungleichheit führt.

6. Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen: Je knapper sauberes Wasser wird, umso mehr Energie wird zur Bereitstellung benötigt (zum Beispiel für Entsalzung). PCAs würden auch dafür das Bewusstsein schärfen. In manchen Regionen könnten PCAs aber den Preis für Wasser erhöhen.

7. Bezahlbare und saubere Energie: Der Übergang zu sauberer Energie ist das Hauptziel von PCAs. Allerdings ist auf die Wirkung in Bezug auf Energiepreise zu achten.

8. Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum: PCAs würden das Wachstum „grüner“ Wirtschaftssektoren begünstigen, aber das Wachstum von Sektoren mit hohen Emissionen eher bremsen.

9. Industrie, Innovation und Infrastruktur: Emissionsarme Infrastruktur und „grüne“ Innovationen würden durch PCAs begünstigt werden, emissionsintensive Industrien könnten negativ betroffen sein.

10. Weniger Ungleichheiten: Durch die gleiche Zuteilung pro Kopf würde Ungleichheit verringert und es gäbe einen Umverteilungseffekt von Gruppen mit höherem Einkommen und höheren Emissionen hin zu Gruppen mit niedrigerem Einkommen. Das haben Modellrechnungen in Großbritannien, China und Finnland ergeben. Allerdings müssten bestimmte einkommensschwache Gruppen besonders unterstützt werden.

11. Nachhaltige Städte und Gemeinden: PCAs würden nachhaltige Stadt- und Verkehrsentwicklung begünstigen. Smart Meter und intelligente Häuser würden die Entwicklung von Smart Cities fördern.

12. Nachhaltiger Konsum und Produktion: PCAs sollten in Betracht ziehen, wie Individuen nachhaltige Konsumpraktiken nutzen können, um ihre Emissionen zu senken.

13. Maßnahmen zum Klimaschutz: PCAs müssen mit anderen Klimaschutzmaßnahen koordiniert werden und Pfadabhängigkeiten und mögliche Reibungen mit anderen Maßnahmen berücksichtigen.

14. Leben unter Wasser: Wenn PCAs die Menschen dazu animieren, weniger Fleisch zu essen, könnte das dazu führen, dass sie Fleisch durch Fisch ersetzen. Auswirkungen auf SDG14 müssten also evaluiert werden.

15. Leben an Land: Möglicherweise könnten PCAs mit naturbasierten Maßnahmen zur Kohlenstoffbindung verbunden werden.

16. Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen: PCAs sollen größere Bürger*innenbeteiligung und partizipatorische Prozesse begünstigen. Es muss aber untersucht werden, ob sie nicht auch zu neuen sozialen Spannungen führen und den lokalen Frieden und das Vertrauen in die Institutionen beeinträchtigen können.

17. Partnerschaften zur Erreichung der Ziele: Die Autor*innen diskutieren PCAs als eine mögliche Maßnahme im nationalen Maßstab für Länder mit hohem Einkommen. Für zukünftige Designs sollte erforscht werden, ob internationaler Handel mit privaten Emissionsrechten zusätzliche Ressourcen mobilisieren könnte, um sich entwickelnden Ländern zu helfen, ihre CO2-Emissionen zu reduzieren.

Titelbild: Martin Auer

Gesichtet: Stefanie Morhenn, Klaus Jäger


1 Fuso Nerini, F., Fawcett, T., Parag, Y. et al. Personal carbon allowances revisited. Nat Sustain 4, 1025–1031 (2021). https://doi.org/10.1038/s41893-021-00756-w

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