- Klima-Kipppunkte sind kritische Schwellen, an denen schon geringfügige weitere Störungen das Klimasystem grundlegend verändern können.
- Kippelemente sind großräumige Komponenten des Klimasystems, die einen Kipppunkt erreichen können. Dies verändert die Funktionsweise des Systems an sich und kann erhebliche Auswirkungen auf das menschliche Wohlergehen haben.
- Mehrere Kipppunkte könnten im Rahmen der im Pariser Abkommen festgelegten globalen Erwärmung von 1,5 bis < 2 °C überschritten werden. Das Risiko hierfür erhöht sich bei einer Erwärmung von 2 °C bis 3 °C jedoch stark. Auf diesem Pfad befinden wir uns momentan. • Es ist möglich, dass kausale Wechselwirkungen zwischen Kipppunkten existieren. Die Auslösung eines Kipppunkts kann die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass in einer Kaskade weitere Kipppunkte ausgelöst werden.
Ein Kipppunkt in einem System ist ein Punkt, an dem kein Zurück mehr möglich ist. Wird dieser Punkt erreicht, können selbst kleine Änderungen drastische und nicht umkehrbare Veränderungen im Verhalten des Systems bewirken. Dieses Phänomen ist in komplexen Systemen weit verbreitet. Beispiele gibt es in biologischen, sozialen und wirtschaftlichen Systemen und auch im Klimasystem. Bereits 1987 beschrieb Wallace S. Broecker in einem Kommentar in der Zeitschrift Nature die Gefahr, dass erhöhte Treibhausgasemissionen (THG) plötzliche Veränderungen im Klima verursachen können [1]. Auch Belege aus historischen Klimaaufzeichnungen weisen auf das Auftreten solcher abrupter Übergänge hin [2].
In einer wegweisenden Veröffentlichung von 2008 führten Tim Lenton und seine Kolleg:innen den Begriff „kritisches Element“ ein. Sie beschrieben damit Teile des Erdsystems, die durch vom Menschen verursachte Klimaveränderungen an einen Kipppunkt getrieben werden könnten [3]. Sie definierten einen Klima-Kipppunkt als eine Schwelle in einem entscheidenden Parameter. Ein Beispiel hierfür ist die zunehmende globale Durchschnittstemperatur: Sie steigt schon seit einiger Zeit, bis jetzt allerdings ohne globale Systemelemente zu kippen. Aber sobald die Temperaturschwelle für das betrachtete kritische Element erreicht ist, führt selbst eine geringfügige zusätzliche Erwärmung das System in einen völlig anderen Zustand. Selbstverstärkende Rückkopplungen sind ein weiteres Merkmal von Kipppunkten. Das gekippte Element treibt das Klimasystem in einen neuen Zustand. In diesem Zustand strebt das System wieder nach Stabilität. Neue Rückkopplungen entstehen und erhalten die veränderten Bedingungen, z. B. die erhöhte Temperatur, aufrecht.
Politikrelevante Kippelemente im Klimasystem
Potenzielle Klima-Kipppunkte werden mit Hilfe von Expert:innenurteilen identifiziert. Diese basieren auf Beobachtungen, paläoklimatischer Evidenz und Ergebnissen aus global koordinierten Klimamodellierungsprojekten, wie sie auch vom Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) verwendet werden.
Außerdem wird abgeschätzt, ob es zu selbstverstärkenden Effekten kommt, bei welcher Temperatur solche Veränderungen beginnen, ob diese Veränderungen unumkehrbar sind und wie schnell diese Übergänge ablaufen können. Zuletzt wird bewertet, welche Folgen diese Veränderungen auf globaler oder regionaler Ebene haben [3, 4].
Ein Kipppunkt kann auch natürlich ohne menschlichen Einfluss auftreten, wie etwa während der sogenannten “Schneeball-Erde“-Ereignisse vor vielen Millionen Jahren. Allerdings sind diese natürlichen Ereignisse im Kontext der vom Menschen verursachten Erwärmung nicht relevant. Der Schwerpunkt liegt vielmehr auf Kippelementen, die maßgeblich mit menschlichen Aktivitäten zusammenhängen:
- Sie werden wesentlich von menschlichen Handlungen wie Treibhausgasemissionen und Veränderungen in der Landnutzung beeinflusst;
- Entscheidungen, die innerhalb eines „politischen Zeithorizonts“ (ungefähr 100 Jahre) getroffen werden, sind für das Erreichen einer kritischen Schwelle relevant;
- Die Zeit, um eine grundlegende Veränderung im System beobachten zu können, fällt in einen „ethischen Zeithorizont“ (ungefähr 1000 Jahre); und
- Sie haben das Potenzial, grundlegende Veränderungen im gesamten Erdsystem auszulösen.
Mithilfe dieser Bedingungen haben McKay et al. (2022) [4] globale und regionale Kippelemente identifiziert, die sowohl das Klimasystem als auch die menschliche Gesellschaft bedrohen. Tabelle 1 fasst die wichtigsten Kipppunkte zusammen. Die Tabelle ordnet die Kippelemente nach ihren Bereichen im Erdsystem. In der ersten Spalte werden diese Elemente kategorisiert. Die zweite Spalte gibt die Stärke der Erderwärmung (∆T) an, ab der der Kipppunkt ausgelöst wird. Dies umfasst die beste Schätzung sowie minimale und maximale Werte. Zusätzlich beschreibt die dritte Spalte die Zeiträume, die das System benötigt, um in den neuen Zustand überzugehen und sich dort zu stabilisieren. Auch hier werden beste, minimale und maximale Schätzungen angegeben. Die letzte Spalte zeigt die globale und regionale Temperaturänderung an, die durch Erreichung des Kipppunkts zusätzlich entstehen würde. Um die Interpretation zu erleichtern, ist das Vertrauen der Wissenschaft in die Aussagen farbcodiert: Grün steht für hohes Vertrauen, gelb bedeutet mittleres Vertrauen und rot steht für niedriges Vertrauen in die Schätzungen des Schwellenwerts, der Zeitskala und der Auswirkungen.
Laut McKay et al. 2022 gibt es drei wichtige globale Kipppunkte, die wahrscheinlich bei einer Erwärmung von 1,5 bis knapp unter 2 °C – dem Zielbereich des Pariser Abkommens – überschritten werden könnten (siehe Tabelle 1, fett gedruckt). Jedoch erhöht sich das Risiko deutlich, dass diese Kipppunkte eintreten und weitere hinzukommen, wenn wir eine Erwärmung von 2 bis 3 °C betrachten. Aktuell steuern wir auf eine Erwärmung in dieser Größenordnung zu. Außerdem könnten diese Kipppunkte miteinander verknüpft sein: Wird einer erreicht, kann sich die Wahrscheinlichkeit zusätzlich erhöhen, dass nacheinander auch andere ausgelöst werden [5].
Globale Kippelemente, die mit hoher Wahrscheinlichkeit im Bereich der 1,5-2 °C Erwärmung erreicht werden könnten:
Kollaps des Grönlandeisschilds (GrES)
Wegen zunehmender Oberflächenschmelze und beschleunigtem Abbrechen von Eis ins Meer schrumpft der Grönlandeisschild sehr schnell [6]. Alles deutet darauf hin, dass er sich einem kritischen Kipppunkt nähert [4]. Seine Dicke (bis 3 km) hat bis jetzt dazu beigetragen, dass die Oberfläche hoch gelegenen, kalten Luftschichten ausgesetzt war. Das sorgte für einen stabilen Eisschild. Durch das Schmelzen verliert er jedoch an Höhe, was zu wärmeren Temperaturen an seiner Oberfläche und zu immer mehr Abschmelzung führt. Modellsimulationen legen einen Schwellenwert bei etwa 1,5 °C Temperaturanstieg nahe, ab dem das Schmelzen selbstverstärkend werden könnte. Würde der gesamte GrES schmelzen, könnte der globale Meeresspiegel um etwa 7 Meter steigen [7].
Kollaps des Westantarktischen Eisschilds (WAES)
Große Teile des WAES liegen unter dem Meeresspiegel. Wenn das Eis durch wärmere Luft- und Wassertemperaturen schmilzt, zieht sich auch der Boden (Grundlinie) des Eisschilds zurück. Beim WAES befindet sich diese an vielen Stellen auf Hängen, die sich zum Eisschild hin neigen. Das ermöglicht es wärmerem Meerwasser zwischen Untergrund und Eisschild einzudringen und löst einen selbstverstärkenden Rückzug aus (siehe Abbildung 1). Das komplette Schmelzen des WAES könnte den globalen Meeresspiegel um etwa 5 Meter ansteigen lassen [8].
Kollaps der Konvektion in den Labrador- und Irmingermeeren / des Nordatlantischen subpolaren Wirbels (SPW)
Die Abkühlung des Wassers an der Oberfläche des SPW im Winter erlaubt Tiefenwasserbildung. Dabei sinkt Meerwasser von der Oberfläche in tiefe Schichten ab, weil es sehr kalt und salzhaltig und somit sehr dicht (schwer) ist. Dieser Prozess beeinflusst die atlantische meridionale Umwälzzirkulation (AMOC), die Wärme im Atlantik nach Norden transportiert. Allerdings wird das Absinken durch wärmere Winter und einen geringeren Salzgehalt abgeschwächt. Die Gründe hierfür sind mehr Niederschlag und schmelzende Eisschilde, die große Mengen Süßwasser beimischen und so die Dichte des Oberflächenwassers verringern. Modellsimulationen deuten auf einen möglichen Kollaps bei etwa 1,8 °C Klimaerwärmung (Bereich: 1,1 bis 3,8 °C) innerhalb von etwa 10 Jahren hin. Das könnte zu einer regionalen Abkühlung von 2 bis 3 °C im Nordatlantik und möglicherweise 0,5 °C weltweit führen. Diese Verschiebung könnte den Jetstream nach Norden drängen und extremes Wetter in Europa verursachen sowie die Stärke der AMOC beeinträchtigen.
Für weiterführende Informationen besuchen Sie gerne folgende Website: www.global-tipping-points.org
Titelbild: Kalbender Gletscher, Foto: Roland Seiffert via flickr, CC BY-NC
Literatur
[1] Broecker, W. S. (1987). Unpleasant surprises in the greenhouse?. Nature, 328(6126), 123-126.
[2] Brovkin, V., Brook, E., Williams, J. W., Bathiany, S., Lenton, T. M., Barton, M., … & Yu, Z. (2021). Past abrupt changes, tipping points and cascading impacts in the Earth system, Nat. Geosci., 14, 550–558.
[3] Lenton, T. M., Held, H., Kriegler, E., Hall, J. W., Lucht, W., Rahmstorf, S., & Schellnhuber, H. J. (2008). Tipping elements in the Earth‘s climate system. Proceedings of the national Academy of Sciences, 105(6), 1786-1793.
[4] Armstrong McKay, D. I., Staal, A., Abrams, J. F., Winkelmann, R., Sakschewski, B., Loriani, S., … & Lenton, T. M. (2022). Exceeding 1.5 C global warming could trigger multiple climate tipping points. Science, 377(6611), eabn7950.
[5] Kriegler, E., Hall, J. W., Held, H., Dawson, R., & Schellnhuber, H. J. (2009). Imprecise probability assessment of tipping points in the climate system. Proceedings of the national Academy of Sciences, 106(13), 5041-5046.
[6] The IMBIE Team (2020). Mass balance of the Greenland Ice Sheet from 1992 to 2018, Nature, 579, 233–239. [7] Masson-Delmotte, V., Zhai, P., Pirani, S., Connors, C., Péan, S., Berger, N., … Scheel Monteiro, P. M. (2021). PCC, 2021: Summary for Policymakers. In: Climate Change 2021: The Physical Science Basis. Contribution of Working Group I to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change Cambridge University Press, Cambridge, United Kingdom and New York, NY, USA.
[8] Naughten, K. A., Holland, P. R., & De Rydt, J. (2023). Unavoidable future increase in West Antarctic ice-shelf melting over the twenty-first century. Nature Climate Change, 1-7.
[9] Pattyn, F. (2018). The paradigm shift in Antarctic ice sheet modelling. Nature communications, 9(1), 2728.