Sackgasse „Stadtstraße“ – Ein Ausweg ist möglich
Stellungnahme von S4F-Wien

Lesedauer 5 Minuten.   

Die geplante „Stadtstraße Aspern“ im 22. Wiener Gemeindebezirk (Donaustadt) ist Teil eines größeren Verkehrskonzeptes. Gemeinsam mit der S1-Spange Aspern sollte sie die S1 mit der A23 verbinden1. Obgleich es sich formell um eine „Stadtstraße“ handelt, ist sie in den Dimensionen und als Verbindung von einer Autobahn und einer Schnellstraße geplant. Außerdem wurde bei der Planung davon ausgegangen, dass der Motorisierungsgrad auf über 400 PKW/1000EW steigt.

Die Rahmenbedingungen haben sich fundamental geändert:

Die „Stadtstraße“ wird bereits seit Jahrzehnten geplant. Das UVP-Verfahren wurde 2014 gestartet. Seither haben sich grundlegende Faktoren geändert weshalb auch die zugrunde-liegenden UVP‘s in Frage gestellt werden müssen.

Klimakrise: Die Klimakrise verschärft sich zusehends. Es ist von enormer Wichtigkeit für unseren Wohlstand, unsere Gesundheit und unsere Sicherheit, die Klimaziele von Paris und Glasgow zu erreichen2. Das erfordert rasches Handeln insbesondere auch im Mobilitätsbereich. Die internationalen Klimaziele wurden bei der Stadtstraße nicht berücksichtigt. Die „Stadtstraße“ wurde bisher keinem Klimacheck unterzogen.

S1/Lobautunnel-Absage3: Im Gegensatz zur „Stadtstraße“ wurde die Verlängerung der S1 samt Lobautunnel und Spange-Aspern einem Klimacheck durch das Klimaministerium unterzogen. Diese Evaluierung führte zur Absage des aktuellen Projektes. Damit haben sich auch die Rahmenbedingungen für die Stadtstraße geändert, die nun nicht länger dem Zweck dient, eine Autobahn mit einer Schnellstraße zu verbinden, sondern zusätzlichen Verkehr auf der A23 (Südosttangente) induziert. Die „Stadtstraße“ wurde im Kontext der inzwischen Abgesagten S1- Verlängerung geplant.

Sinkender Motorisierungsgrad und MIV: Entgegen früherer Annahmen sinkt der Motorisierungsgrad in Wien. Das ist angesichts der akuten Klimakrise erfreulich und es ist zu erwarten und zu hoffen, dass dieser Trend anhält. Beim MIV hat sich die Stadt Wien selbst das ambitionierte Ziel einer ~Halbierung gesetzt4. Das bedeutet, dass das Kfz-Verkehrsaufkommen selbst dann sinken würde, wenn 60.000 zusätzliche Menschen in die Donaustadt ziehen. Das bestehende Straßennetz ist somit völlig ausreichend. Die „Stadtstraße“ widerspricht den selbstgesetzten Zielen der Stadt Wien.

Geänderter Zweck: Aufgrund der Absage der S1-Verlängerung reduziert sich der Zweck der Stadtstraße auf die Anbindung der verschiedenen geplanten Siedlungsgebiete wie etwa der Seestadt. Dafür wurde sie aber nicht konzipiert, was etwa daran zu erkennen ist, dass die Stadtstraße wenige hundert Meter vor der Seestadt endet. Es bedarf eines kleinen Teilstücks der S1-Spange Aspern, um den Anschluss zu schaffen. Die „Stadtstraße“ entspricht nicht den aktuellen Anforderungen.

Aus fachlicher Sicht muss daher von der Umsetzung der Stadtstraße in den Dimensionen einer Autobahn im Sinne des Klimaschutzes wie auch im Sinne der Bewohner:innen der Donaustadt dringend abgeraten werden.

Es gibt Lösungen:

  • Wohnungen: Bei der „Stadtstraße Aspern“ wird häufig auf den Bau von 60.000 Wohnungen verwiesen, der davon in Abhängigkeit stünde. Zunächst muss diese Aussage korrigiert werden:
    1. Es geht um Wohnungen für 60.000 Menschen (nicht 60.000 Wohnungen)5
    2. Nur jene Wohnungen in der Seestadt Nord (Wohnungen für ~17.500 Menschen) hängen aktuell an der Stadtstraße.
    Der Weiterbau der Seestadt kann also laut UVP erst begonnen werden, sobald die Stadtstraße für den Verkehr freigegeben ist. Dieser Umstand ließe sich aber mit einer Änderung der UVP beheben. Zuletzt wurde eine solche Änderung im Dezember 2021 im Gemeinderat vorgenommen6. Dieser unkomplizierte Schritt könnte die Fertigstellung der Wohnungen in der Seestadt sogar beschleunigen.
  • Anbindung Seestadt: Die Seestadt ist tatsächlich auch heute schon mit dem Auto erreichbar und somit an das Verkehrsnetz angeschlossen. Darüber hinaus verfügt sie über einen U-Bahn und S-Bahn-Anschluss. Sofern ein zusätzlicher, höherrangiger Verkehrsanschluss erforderlich ist, müsste dieser entsprechend geplant werden. Dies könnte in Form einer Neu-Planung oder einer Umplanung der Stadtstraße erfolgen, müsste jedenfalls aber die geänderten Anforderungen und die Klimakrise (beispielsweise in Form eines Klimachecks) berücksichtigen. Eine unkomplizierte Entkoppelung des Wohnungsbaus von der Stadtstraße würde hierzu auch die notwendigen zeitlichen Spielräume öffnen.
  • Verkehrsentlastung Donaustadt: Die Stadtstraße wird auch häufig im Zusammenhang mit dem berechtigten Anliegen der Donaustädter:innen und der angrenzenden Gemeinden in Niederösterreich genannt. Leider ist die Stadtstraße wie jede Umfahrungsstraße hierzu ungeeignet. Entlastung kann nur durch Maßnahmen gelingen, die den Kfz-Verkehr aktiv aus den betreffenden Gebieten fernhalten. Dies kann durch eine Reduktion an Parkplätzen, geänderte Straßenraumgestaltungen oder durch bauliche Maßnahmen bis hin zu Fußgängerzonen gelingen. Die notwendigen Spielräume ergeben sich aus der von der Stadt Wien angestrebten Absenkung des MIV-Anteils auf 15%. Dafür sind Maßnahmen wie eine verbesserte Infrastruktur für Fußgänger und Radfahrerinnen, ÖPNV-Ausbau und Maßnahmen im Sinne einer Stadt der kurzen Wege unerlässlich. Die „Stadtstraße“ trägt nicht zur Verkehrsentlastung bei.
  • Schnellerer ÖPNV-Ausbau: Derzeit wird der wichtige Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel von der Fertigstellung der Stadtstraße abhängig gemacht. Eine Auflösung dieser Koppelung würde den dringend notwendigen weiteren Ausbau beschleunigen.

S4F-Wien will mit diesem Positionspapier zu einer konstruktiven und sachlich fundierten Diskussion rund um die „Stadtstraße Aspern“ beitragen. Wir wollen anregen, dass die Stadt Wien ihren in vielen Bereichen ambitionierten Klimaschutz-Fahrplan möglichst bald um ein wirkungsvolles Maßnahmenpaket zu Mobilität und Verkehr ergänzt. In diesem Bereich liegt ein Schlüssel zu einem erfolgreichen Klimaschutz.

Pressekonferenz

Scientists for Future Wien veranstalten zu dieser Thematik eine Pressekonferenz am 9.2.2022 mit Univ.Prof. Sigrid Stagl (WU Wien) vom Klimarat der Stadt Wien, der Verkehrswissenschaftlerin DI Barbara Laa (TU Wien) und dem Stadtplaner Andreas Bernögger M.Sc. (TU Wien).
Wann: Mittwoch, 9. Februar 2022, 10 Uhr
Wo: Online via Zoom
Registrierung für Journalist:innen unter:

https://us02web.zoom.us/meeting/register/tZIuc-6qrTopHN1vVs2osC3q-oUmUWwH-KuN

Statements

Dr. Johannes Müller, Verkehrsplaner, Mathematiker, AIT
„Die Planung der Stadtstraße in ihrer derzeitigen Dimensionierung entstammt Planungsprinzipien der 60er und 70er Jahre und ist kontraproduktiv zum Erreichen der Klimaziele der Stadt Wien. Sie bedeutet eine Förderung des klimaschädlichen Autoverkehrs und vermindert die Chance für Bürger:innen umweltfreundlich ihren Mobilitätsalltag zu bewältigen.“

Andreas Bernögger M.Sc., Stadtplaner, TU Wien
„ Als überdimensioniertes Relikt veralteter Konzepte fügt sich die sogenannte Stadtstraße ins planerische Stückwerk der Donaustadt ein. Brauchen würde es stattdessen eine integrierte, intermodale Mobilitätsstrategie (wie 2013 im Strategieplan U2 Donaustadt festgehalten). Straßennetz, Verkehrsberuhigung der Ortskerne, Ausbau der Alternativen zum Auto, Siedlungsentwicklung und Mobilitätskonzepte der neuen Stadtquartiere müssen Hand in Hand gehen. Das wäre zeitgemäße Stadtentwicklung.“

DI Barbara Laa, Verkehrsexpertin, TU Wien
„Nach Absage des Lobautunnels sollte auch die damit in Zusammenhang stehende Stadtstraße neu evaluiert werden. Die Stadt Wien hat jetzt die Chance gemeinsam mit den Bürger*innen ein klimagerechtes Verkehrskonzept zu erarbeiten.“

Dr. Ulrich Leth, Verkehrsplaner, TU Wien
„Wenn die Stadt ihr Ziel von der fast Halbierung des Autoverkehrsanteils in und nach Wien bis zum Jahr 2030 ernst nimmt, sind in Wien und der Donaustadt trotz Bevölkerungswachstums und trotz Besiedelung aller Stadtentwicklungsgebiete deutlich weniger Autos unterwegs als heute. Wofür also neue Straßen bauen?“

Prof. Reinhard Steurer, Klimapolitik, BOKU
„Als Scientist for Future solidarisiere ich mich mit den KlimaaktivistInnen. Warum? Weil die SPÖ beim Wort Stadtstraße bzw. Stadtautobahn offenbar nicht mehr besonnen agieren kann, erkläre ich es mit einem Vergleich: Wenn sie ein mehrstöckiges Haus mit Lift geplant hätten, aber nur ein Geschoss bewilligt wurde, würden sie trotzdem am Lift ins Nirgendwo festhalten oder doch umplanen? Da es um Steuergeld geht: Sollte eine Lösung ohne Lift nicht zumindest in Betracht gezogen werden? Hätte die Stadtregierung in dieser Frage so vernünftig agiert wie in der Corona-Krise, dann hätte die Antwort auf beide Fragen ein klares Ja! sein müssen.

Bei diesem Vergleich steht das mehrstöckige Gebäude für das komplette Autobahnvorhaben, inkl. Lobau-Autobahn, Tunnel, S1-Spange. In diesem Kontext wurde die Stadtstraße nicht nur als Anbindung der Seestadt, sondern als Verbindung zwischen zwei Autobahnen konzipiert. Dieses Konzept ist obsolet. Wenn man nun die 4-spurige Stadtstraße nicht neu plant, dann ist es eben so, wie wenn man ein verbleibendes Erdgeschoss trotzdem mit Lift baut (wohl in der Hoffnung, der Rest komme später). Weil sich das Gesamtprojekt ja gravierend verändert hat, hätte zumindest ernsthaft geprüft werden sollen, ob das in dieser Dimension nach wie vor Sinn macht.“

Markus Palzer-Khomenko, M.Sc., Koordinator S4F-Wien
„Die Klimakrise erfordert ein sofortiges Gegensteuern in allen Bereichen. Dazu braucht es einen konstruktiven Dialog zwischen Klimaschutz-Bewegung, Politik und Wissenschaft. Eine zufriedenstellende Lösung für alle Seiten ist möglich und würde den Wohnungs- und Öffi-Ausbau sogar beschleunigen“

Titelfoto: Extinction Rebellion


1 https://www.wien.gv.at/verkehr/strassen/planen/grossprojekte/stadtstrasse-aspern/projekt.html

2 https://www.ipcc.ch/report/ar6/wg1/downloads/report/IPCC_AR6_WGI_SPM_final.pdf

3 https://www.bmk.gv.at/service/presse/gewessler/20211201_klimacheck-ASFINAG-bauprogramm.html

4 https://www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/b008390b.pdf

5 https://www.stadtstrasse.at/

6 https://kurier.at/chronik/wien/beschwerde-gegen-geplante-stadtstrassen-nachtarbeiten-eingebracht/401845687

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