Fortschritt neu denken: Auf dem Weg zur Wachstumsunabhängigkeit

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von Hans Holzinger

Der Wirtschafts- und Sozialgeograf Hans Holzinger über die wirtschaftlichen Herausforderungen in Österreich und die Notwendigkeit einer Wirtschaft, die von Wachstum unabhängig ist und auf einem neuen Wohlstandsverständnis basiert.

Österreichs Wirtschaft schlittert in ihr zweites Rezessionsjahr, so Wifo-Direktor Gabriel Felbermayr und IHS-Direktor Holger Bonin in einer Pressekonferenz zur Konjunkturprognose 2024 und 2025. Beide Institute erwarten heuer einen Rückgang der realen Wirtschaftsleistung von 0,6 Prozent, bei der Sommerprognose war noch mit 0,0 beziehungsweise 0,3 Prozent plus gerechnet worden. Auch die Zahl der Arbeitslosen werde weiter steigen – und das Budgetdefizit 2024 der Regierung werde über die von der EU vorgegebene Drei-Prozentmarke an der Gesamtwirtschaftsleistung liegen. Vor allem die rückläufige Geschäftsentwicklung in der Industrie und am Bau sowie ein schwacher Konsum werden im laufenden Jahr die Konjunkturentwicklung in Österreich bremsen, so die Wirtschaftsforschungsinstitute.

Irrwege gegen die Abwärtsspirale

Es tritt ein, was in den Wirtschaftswissenschaften als Abwärtsspirale beschrieben wird: Unternehmen investieren aufgrund schlechter Wirtschaftsprognosen weniger, die Bürger und Bürgerinnen halten sich mit Konsumentscheidungen zurück. Der Staat bekommt weniger Steuereinnahmen. Und so fort. Die klassische keynesianische Antwort lautet: Investitionen und Konsum ankurbeln. Die Neoliberalen drängen den Staat zu Ausgabenkürzungen und zu Anreizen, mehr zu arbeiten. In Deutschland wird eine neue Abwrackprämie für jene diskutiert, die den Verbrenner durch ein E-Auto ersetzen, um den E-Mobilitätsmarkt zu beleben und der kränkelnden Automobilindustrie unter die Arme zu greifen. In Österreich fordern Wirtschaftsverbände und manche Parteien, die Attraktivität von Teilzeit mittels Lohneinbußen bzw. durch einen Vollzeitbonus zu verringern. Manche plädieren für erneute Unternehmensspritzen, um die Abwanderung von Produktionsstätten hintanzuhalten und die Verteuerung der Energie abzufedern.

Aus Sicht der Ökologischen Ökonomie führt beides in die Irre. Seit Jahrzehnten wird darauf hingewiesen, dass fossile Energien zu billig sind und dass wir Marktanreize in Gestalt von höheren CO2-Steuern brauchen, um den Umstieg auf Erneuerbare Energie zu beschleunigen. Zudem wird eine Postwachstumsstrategie empfohlen. Im Strombereich sind Sonne und Wind bereits die kostengünstigste Energieform, bei Wasserstoff leider nicht. Zweitens wird darauf verwiesen, dass der private Konsum an Gütern zurückzufahren sei, weil in allen Produkten Energie und Ressourcen stecken, und die Entkopplung des Konsumniveaus vom Ressourcenverbrauch nicht im geforderten Maß gelingt. Das führt drittens zur Forderung, Konzepte für eine Wachstumsunabhängigkeit unserer in Summe bereits sehr starken Volkswirtschaften zu entwickeln.

Qualitätsvolle Versorgung mit Grundgütern

Investitionen in die Energie- und Mobilitätswende mit staatlichen Anreizen zu fördern, ist sinnvoll. Das ist kein verlorenes Geld – im Gegenteil, jeder Euro, den wir durch die Verringerung des Imports an fossilen Energien sparen, ist willkommen und erhöht die inländische Wertschöpfung. Eine generelle Ankurbelung des Konsums ist jedoch kontraproduktiv. Vielmehr ginge es darum, den Fokus auf eine qualitätsvolle Versorgung mit den Grundgütern für alle sicherzustellen: leistbares Wohnen, Lebensmittel hoher Qualität, Zugang zu qualitätsvoller Bildung für alle, zufriedenstellende Gesundheitsdienstleistungen ohne Zwei-Klassenmedizin. Da beißt sich jedoch die Katze in den Schwanz – den all das sind öffentliche Leistungen und diese kosten öffentliches Geld.

Strategien einer wachstumsunabhängigen Wirtschaft setzen daher auf drei Dinge:

  • Vermeidung von Negativkosten, etwa duch Gesundheitsprävention und die Förderung gesunder Lebensstile
  • Neujustierung der Steuersysteme
  • Neue Bilder von Wohlstand

Gesundheitsprävention

Verringerung der Negativkosten etwa durch Gesundheitsprävention und die Förderung gesunder Lebensstile: von einer geänderten Ernährung − wir essen zu süß und salzig sowie zu viel Fleisch − bis hin zu mehr Bewegung. Mehr Alltagswege mit dem Rad oder zu Fuß zurückzulegen, gehört dazu. Motto: Fitnesscenter Arbeitswelt. Auch psychische Gesundheit und Resilienz verringert Krankheitskosten. Der Abbau von zu viel Arbeitsstress sowie von Vereinsamung sind keine hinreichenden, aber notwendige Bedingungen dafür. Erfahrene Selbstwirksamkeit führt übrigens auch zu Resistenz gegenüber vereinfachender Angstmache etwa vor Migration. Länger arbeiten, weil wir länger leben, ist zu enttabuisieren. Negativkosten vermeiden wir aber auch durch wirksame Klimawandelanpassungen – von begrünten Städten gegen die zunehmenden Hitzetage bis hin zu Renaturierungen, die zugleich Hochwasserschutz bieten.

Neujustierung der Steuersysteme

Zweitens braucht es eine Neujustierung der Steuersysteme. Das Ziel von Steuern ist zu steuern. Wenn die Vermögens- und Einkommenskluft immer größer wird, muss der Staat hier gegensteuern. Zu große Reichtumsunterschiede sind demokratiepolitisch und volkswirtschaftlich schädlich – und wir können uns diese auch aus ökologischen Gründen nicht mehr leisten. Laut dem UN-Klimarat sind die zehn Prozent reichsten der Weltbevölkerung für fast die Hälfte der Treibhause verantwortlich. Der Wirtschaftsanthropologe Jason Hickel verweist darauf, dass fast ein Viertel der globalen Wirtschaftsleistung den fünf Prozent Reichsten zufließt. Sein Plädoyer: „Wenn Wachstum ein Ersatz für Verteilung war, dann ist Verteilung auch ein Ersatz für weiteres Wachstum.“ Eine bessere Verteilung des Wirtschaftsprodukts ist auch volkswirtschaftlich sinnvoll: Menschen mit niedrigem Einkommen geben dieses für die Grundversorgung aus und stärken damit die lokale Wirtschaft, Menschen mit höherem Einkommen sparen bei einer generellen Entlastung den verfügbaren Mehrbetrag oder geben diesen für weitere Urlaube im Ausland aus. Klimapolitik braucht daher Sozialpolitik im Sinne von Just Transition.

Vom materiellen Statusdenken zum Wohlbefinden

Drittens geht es – wie bereits angedeutet wurde – um neue Bilder von Wohlstand. Kate Raworth ist Begründerin der Donut-Ökonomie. Sie setzt die ökosystemischen Grenzen in Beziehung zu den menschlichen Grundbedürfnissen wie soziale Sicherheit und Zugang zu Basisleistungen wie Bildung oder Energie. Raworth ist überzeugt:  „Kein Land kann Wohlstand ohne Wachstum erreichen. Aber ebenso kann kein Land ökologische Probleme mit Wachstum lösen.“ Der deutsche Ökonom Rudi Kurz formuliert es ähnlich: „Eine zukunftsfähige Strategie muss den Test der Wachstumsunabhängigkeit bestehen. Nur wenn sie auch ohne Wirtschaftswachstum zur Zielerreichung führt, kann eine Strategie als resilient bezeichnet werden. Neben anders produzieren und konsumieren tritt weniger konsumieren in allen Bedarfsfeldern.“ Kurz spricht von einem Erwartungsmanagement: „Über Jahrzehnte geprägte Erwartungen müssen sich verändern. Die Erfüllung immer neuer Konsumwünsche ist nicht mehr möglich.“ Und auch er plädiert für eine Neuverteilung des nicht mehr wachsenden Kuchens.

Konzepte für Wachstumsunabhängigkeit

Österreich ist eines der reichsten Länder der Erde. Im Gegensatz zur gefühlten Stimmung geht es den meisten Menschen materiell noch immer gut. Nicht nur Österreich, sondern alle Volkswirtschaften mit hoher Wirtschaftsleistung stehen vor der Herausforderung, sich vom Wachstumszwang zu verabschieden. An die Stelle von Wachstum tritt Strukturwandel. Wohlstandszuwächse werden im immateriellen Bereich erreicht – durch mehr Wohlbefinden. Der Fortschritt bekommt eine andere Richtung. Es geht um regeneratives Wirtschaften im Einklang mit den Ökosystemen.

Der von der Uno jährlich herausgegebene Weltglückreport  listet als Kriterien für Zufriedenheit auf: soziale Sicherheit, Vertrauen in sich selbst, ineinander und in den Staat, ein positives Demokratiebild sowie lokales Eingebundensein in Gemeinschaften. Die Rangfolge wird seit Jahren von den skandinavischen Ländern angeführt. Österreich lag zuletzt an 14. Stelle – das heißt, es gibt hier Luft nach oben. Erfolgreiche Wirtschaftspolitik wird auch weiterhin an Zahlen gemessen werden und der Umbau in Richtung Wachstumsunabhängigkeit ist kein Spaziergang, aber er ist möglich. Und er wird uns nicht erspart bleiben: „Slow down by design“ ist allemal besser als „by desaster“.

Mag. Hans Holzinger ist Wirtschafts- und Sozialgeograph und Senior Adviser der Robert-
Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen in Salzburg sowie Mitglied von Scientists for Future.
Soeben ist sein neues Buch „Wirtschaftswende. Transformationsansätze und neue
ökonomische Konzepte im Vergleich
“ bei oekom (München) erschienen.

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Das ’stille Sterben‘ von Weidelandschaften bedroht Klima, Ernährung und Wohlergehen

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Die Verschlechterung von ausgedehnten, oft weitläufigen natürlichen Weidelandschaften durch Überlastung, missbräuchliche Nutzung, Klimawandel und Biodiversitätsverlust stellt eine ernsthafte Bedrohung für die globale Nahrungsmittelversorgung und das Überleben von Milliarden von Menschen dar, warnen die Vereinten Nationen in einem umfassenden Bericht vom Mai 2024.

Bis zu 50 % der globalen Weideflächen sind degradiert, sage die Autor:innen des Global Land Outlook Thematic Report on Rangelands and Pastoralists, der in Ulanbaatar (Mongolei) von der UN Wüstenkonvention (UNCCD) vorgestellt wurde. Zu den Symptomen dieser Verschlechterung gehören verminderte Bodenfruchtbarkeit und Nährstoffversorgung, Erosion, Versalzung, Alkalisierung und Bodenverdichtung, die das Pflanzenwachstum hemmt. Dies führt unter anderem zu Trockenheit, Niederschlagsschwankungen und dem Biodiversitätsverlust über und unter der Erde.

Ursachen sind vornehmlich die Umwidmung von Weideland in Ackerland und andere Landnutzungsänderungen aufgrund von Bevölkerungswachstums und Verstädterung, steigendem Bedarf an Nahrungsmitteln, Faserprodukten und Biotreibstoffen; Überweidung; Aufgabe von Weideflächen und durch die Politik vorangetriebene Übernutzung der Flächen.

Die Bedeutung von Weideland

In die Kategorie „Weideland“ fallen natürliche Graslandschaften, die von Vieh und Wildtieren als Weide- und Futterfläche genutzt werden, so auch Savannen, Buschland, Feuchtgebiete, Tundra und Wüsten.

Zusammengenommen machen diese Flächen 54 % der gesamten Landbedeckung aus, liefern ein Sechstel der weltweiten Nahrungsmittelproduktion und stellen fast ein Drittel des Kohlenstoffspeichers der Erde dar.

„Die Umgestaltung alter Weideflächen geschieht in aller Stille und ruft kaum öffentliche Reaktionen hervor“, sagt UNCCD-Exekutivsekretär Ibrahim Thiaw.

„Obwohl sie weltweit schätzungsweise eine halbe Milliarde Menschen ausmachen, werden die Hirtengemeinschaften häufig übersehen, haben kein Mitspracherecht bei politischen Entscheidungen, die sich direkt auf ihren Lebensunterhalt auswirken, werden an den Rand gedrängt und sogar oft als Außenseiter:innen in ihrem eigenen Land betrachtet.“

Insgesamt sind zwei Miliarden Menschen – Kleinhirt:innen, Viehzüchter:innen und Landwirt:innen – oft vulnerabel und ausgegrenzt – sind weltweit von intakten Weideflächen abhängig.

Der Bericht unterstreicht, dass paradoxerweise gerade die Bemühungen zur Erhöhung von Ernährungssicherheit und Produktivität durch Umwandlung von Weideflächen in Ackerland in den meisten trockenen Regionen zu einer Verschlechterung der Bodenqualität und zu geringeren landwirtschaftlichen Erträgen geführt haben. Weiter werden „schwache und ineffektive Regierungsführung“, „schlecht umgesetzte Politiken und Vorschriften“ und „fehlende Investitionen in Weidelandgemeinschaften und nachhaltige Produktionsmodelle“ als Gründe für die Zerstörung von Weideland genannt.

Laut der mehr als 60 Experten aus über 40 Ländern liegen die bisherige Schätzung der weltweiten Degradierung von Weideland – 25 % – deutlich zu niedrig und könnten tatsächlichen bis zu 50 % betragen.

Der Nutzen von Weideland und seine Funktionsweise werden oft schlecht verstanden, und Mangel an verlässlichen Daten verhindert größtenteils die nachhaltige Bewirtschaftung dieser für Nahrungsmittelversorgung und Klimaregulierung immens wertvollen Flächen.

Wichtigste Empfehlung: das Hirtenwesen schützen

Der Bericht stellt einen innovativen Ansatz vor, der es politischen Entscheidungsträger:innen ermöglichen würde, Weideland zu sichern, wiederherzustellen und zu verwalten.

Der neue Ansatz stützt sich auf Erfahrungen, die in Fallstudien aus fast allen Regionen der Welt zusammengetragen wurden, und zieht wichtige Lehren aus Erfolgen und Misserfolgen in der Weidewirtschaft.

Eine zentrale Empfehlung lautet: Schutz des Hirtenwesens, einer Jahrtausende alten mobilen Lebensform, die sich auf die weidebasierte Zucht von Schafen, Ziegen, Rindern, Pferden, Kamelen, Yaks, Lamas und anderen domestizierten Pflanzenfressern sowie halbdomestizierten Arten wie Bisons und Rentieren konzentriert.

Die weltweit am stärksten von der Verschlechterung der Weideflächen betroffenen Gebiete, in absteigender Reihenfolge:

Zentralasien, China, Mongolei Privatisierung und Agrarindustrialisierung hat die Hirt:innen von unzureichenden natürlichen Ressourcen abhängig gemacht, mit dem Resultat einer weit verbreiteten Degradation. Die allmähliche Wiederherstellung der traditionellen, gemeinschaftsbasierten Weidewirtschaft führt zu deutlichen Fortschritten bei der nachhaltigen Bewirtschaftung.

Nordafrika und Naher Osten Die Auswirkungen der Klimakrise in einer der trockensten Regionen der Welt treiben die Hirt:innen in die Armut durch Verschlechterung von lebensnotwendigen Weideflächen. Die Modernisieriung traditioneller Einrichtungen wie Agdals (Futterreservoirs, die zwischenzeitliche Regeneration natürlicher Ressourcen ermöglichen) und unterstützende Maßnahmen verbessern die Bewirtschaftung der Weideflächen.

Sahel und Westafrika Konflikte, Machtverhältnisse und Grenzfragen haben die Mobilität der Viehherden unterbrochen und zu einer Verschlechterung der Weideflächen geführt. Einheitlichere Maßnahmen, Anerkennung der Rechte von Viehzüchter:innen und grenzüberschreitende Vereinbarungen helfen, die essentielle Mobilität der Viehzüchter:innen wiederherzustellen.

Südamerika Klimakrise, Entwaldung (insb. durch industrialisierten Landwirtschaft und Bergbau) sowie die Umwidmung sind in Südamerika die Hauptursachen für die Verschlechterung der Weideflächen. Multifunktionalität und Vielfalt in Weidesystemen sind daher der Schlüssel zur Wiederherstellung einiger der bedeutendsten Weideländer der Welt (etwa Pampa, Cerrado– und Caatinga-Savannen und die Puna in den peruanischen Anden.).

Ostafrika Migration und Zwangsumsiedlung bedingt durch konkurrierender Landnutzungen (Jagd, Tourismus usw.) vertreiben die Hirt:innen, was die Degradierung der Weideflächen zur Folge hat. Von Frauen geführte Initiativen und verbesserte Landrechte sichern den Lebensunterhalt der Hirt:innen, schützen die Biodiversität und sichern die Ökosystemleistungen von Weideland.

Nordamerika Die Zerstörung traditioneller Graslandschaften und trockener Weideflächen bedroht die Artenvielfalt typischer nordamerikanischer Ökosysteme wie der Hochgrasprärien oder der südlichen Wüsten. Die Einbeziehung der indigenen Bevölkerung in die Bewirtschaftung von Weideland ist ein wichtiger Schritt zur Wiederherstellung der historischen Landschaften.

Europa Die Förderung industrielle Landwirtschaft gegenüber der Weidewirtschaft sowie falsche Anreize führen zur Aufgabe und Verschlechterung von Weideland und anderer offener Ökosysteme. Doch zugleich können politische und wirtschaftliche Unterstützung, einschließlich rechtlicher Anerkennung und Differenzierung, zur Trendwende beitragen und damit beispielsweise zunehmende Häufigkeit und Intensität von Waldbränden und den Klimawandel eindämmen.

Südafrika und Australien Aufforstung, Bergbau und die Umwandlung von Weideflächen in andere Nutzungen führen zu einer Verschlechterung und zum Verlust von Weideflächen. Die gemeinsame Schaffung von Wissen durch Erzeuger und Forscher sowie die Achtung und Nutzung des traditionellen Wissens indigener Gemeinschaften eröffnen neue Wege zur Wiederherstellung und zum Schutz von Weideland.

Paradigmenwechsel

Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass ein Paradigmenwechsel in der Bewirtschaftung auf allen Ebenen – von der Basis bis zur globalen Ebene – erforderlich ist, um die Verschlechterung aufzuhalten.

Pedro Maria Herrera Calvo, Hauptautor des Berichts: „Die sinnvolle Beteiligung aller Interessengruppen ist der Schlüssel zu einer verantwortungsvollen Bewirtschaftung von Weideland, die kollektives Handeln fördert, den Zugang zu Land verbessert und traditionelles Wissen und praktische Fähigkeiten einbezieht“.

Die Lösungen müssen auf die stark variierenden Merkmale und die Dynamik der Weidegebiete zugeschnitten sein. Darüber hinaus fordert der Bericht, dass Hirt:innen ihren Erfahrungsschatz aktiv einbringen und einbezogen werden, von der Planung über die Entscheidungsfindung bis hin zur Verwaltung. Häufig, so der Bericht, unterschätzen herkömmliche Bewertungsmethoden den tatsächlichen wirtschaftlichen Beitrag von Weideland und Hirtentum.

Die wichtigsten Empfehlungen:

  • Strategien zur Klimawandelabschwächung und -Anpassung und nachhaltige Bewirtschaftung von Weideland integrieren, um die CO2 Bindung und Speicherung zu erhöhen und die Widerstandsfähigkeit von Hirten- und Weidelandgemeinschaften zu stärken
  • Vermeidung oder Verringerung von Landnutzungsänderungen, die die Diversität und Multifunktionalität von Weideland beeinträchtigen, insbesondere auf indigenem und kommunalem Land
  • Maßnahmen zur Erhaltung von Weideland innerhalb und außerhalb von Schutzgebieten, um die Biodiversität über und unter der Erde zu fördern und die Gesundheit, Produktivität und Widerstandsfähigkeit extensiver Viehhaltungssysteme zu stärken
  • Strategien und Praktiken stärken, die auf der Weidewirtschaft basieren und dazu beitragen, Schäden für die Gesundheit der Weideflächen, wie Klimawandel, Überweidung, Bodenerosion, invasive Arten, Dürre und Waldbrände, zu mindern
  • Förderung einer unterstützenden Politik, einer umfassenden Beteiligung der Bevölkerung und flexibler Verwaltungs- und Governance-Systeme, um die Leistungen von Weideland und Hirtentum für die gesamte Gesellschaft zu stärken.

Quelle: https://www.unccd.int/news-stories/press-releases/silent-demise-vast-rangelands-threatens-climate-food-wellbeing-billions

Der vollständige Bericht hier zum Downloade (Englisch): https://www.unccd.int/resources/global-land-outlook/glo-rangelands-report

Titelbild: Wüste Gobi, Mongolei, HBieser über Pixabay

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Buchtipp: Green Growth, Degrowth, Postkapitalismus? – Hans Holzingers neues Buch „Wirtschaftswende“

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Begrenzung, Einschränkung oder gar Schrumpfung sind als Angstbegriffe verpönt. Doch genau das werden wir brauchen, um die Ökosysteme nicht noch stärker zu schädigen. Ein anderes Wirtschaften ist dringend nötig, und es ist – wie der Transformationsforscher Hans Holzinger zeigt – auch möglich!

Er beschreibt die Nichtnachhaltigkeit unserer aktuellen Wirtschafts- und Lebensweise, skizziert aber insbesondere die vielen Neuansätze in den Bereichen Energie und Ernährung, Mobilität und Stadt, Finanzen und Steuern sowie Unternehmen und Soziales. Zudem beschreibt er unterschiedliche makroökonomische Konzepte von Green Growth über Degrowth bis hin zu postkapitalistischen Entwürfen, die er in Bezug auf Plausibilität, Wünschbarkeit und Umsetzungschancen prüft.

Porträt Hans Holzinger
Foto: Carmen Bayer

Das Buch macht deutlich, dass es mittlerweile zahlreiche Transformationsansätze gibt, und es beschreibt, wie die Wirtschaftwende gelingen könnte. Es richtet sich an ein breites Publikum, um die Zukunftsvorschläge über die Fachwelt hinaus bekannt und diskutierbar zu machen. Der Autor benennt die Nichtnachhaltigkeit unserer aktuellen Wirtschafts- und Lebensweise, er skizziert aber insbesondere die vielen Neuansätze in den Bereichen Energie und Ernährung, Mobilität und Stadt, Finanzen und Steuern sowie Unternehmen und Konsum. Deutlich wird, wie all diese Wenden mit Wirtschaft zu tun haben.

Dass Transformationen anstehen, zeigt Holzinger schließlich an den aktuell diskutierten makroökonischen Konzepten von Green Growth über Degrowth bis hin zu postkapitalistischen Entwürfen, die in Bezug auf Plausibilität, Wünschbarkeit und Umsetzungschancen geprüft werden. Die Stärke der Green Growth-Ansätze sieht Holzinger in den noch lange nicht ausgeschöpften technologischen Potenzialen einer grünen Wende. Doch diese werden nicht reichen, um ein klimaneutrales Wirtschaften sowie eine drastische Reduzierung des Ressourcenverbrauchs hinzukriegen, argumentiert er mit der Postwachstumsbewegung. Ökosozialistische Konzepte erkennen zwar die Größe der notwendigen Transformation, die Vergesellschaftung der Produktion sei aber keine Gewähr, nachhaltiger zu produzieren, so Holzinger. Die Stärke offener Gesellschaften sieht er jedoch im offenen Diskurs über plurale Zukunftsstrategien. Am Ende plädiert Hozinger für eine moderne Bedarfsökonomie, die die Stärke freier Märkte nutzt, zugleich aber die Sicherung der Grundbedürfnisse unter Einhaltung der ökosystemischen Grenzen in den Mittelpunkt stellt.

Das Buch bietet eine umfassende Einführung in ein zukunftsfähiges Wirtschaften, was auch die Abschnitte zu den Grundlagen jeder Ökonomie sowie zu einer neuen Wohlstandsmessung unterstreichen. Der Wandel der Produktionsweisen sowie der Arbeit kommen ebenso zur Sprache wie die Rolle des Geldes als Ermöglicher, Tauschmittel und Kapital und die Bedeutung von Technik und Konsum als Treiber des Kapitalismus.

Zitat:

„Eine moderne Bedarfsökonomie, die (wieder) den Gebrauchswert der Güter in den Mittelpunkt stellt, würde uns nicht schlechter leben lassen, aber zukunftstauglich. Vielleicht erhält das bereits in den 1970er Jahren diskutierte System einer „dualen Wirtschaft“ mit einem stark ausgeweiteten öffentlichen bzw. gemeinwohlorientierten Sektor bei gleichzeitiger Schrumpfung der ökologisch destruktiven Sektoren angesichts der aktuellen Krisen, die den Staat rehabilitieren, neue Umsetzungschancen? Der Shareholder-Value-Kapitalismus würde zurückgedrängt, die Marktwirtschaft (wieder) Fuß fassen. Ein Selbstläufer ist das freilich nicht. Notwendig sind zivilgesellschaftlicher Druck, die Dekonstruktion von Mythen, etwa in Bezug auf die scheinbare Alternativlosigkeit des gegenwärtigen Systems, und damit auch mehr öffentliche Diskurse über Neuansätze. Das Buch versteht sich als Beitrag dazu.“

Hans Holzinger ist Wirtschafts- und Sozialgeopgraph. Er war ab 1992 wissenschaftlicher Mitarbeiter und ab 2016 pädagogischer Leiter der Robert Jungk Bibliothek für Zukunftsfragen (JBZ). Seit seiner Pensionierung im Juni 2022 ist er Senior Adviser.
Hans Holziinger ist Mitglied des Fachkollegiums der Scientists for Future Österreich.

Wirtschaftswende.
Transformationsansätze und neue ökonomische Konzepte im Vergleich.
München: oekom 2024.
ISBN: 978-3-98726-102-2
Softcover, 416 Seiten
Euro 24,50
Erschienen am 2. Mai 2024

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Seit Paris haben Banken die fossile Industrie mit fast 7 Billionen Dollar finanziert

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Laut dem Report „Banking on Climate Chaos“ haben die großen Banken der Welt seit dem Pariser Abkommen fast 7 Billionen (6.900.000.000) US-Dollar an Finanzmitteln für die fossile Industrie bereitgestellt. Forscher für den Bericht, der mittlerweile in der 15. Auflage erscheint, analysierten die Kreditvergabe der 60 größten Banken der Welt an mehr als 4.200 Unternehmen, die fossile Brennstoffe herstellen.

Fast die Hälfte – 3,3 Billionen US-Dollar – wurden in den weiteren Ausbau der fossilen Industrie . Selbst im Jahr 2023, zwei Jahre nachdem viele große Banken versprochen hatten, im Rahmen der Net Zero Banking Alliance auf eine Reduzierung der Emissionen hinzuarbeiten, beliefen sich die Bankfinanzierungen für fossile Unternehmen auf 705 Milliarden US-Dollar, wobei 347 Milliarden US-Dollar in die Expansion flossen.

Die größten Finanziers waren US-Banken, allen voran JP-Morgan Chase und Bank of America, Der weltweit zweitgrößte Geldgeber für fossile Brennstoffe war die japanische Bank Mizuho, Europas größte Finanziers waren Barclay, Santander und Deutsche Bank. Insgesamt haben europäische Banken dem Bericht zufolge im Jahr 2023 etwas mehr als ein Viertel der gesamten Finanzierung fossiler Brennstoffe aufgebracht.

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Der Kampf gegen den Klimawandel ist auch ein Kampf gegen die Krise der Lebenshaltungskosten

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Erhöhte Durchschnittstemperaturen könnten die jährliche Lebensmittelinflation um bis zu 3,2 Prozentpunkte pro Jahr und die Gesamtinflation um bis zu 1,18 Prozentpunkte pro Jahr bis 2035 ansteigen lassen. Dies zeigt eine neue Studie des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung PIK und der Europäischen Zentralbank EZB, die in der Fachzeitschrift Communications Earth & Environment veröffentlicht wurde. Dieser Effekt bleibt über 12 Monate in reichen und armen Ländern gleichermaßen bestehen, was den Klimawandel zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor für die Preisstabilität macht.

In der Studie untersuchten die Forschenden, wie sich Klimakennzahlen – wie hohe Temperaturen, extreme Regenfälle usw. – in historischen Daten auf die Inflation ausgewirkt haben. Die Studie zeigt, dass die Inflation nicht linear auf den Anstieg der monatlichen Durchschnittstemperatur reagiert: Den Autorinnen und Autoren zufolge steigt die Inflation, wenn die Temperaturen steigen, und zwar am stärksten im Sommer und in heißen Regionen in niedrigeren Breitengraden, zum Beispiel im globalen Süden.Die Forschenden untersuchten auch den Sommer 2022 in Europa, als Hitze und Trockenheit weitreichende Auswirkungen auf die Landwirtschaft und die Wirtschaft hatten: „Anhand unserer Ergebnisse schätzen wir, dass der extreme Hitzesommer 2022 die Lebensmittelinflation in Europa um etwa 0,6 Prozentpunkte erhöht hat. Die für 2035 prognostizierte künftige Erwärmung würde die Auswirkungen solcher Extreme um 50 Prozent verstärken“, erklärt Maximilian Kotz, PIK-Forscher und Erstautor der Studie. „Diese Auswirkungen sind für Währungsunionen mit einem Inflationsziel von zwei Prozent wie die Eurozone sehr relevant und werden sich mit der zukünftigen globalen Erwärmung noch verstärken.“

Artikel: Maximilian Kotz, Friderike Kuik, Eliza Lis, Christiane Nickel (2024): Global warming and heat extremes to enhance inflationary pressures. Communications Earth & Environment. [DOI: 0.1038/s43247-023-01173-x]

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Verkehr wird 2030 fast die Hälfte der europäischen Treibhausgas-Emissionen verursachen

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Zu diesem Schluss kommt die jüngste Analyse von Transport & Environment (T&E), die Dachorganisation von nichtstaatlichen europäischen Organisationen, die sich für einen nachhaltigen Verkehr einsetzen. Die europäischen Verkehrsemissionen sind seit 1990 um mehr als ein Viertel gestiegen, und die T&E-Analyse zum Stand des europäischen Verkehrs kommt zu dem Ergebnis, dass die Emissionen in der gesamten Wirtschaft zwar bereits rückläufig sind, die Verkehrsemissionen jedoch weiter steigen. Europa muss beginnen, sein Verkehrsemissionsproblem ernst zu nehmen, wenn es im Jahr 2050 Netto-Null erreichen will, sagt T&E.

Dekarbonisierung des Verkehrs dreimal so langsam wie im Rest der Wirtschaft

Seit dem Höhepunkt der Emissionen aus Mobilität im Jahr 2007 verlief die Dekarbonisierung des Verkehrs mehr als dreimal langsamer als im Rest der Wirtschaft. Im Rahmen der aktuellen Klimapolitik könnte sein Anteil bis 2030 44 % aller Treibhausgasemissionen erreichen, gegenüber 29 % heute. Die Verkehrsemissionen in der EU betragen inzwischen mehr als 1000 Megatonnen CO2-Äquivalente.

Autos, die Benzin und Diesel verbrennen, sind mit einem Anteil von mehr als 40 % die größte Quelle der verkehrsbedingten Emissionen. Die Abhängigkeit vom Auto hat seit den 1990er Jahren zugenommen, was durch den Autobahnbau und eine wachsende Fahrzeugflotte ermöglicht wurde. Erst seit Kurzem ist eine Reduzierung der durchschnittlichen Autoemissionen zu beobachten, da eine Welle von Elektrofahrzeugen auf den Markt kommt.

Die Emissionen des Luftverkehrs haben sich in den letzten 30 Jahren verdoppelt – schneller als in jedem anderen Verkehrssektor. Die zusätzliche Belastung durch Kondensstreifen verdreifacht möglicherweise die Klimaauswirkungen des Fliegens.

EU-Klimavorschriften sind nicht ausreichend

Die EU-Klimavorschriften werden die Verkehrsemissionen bis zum Jahr 2040 nur um 25 % gegenüber 1990 senken und bis zum Jahr 2050 um 62 %. Autos, Lieferwagen und Lastwagen, die bis zur Mitte der 2030er Jahre gekauft werden, werden noch viele Jahre lang auf europäischen Straßen unterwegs sein und dabei Benzin und Diesel verbrennen. Schifffahrtsbetreiber haben wenig Anreiz, ihre betriebliche Effizienz zu steigern, und die durch die Erhöhung der Flughafenkapazität angekurbelte Nachfrage nach Flügen macht alle Gewinne aus der Einführung umweltfreundlicher Treibstoffe in diesem Jahrzehnt zunichte.

Ausbau von Flughäfen und Autobahnen stoppen

Um die Menge an erneuerbaren Energien, die für die Dekarbonisierung des Sektors erforderlich sind, zu reduzieren, muss die ständig wachsende Nachfrage nach Verkehrsmitteln gestoppt werden. Und das bedeutet, dass der Bau von Autobahnen und der Ausbau der Flughafenkapazitäten beendet werden muss.

Ehrgeizige und verbindliche Ziele für den Anteil an Elektrofahrzeuge für Unternehmen mit großen Fahrzeugflotten sind ein wesentlicher Schlüssel zur Beschleunigung des Übergangs zur Nullemission. Das könnte bis 2040 Einsparungen von 213 Mio. t CO2-Äquivalente bringen.

Die Erschließung von Effizienzsteigerungen im Schifffahrtssektor könnte zusätzliche 93 Mio. t CO2-Äquivalenteeinsparen.

Direkte Elektrifizierung ist effizienter als Wasserstoff und E-Fuels

Die direkte Elektrifizierung des Straßenverkehrs ist mehr als zweimal effizienter als Wasserstoffantrieb und viermal effizienter als die Verwendung von E-Fuels. Europa kann es sich nicht leisten, erneuerbare Elektrizität zu verschwenden.

Vorläufige Daten zeigen, dass die Emissionen im Straßenverkehr im vergangenen Jahr um 8 Mio. t CO2-Äquivalente und im Schiffsverkehr um 5 Mio. t CO2-Äquivalente zurückgegangen sind. Diese Reduzierung wurde durch das Wachstum der Luftfahrtemissionen zunichte gemacht, die um 15 Mio. t CO2-Äquivalente anstiegen.

Titelfoto: Dieter Heinrich via flickr, CC BY-ND

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Carbon Tracker warnt vor Investitionen in Öl und Gas

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Investor:innen in Öl und Gas könnten bis zu 60% ihrer Einnahmen verlieren, warnt Carbon Tracker in seinem neuesten Report. Die Konzerne gehen bei ihrer Planung vom jetzigen Stand der Verpflichtungen zur Emissionsreduzierung aus, das heißt von einem langsamen Übergang zu erneuerbaren Energien, der – wie bekannt – zu einer Erwärmung von 2,4°C führen würde. Doch die Technologien für saubere Energie entwickeln sich, so der Report, rasant. Die Internationale Energie Agentur rechnet damit, dass die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen ab 2030 zurückgehen wird.

Der Report untersucht zehn Konzerne, die in der Nordsee tätig sind, und kommt zu dem Schluss, dass bis 2030 bei einer moderaten Energietransition, die zu einer Erwärmung von 1,7°C führen würde, acht von ihnen 60 bis 100 Prozent ihrer Einnahmen verlieren könnten.

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Commons – Wie Nachhaltigkeit gelingen kann
von Martin Auer

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Die Theorie von der „Tragödie der Commons“ taucht immer wieder in der Diskussion um die Klimakatastrophe und die planetare Krise auf. Laut ihr sind Gemeingüter unweigerlich der Übernutzung und dem Verfall preisgegeben. Die Politologin und Ökonomin Elinor Ostrom hat gezeigt, warum das nicht so sein muss und wie Ressourcen von selbstorganisierten Gemeinschaften oft über Jahrhunderte nachhaltig genutzt werden können.

Intelligente Wesen, die unseren Planeten beobachten, müssten zu dem Schluss kommen, dass sich hier eine schreckliche Tragödie abspielt: Wir Erdenmenschen zerstören unseren Planeten. Wir wissen, dass wir ihn zerstören. Wir wollen ihn nicht zerstören. Und doch scheint es, dass wir keinen Weg finden, die Zerstörung zu beenden.

Eine theoretische Formulierung dieses Phänomens stammt von dem US-amerikanischen Ökologen Garrett Hardin (1915 bis 2003). Mit seinem 1968 erschienenen Artikel „The Tragedy of the Commons1 – auf Deutsch: „Die Tragödie der Commons“ oder „Die Tragik der Allmende“ – hat er ein geflügeltes Wort geschaffen, das den Vorgang beschreibt, bei dem das Handeln Einzelner zu einem Ergebnis führt, das niemand gewollt hat. In dem Beitrag versucht Hardin zu zeigen, dass frei zugängliche Allgemeingüter wie die Atmosphäre, die Weltmeere, Fischgründe, Wälder oder gemeinschaftliche Weidegründe notwendig übernutzt und zugrunde gerichtet werden. Von der Gemeindeflur, der Weide, die von einem Dorf gemeinsam benutzt wurde, nimmt er auch den Begriff der „Commons“ beziehungsweise der „Allmende“. Eine solche gemeinschaftlich genutzte Weide dient ihm als Beispiel.

Die Rechnung geht ungefähr so: Auf einer Weide grasen 100 Kühe. Das sind gerade so viele, dass sich die Weide jedes Jahr regenerieren kann. Zehn dieser Kühe gehören mir. „Als rationales Wesen“, sagt Hardin, „strebt jeder Viehzüchter danach, seinen Nutzen zu maximieren“: Wenn ich jetzt statt zehn Kühen noch eine elfte auf die Weide schicke, verringert sich der Milchertrag pro Kuh um ein Prozent, weil jede jetzt weniger zu fressen hat. Zwar sinkt auch mein Milchertrag pro Kuh, aber da ich jetzt elf statt zehn Kühe habe, steigert sich mein gesamter Milchertrag um fast neun Prozent. Ich wäre also dumm, wenn ich auf die elfte Kuh verzichten würde, um die Weide nicht zu überlasten. Und noch dümmer wäre ich, wenn ich zusehen würde, wie andere Viehzüchter zusätzliche Kühe auf die Weide treiben, und ich als einziger die Weide schonen wollte. Der Milchertrag meiner zehn Kühe würde sich verringern, und die anderen hätten den Vorteil. Ich würde also bestraft werden dafür, dass ich mich verantwortungsvoll verhalte.

Derselben Logik müssen auch alle anderen Viehzüchter folgen, wenn sie nicht untergehen wollen. Und darum ist es so unausweichlich wie das Schicksal in der griechischen Tragödie, dass die Weide übernutzt wird und schließlich verödet.

Folgen von Überweidung am Rukwasee, Tansania
Lichinga, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Feindbild Bevölkerungswachstum

Um die Tragödie zu verhindern, gibt es laut Hardin nur zwei Möglichkeiten: entweder die Regulierung durch eine zentrale Verwaltung oder die Aufteilung der Gemeinschaftsgüter in private Parzellen. Ein Viehzüchter, der seine Kühe auf seinem eigenen Land weidet, wird darauf achten, seinen Boden nicht zu zerstören, so das Argument. „Entweder privates Unternehmertum oder Sozialismus“, formulierte er später. Die meisten Darstellungen der „Tragik der Allmende“ enden hier. Doch es ist gut zu wissen, welche weitergehende Schlussfolgerungen Hardin gezogen hat. Es sind Argumentationen, die immer wieder in der Debatte über die Klimakatastrophe auftauchen.

Die eigentliche Ursache für Übernutzung von Ressourcen sieht Hardin im Bevölkerungswachstum. Er macht das am Beispiel der Umweltverschmutzung fest: Wenn ein einsamer Pionier im Wilden Westen seinen Abfall in den nächsten Fluss geschmissen hat, war das weiter kein Problem. Ab einer gewissen Bevölkerungsdichte kann die Natur unseren Abfall nicht mehr aufnehmen. Doch die Lösung der Privatisierung, die – nach Hardins Ansicht – für Viehweiden funktionieren soll, funktioniert nicht für Flüsse, Meere oder die Atmosphäre. Die lassen sich nicht einzäunen, die Verschmutzung breitet sich überallhin aus. Da er einen direkten Zusammenhang zwischen Umweltverschmutzung und Bevölkerungsdichte sieht, lautet Hardins Schlussfolgerung: „Die Freiheit zur Fortpflanzung ist nicht tolerierbar.“ („Freedom to breed is intolerable.“)

Rassismus und Ethno-Nationalismus

In einem späteren Artikel von 1974 mit dem Titel „Life Boat Ethics: the Case against Helping the Poor“ („Rettungsboot-Ethik: Plädoyer gegen Hilfe für die Armen“)2 wird er deutlich: Nahrungsmittelhilfe für arme Länder fördere nur das Bevölkerungswachstum und verschärfe so die Probleme der Übernutzung und Verschmutzung. Die Bevölkerung der reichen Länder, so seine Metapher, sitzt in einem Rettungsboot, das nur eine begrenzte Zahl an Menschen tragen kann. Das Boot ist umgeben von verzweifelten Ertrinkenden, die hineinwollen. Doch sie ins Boot zu lassen würde den Untergang aller bedeuten. Solange es keine Weltregierung gebe, die die Fortpflanzung der Menschen kontrolliere, sagt Hardin, sei eine Ethik des Teilens nicht möglich. „Für die vorhersehbare Zukunft ist unser Überleben davon abhängig, dass wir unser Handeln von der Ethik des Rettungsboots leiten lassen, so hart diese auch sein mag.“

Hardin schrieb 27 Bücher und verfasste 350 Artikel, von denen viele offen rassistisch und ethno-nationalistisch waren. Doch wenn Hardins Ansichten der Öffentlichkeit präsentiert werden, wird der weiße Nationalismus, von dem sein Denken geprägt war, weitgehend übergangen. Hauptsächlich auf Webseiten von weißen Suprematisten findet man Erörterungen seines vollständigen Gedankenguts. Wie die US-Organisation SPLC schreibt, wird er dort als Held gefeiert.3

Muss es also tragisch enden? Müssen wir wählen zwischen Diktatur und Untergang?

Der Streit um „Zentralgewalt“ oder „Privatisierung“ dauert bis heute an. Dass es zwischen den beiden Polen noch eine dritte Möglichkeit gibt, zeigte die US-amerikanische Ökonomin Elinor Ostrom (1933 bis 2012). Sie erhielt 2009 als erste Frau den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften für ihr Werk4, in dem sie sich intensiv mit den Fragen der Commons auseinandersetzte. In der Würdigung des Nobel-Komitees heißt es, dass sie gezeigt hat, „wie gemeinschaftliches Eigentum von Nutzerorganisationen erfolgreich verwaltet werden kann“.

Jenseits von Markt und Staat

Elinor Ostrom
Foto: Prolineserver 2010, Wikipedia/Wikimedia Commons (cc-by-sa-3.0)

In ihrem 1990 erstmals erschienenen Buch „Governing the Commons“4 (deutsch: „Die Verfassung der Allmende – Jenseits von Markt und Staat“) stellte Ostrom Hardins These von der Tragik der Allmende auf den Prüfstand. Sie untersuchte vor allem praktische Beispiele für Gemeinschaften, die über lange Zeit hinweg eine Ressource nachhaltig verwaltet und genutzt haben, aber auch Beispiele für das Misslingen einer solchen Selbstverwaltung. Bei der theoretischen Analyse nutzte sie Spieltheorie, um zu zeigen, dass weder die Kontrolle durch eine äußere (staatliche) Macht noch die Privatisierung optimale Lösungen für die nachhaltige Nutzung und dauerhafte Erhaltung von Gemeingütern garantieren.

Im ersten Fall müsste die staatliche Gewalt vollständige Informationen über die Eigenschaften der Ressource und das Verhalten der Nutzer:innen haben, um schädliches Verhalten korrekt sanktionieren zu können. Sind ihre Informationen unvollständig, können ihre Sanktionen erst wieder zu Fehlverhalten führen. Je besser und genauer die Überwachung ist, umso teurer wird sie aber. Diese Kosten werden von Befürworter:innen staatlicher Kontrolle meist außer Acht gelassen.

Privatisierung wiederum erlegt den Nutzer:innen Kosten für Einzäunung und Überwachung auf. Im Fall einer aufgeteilten Viehweide kann es geschehen, dass das Wetter einige Gebiete begünstigt, während andere unter Trockenheit leiden. Die Viehzüchter können aber jetzt nicht mehr in die fruchtbaren Gebiete ausweichen. Das führt zur Überweidung der trockenen Gebiete. Im nächsten Jahr kann die Dürre dann wieder andere Gebiete treffen. Futter aus den fruchtbaren Gebieten zu kaufen erfordert die Einrichtung neuer Märkte, was auch wieder Kosten verursacht.

Der dritte Weg

Sowohl theoretisch als auch empirisch legt Ostrom dar, dass es zwischen Markt und Staat noch andere Lösungen gibt. Sie untersucht so unterschiedliche Fallbeispiele wie Gemeinschaftsalmen und Gemeinschaftswälder in der Schweiz und in Japan, gemeinsam verwaltete Bewässerungssysteme in Spanien und den Philippinen, Grundwasserverwaltungen in den USA, Fischereigründe in der Türkei, Sri Lanka und Kanada. Einige der erfolgreichen Systeme ermöglichen schon seit Jahrhunderten eine nachhaltige gemeinschaftliche Bewirtschaftung.
Ostrom stellt in ihren Fallstudien und auch in Laborexperimenten fest, dass nicht alle Nutzer:innen eines Gemeinschaftsguts gleichermaßen „rationale Nutzenmaximierer“ sind. Es gibt Trittbrettfahrer:innen, die immer eigennützig handeln und in Entscheidungssituationen nie kooperieren. Es gibt Nutzer:innen, die nur dann kooperieren, wenn sie sicher sein können, dass sie nicht von Trittbrettfahrer:innen ausgenützt werden. Es gibt solche, die bereit sind, die Zusammenarbeit zu suchen, in der Hoffnung, dass ihr Vertrauen erwidert wird. Und schließlich gibt es vielleicht auch noch ein paar echte Altruist:innen, die immer das Wohl der Gemeinschaft suchen.
Wenn es einigen gelingt, vertrauensvoll zusammenzuarbeiten und dadurch gemeinsam einen höheren Nutzen zu erlangen, können andere, die das beobachten, motiviert werden, ebenfalls zu kooperieren. Wichtig ist, dass alle das Verhalten der anderen beobachten können und auch den Nutzen des gemeinsamen Handelns erkennen können. Der Schlüssel für die Bewältigung der Probleme liegt also in der Kommunikation und der Bildung von Vertrauen.

Was erfolgreiche Commons auszeichnet

Verallgemeinert stellt Ostrom fest, dass die nachhaltige gemeinsame Nutzung eines Gemeinguts dann wahrscheinlicher ist, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind:

  • Es gibt klare Regeln, wer zur Nutzung berechtigt ist und wer nicht.
  • Die Regeln für die Aneignung und Bereitstellung einer Ressource entsprechen den örtlichen Bedingungen. In unterschiedlichen Fischgründen werden zum Beispiel unterschiedliche Netze oder Fangleinen erlaubt. Gemeinsame Arbeiten im Wald oder bei der Ernte werden zeitlich festgelegt usw.
  • Die Nutzer:innen selbst legen die Regeln fest und ändern sie nach Bedarf. Da sie selbst von den Regeln betroffen sind, können sie ihre Erfahrungen einbringen.
  • Die Einhaltung der Regeln wird überwacht. In kleinen Gruppen können die Beteiligten das Verhalten der anderen direkt beobachten. Personen, die die Einhaltung der Regeln überwachen, sind entweder selbst Nutzer:innen oder sind von den Nutzer:innen bestellt und ihnen rechenschaftspflichtig.
  • Regelverletzungen werden sanktioniert. Meistens werden erstmalige Übertretungen milde behandelt, mehrmalige umso strenger. Je sicherer die Beteiligten sind, dass sie nicht von Trittbrettfahrer:innen ausgenützt werden, umso eher werden sie sich selbst an die Regeln halten. Wird jemand beim Regelbruch ertappt, leidet auch sein oder ihr Ruf.
  • Konfliktlösungsmechanismen sind schnell, kostengünstig und direkt, wie zum Beispiel örtliche Versammlungen oder ein von den Nutzer:innen bestelltes Schiedsgericht.
  • Der Staat erkennt das Recht der Nutzer:innen an, ihre Regeln selbst zu bestimmen. Die Erfahrung zeigt, dass staatliche Eingriffe in traditionelle Commons oft zu einer Verschlechterung geführt haben.
  • Eingebettete Organisationen: Wenn ein Gemeingut eng mit einem großen Ressourcensystem verbunden ist, zum Beispiel lokale Bewässerungssysteme mit größeren Kanälen, sind Verwaltungsstrukturen auf mehreren Ebenen miteinander „verschachtelt“. Es gibt nicht nur ein einziges Verwaltungszentrum.

Gemeinsam in den Holzschlag

Eine traditionelle Allmende zeigt dieses Video über eine „Waldnachbarschaft“ in Bladersbach, Nordrhein-Westfalen, deren Wurzeln bis in das 16. Jahrhundert zurückreichen.


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Charakteristisch für die Waldnachbarschaften ist der ungeteilte Waldbesitz einer Gemeinde als Erbenwald. Die angestammten Familien nutzen ihn gemeinschaftlich. Im Winter wird Brennholz geschlagen. Die gewählten „Deputierten“ geben jedes Jahr einen Teil des Waldes zur Holzung frei. Dieser Teil wird entsprechend der Anzahl der Familien unterteilt. Die Grenzen der „Örter“ werden durch das Einschlagen von dicken Ästen markiert, die jeweils eine Nummer eingeschnitzt bekommen. Wenn das Ausmessen abgeschlossen ist, werden die einzelnen Waldabschnitte unter den Familien verlost. Danach markieren die Inhaber:innen der Nachbarflächen von den Grenzpfählen ausgehend gemeinsam die Grenzen ihrer Gebiete.

Bis in die 1960er-Jahre wurden die Eichen in diesem Mischwald zur Gewinnung von Gerberlohe genutzt. Die Arbeit des Rindenschälens geschah im Frühjahr. Im Winter konnten Birken, Hainbuchen und Erlen gefällt werden. In einer früheren Phase wurden nicht die Waldflächen verlost, sondern die Waldnachbarn machten die Arbeit gemeinsam und verlosten später die Brennholzstapel. Der Wald ist ein „Niederwald“. Die Triebe der Laubbäume wachsen aus dem Wurzelstock nach. Nach 28 bis 35 Jahren müssen die mittelstarken Stämme geschlagen werden, sonst ist die Wurzel zu alt, um neue Triebe zu bilden. Durch die rotierende Nutzung kann sich der Wald immer wieder regenerieren.

Commons müssen aber keineswegs nur traditionelle Dorfgemeinschaften sein. In der nächsten Folge dieser kleinen Serie sollen einige heute funktionierende Commons vorgestellt werden, von Wikipedia bis zu Cecosesola, einem Zusammenschluss von Kooperativen in Ecuador, der seit über 50 Jahren 100.000 Familien mit erschwinglichem Obst und Gemüse, Gesundheits- und Bestattungsdiensten versorgt.

Titelfoto: Marymoor Park community garden, USA. King County Parks, CC BY-NC-ND


Fußnoten:

Hardin, Garrett (1968): The Tragedy of the Commons. In: Science 162 (3859), S. 1243–1248. Online: https://www.jstor.org/stable/1724745.

Hardin, Garrett (1974): Lifeboat Ethics_ the Case Against Helping the Poor. In: Psychology Today (8), S. 38–43. Online: https://rintintin.colorado.edu/~vancecd/phil1100/Hardin.pdf

Vgl.. https://www.splcenter.org/fighting-hate/extremist-files/individual/garrett-hardin

Ostrom, Elinor (2015): Governing the Commons. Cambridge: Cambridge University Press. Das Buch ist erstmals 1990 erschienen.

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Woher kommt der Zwang zum Wachstum? Interview mit Prof. Andreas Novy

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Lesedauer 8 Minuten.   

Im Rahmen unserer Serie zum APCC Special Report „Strukturen“ für ein klimafreundliches Leben“ hat Martin Auer mit Prof. Andreas Novy gesprochen. Sein Fach ist die soziale Ökonomie und er leitet das Institut für Multi-Level Governance and Development an der Wirtschaftsuniversität Wien. Wir sprachen über das Kapitel „Postwachstum und politische Ökonomik des Wachstumszwangs“.

Zu hören ist das Interview auf AlpenGLÜHEN.

Es ist offensichtlich, dass die Menschheit in ihrer Gesamtheit an die Grenzen des Planeten stößt. Seit den 1960er Jahren verbrauchen wir in einem Jahr mehr Ressourcen, als der Planet wiederherstellen kann. Heuer liegt der der Welterschöpfungstag schon Ende Juli. Länder wie Österreich verbrauchen ihren gerechten Anteil schon viel früher, heuer war das der 6. April. Seither leben wir auf Kosten der Zukunft. Und das liegt nicht nur daran, dass die Zahl der Menschen auf dem Planeten zunimmt. Auch jeder einzelne Mensch verbraucht immer mehr. Im Durchschnitt hat sich das Pro-Kopf-Einkommen seit den 1950er Jahren vervierfacht. Verteilt ist dieser Wohlstand sehr ungleich, sowohl zwischen den Ländern als auch innerhalb der Länder, aber gesamt gesehen sind wir an einem Punkt, wo jede vernünftige Hausfrau und jeder vernünftige Hausmann sagen müsste: Jetzt ist es genug, mehr geht nicht.

Aber jede Finanzministerin und jeder Unternehmensmanager bekommt tiefe Sorgenfalten, wenn das Wirtschaftswachstum nachlässt. Was ist es, was treibt dieses Wachstum so gnadenlos an? Warum können wir nicht einfach sagen: Es ist genug für alle da, es muss nur anders verteilt werden, dann reicht es schon?.

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Ergebnisse aus 33 Ländern zeigen: Nein, die Wünsche der meisten Menschen sind begrenzt!

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Lesedauer 3 Minuten.   

von Martin Auer

Lehrbücher der Wirtschaftswissenschaften erklären das Grundproblem der Ökonomie gerne so: Die Mittel, die den Menschen zur Verfügung stehen, sind begrenzt, doch die Wünsche der Menschen seien unbegrenzt. Dass es zur menschlichen Natur gehört, immer mehr zu wollen, ist generell eine weit verbreitete Ansicht. Aber trifft es auch zu? Wenn es wahr wäre, würde das eine große Hürde für einen nachhaltigen Umgang mit den Mitteln darstellen, die uns der Planet zur Verfügung stellt.

Dabei muss man zwischen Wünschen und Bedürfnissen unterscheiden. Es gibt auch Grundbedürfnisse, die immer wieder befriedigt werden müssen, wie Essen und Trinken. Die können zwar niemals endgültig gestillt werden, solange ein Mensch lebt, aber sie erfordern nicht, dass man immer mehr und mehr davon anhäuft. Ähnlich ist es mit den Bedürfnissen nach Kleidung, Behausung usw. wo Güter immer wieder ersetzt werden müssen, wenn sie verschleißen. Aber unbegrenzte Wünsche zu haben bedeutet, immer mehr Güter anhäufen und konsumieren zu wollen.

Die Psycholog:innen Paul G. Bain und Renate Bongiorno von der Universität Bath in Großbritannien haben ein Experiment[1] durchgeführt, um die Frage näher zu beleuchten. Sie haben untersucht, wie viel Geld Menschen in 33 Ländern auf 6 Kontinenten sich jeweils wünschen würden, um das „absolut ideale“ Leben führen zu können. Und zwar sollten die Befragten sich vorstellen, dass sie zwischen verschiedenen Lotterien mit verschieden hohen Preisgeldern wählen könnten. Ein Lotteriegewinn ist nicht mit Verpflichtungen zu Dankbarkeit verbunden und auch nicht mit beruflichen oder geschäftlichen Verpflichtungen oder Verantwortlichkeiten. Für die meisten Menschen ist ein Lotteriegewinn der Weg zu Reichtum, den sie sich am ehesten für sich selber vorstellen können. Die Preisgelder der verschiedenen Lotterien begannen bei 10.000 USD und erhöhten sich jeweils um das Zehnfache, also 100.000 USD, 1 Million USD und so weiter bis 100 Milliarden USD. Jede Lotterie sollte die gleichen Gewinnchancen haben, also ein Gewinn von 100 Milliarden Dollar sollte genauso wahrscheinlich sein wie ein Gewinn von 10.000 Dollar. Die Annahme der Wissenschaftler:innen war, dass Menschen, deren Wünsche unbegrenzt sind, soviel Geld wie nur möglich haben wollen, sich also für die höchste Gewinnmöglichkeit entscheiden würden. Alle anderen, die einen weniger hohen Gewinn wählten, müssten klarerweise begrenzte Wünsche haben. Das Ergebnis müsste die Verfasser:innen von Ökonomielehrbüchern erstaunen: Nur eine Minderheit wollte so viel Geld wie nur möglich ergattern, je nach Land zwischen 8 und 39 Prozent. In 86 Prozent der Länder war die Mehrheit der Leute der Ansicht, dass sie mit 10 Millionen Dollar oder weniger ihr absolut ideales Leben führen könnten, in einigen Ländern würde der Mehrheit der Befragten 1 Million Dollar oder weniger genügen. Dabei waren Beträge zwischen 100 Millionen und 10 Milliarden wenig gefragt. Das heißt die Menschen entschieden sich entweder für einen – relativ –  bescheidenen Betrag oder sie wollten alles. Für die Forscher:innen hieß das, sie konnten die Befragten einteilen in die „Unersättlichen“ und die mit begrenzten Wünschen. Der Anteil an„Unersättlichen“ war in wirtschaftlich „entwickelten“ und „weniger entwickelten“ Ländern ungefähr gleich. „Unersättliche“ waren eher unter jüngeren Menschen zu finden, die in Städten leben. Doch das Verhältnis von „Unersättlichen“ zu  Menschen mit begrenzten Wünschen unterschied sich nicht nach Gender, sozialer Schicht, Bildung oder politischer Richtung. Manche der „Unersättlichen“ gaben an, ihren Reichtum für die Lösung von sozialen Problemen verwenden zu wollen, aber die Mehrheit beider Gruppen wollte den Gewinn nur für sich, ihre Familie und ihre Freunde verwenden. 

1 bis 10 Millionen Dollar – den Bereich, in dem die meisten Befragten ihr absolut ideales Leben führen könnten – kann man als Reichtum bezeichnen, vor allem in ärmeren Ländern. Aber nach westlichen Standards wäre das kein übertriebener Reichtum. In manchen Gegenden von New York oder London könnte man mit 1 Million Dollar kein Einfamilienhaus kaufen, und ein Vermögen von 10 Millionen Dollar ist weniger als das jährliche Einkommen der leitenden Manager von der 350 größten US-Firmen, das 14 bis 17 Millionen Dollar beträgt. 

Die Erkenntnis, dass die Wünsche der Mehrheit der Menschen keineswegs unersättlich sind, hat weitreichende Konsequenzen. Ein wichtiger Punkt ist, dass Menschen oft nicht nach ihren eigenen Überzeugungen handeln, sondern nach dem, wovon sie annehmen, dass es die Überzeugung der Mehrheit ist. Wenn Menschen wissen, dass es „normal“ ist, nur begrenzte Wünsche zu haben, sind sie nach Ansicht der Autor:innen weniger anfällig für die ständigen Reize, mehr zu konsumieren. Ein weiterer Punkt ist, dass ein wesentliches Argument für die Ideologie unbegrenzten Wirtschaftswachstums entkräftet wird. Dafür kann diese Erkenntnis Argumenten für eine Reichensteuer mehr Gewicht verleihen. Eine Steuer auf Vermögen über 10 Millionen USD würde für die meisten Menschen keine Einschränkung ihres „absolut idealen“ Lebensstils bedeuten. Die Erkenntnis, dass die Wünsche der meisten Menschen begrenzt sind, sollte uns Mut machen, wenn wir für mehr Nachhaltigkeit in allen Bereichen des Lebens eintreten wollen.

Titelbild: Brock Wegner auf Unsplash

Gesichtet: Sebastian Seebauer


[1]    Quelle: Bain, P.G., Bongiorno, R. Evidence from 33 countries challenges the assumption of unlimited wants. Nat Sustain 5, 669–673 (2022). 
https://www.nature.com/articles/s41893-022-00902-y

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