von Martin Auer
In diesem kurzen, leicht zu lesenden Essay präsentiert die Umwelthistorikerin Verena Winiwarter sieben grundsätzliche Überlegungen für den Weg in eine Gesellschaft, die auch das Leben nachkommender Generationen sichern kann. Freilich ist es kein Anleitungsbuch – „In sieben Schritten zu …“ – sondern, wie Winiwarter im Vorwort schreibt, ein Beitrag zu einer Debatte, die geführt werden soll. Die Naturwissenschaften haben die Ursachen der Klima- und Biodiversitätskrise längst geklärt und auch die erforderlichen Maßnahmen benannt. Winiwarter setzt sich darum mit der gesellschaftlichen Dimension des notwendigen Wandels auseinander.
Die erste Überlegung betrifft die Daseinsfürsorge. In unserer vernetzten und arbeitsteiligen Industriegesellschaft können einzelne Menschen oder Familien nicht mehr unabhängig für das eigene Dasein sorgen. Wir sind abhängig von Gütern, die anderswo erzeugt werden und von Infrastrukturen wie Wasserleitungen, Abwasserkanälen, Gas und Stromleitungen, Verkehrsmitteln, Gesundheitseinrichtungen und vielen anderen, die wir nicht selber verwalten. Wir vertrauen darauf, dass das Licht angeht, wenn wir den Schalter betätigen, aber tatsächlich haben wir keine Kontrolle darüber. Alle diese Strukturen, die uns das Leben ermöglichen, wären ohne staatliche Institutionen nicht möglich. Entweder stellt der Staat sie selber zur Verfügung oder er reguliert ihre Bereitstellung durch Gesetze. Ein Computer mag von einer privaten Firma hergestellt werden, aber ohne das staatliche Bildungssystem gäbe es niemanden, der ihn konstruieren könnte. Nicht vergessen darf man dabei, dass die Daseinsfürsorge, der Wohlstand, wie wir ihn kennen, durch die Nutzung fossiler Energien ermöglicht wurde und mit der Armut der „Dritten Welt“ oder des globalen Südens untrennbar verbunden ist .
Im zweiten Schritt geht es um die Daseinsvorsorge. Diese zielt auf die Zukunft, auf die Vorsorge für unser eigenes Dasein und das der nächsten und übernächsten Generationen. Daseinsvorsorge ist die Voraussetzung und Konsequenz einer nachhaltigen Gesellschaft. Damit ein Staat Daseinsvorsorge betreibt, muss er ein auf unveräußerlichen Menschen- und Grundrechten aufgebauter Rechtsstaat sein. Korruption hintertreibt wirksame Daseinsvorsorge. Auch wenn Institutionen der Daseinsfürsorge wie zum Beispiel die Wasserversorgung privatisiert werden, sind die Folgen negativ, wie die Erfahrung in vielen Städten zeigt.
Im dritten Schritt werden also der Rechtsstaat, Grund- und Menschenrechte beleuchtet: „Nur ein Rechtsstaat, in dem alle Amtsträger:innen sich dem Recht unterwerfen müssen und in dem eine unabhängige Justiz darüber wacht, kann Staatsbürger:innen vor Willkür und staatlicher Gewalt schützen.“ Vor Gericht kann in einem Rechtsstaat auch gegen staatliches Unrecht vorgegangen werden. In Österreich ist seit 1950 die Europäische Menschenrechtskonvention in Kraft. Diese garantiert unter anderem das Recht jedes Menschen auf Leben, Freiheit und Sicherheit. „Somit“ folgert Winiwarter, „müssten die Organe der Grundrechtsdemokratie Österreich, um verfassungsgemäß zu handeln, die Lebensgrundlagen der Menschen dauerhaft schützen und damit nicht nur das Pariser Klima-Abkommen umsetzen, sondern sich umfassend als Umwelt- und damit Gesundheitsschützer betätigen.“ Doch sind die Grundrechte in Österreich keine „Individualrechte“, die ein einzelner Mensch für sich in Anspruch nehmen kann, sondern nur eine Richtschnur staatlichen Handelns. Es wäre also nötig, die Verpflichtung des Staates, für Klimaschutz zu sorgen, in die Verfassung aufzunehmen. Doch müsste jede nationale Gesetzgebung zum Klimaschutz auch in einen internationalen Rahmen eingebettet sein, da der Klimawandel ein globales Problem ist.
Schritt vier benennt drei Gründe, warum die Klimakrise ein „tückisches“ Problem ist. „Wicked problem“ ist ein Begriff, den die Raumplaner Rittel und Webber 1973 geprägt haben. Sie bezeichnen damit Probleme, die sich nicht einmal eindeutig definieren lassen. Tückische Probleme sind meistens einzigartig, daher gibt es keine Möglichkeit, durch Versuch und Irrtum eine Lösung zu finden, es gibt auch keine eindeutig richtigen oder falschen, sondern nur bessere oder schlechtere Lösungen. Die Existenz des Problem kann auf unterschiedliche Weisen erklärt werden, und mögliche Lösungen hängen von der jeweiligen Erklärung ab. Eine eindeutige Lösung für das Problem des Klimawandels gibt es nur auf der naturwissenschaftlichen Ebene: Keine Treibhausgase mehr in die Atmosphäre! Doch dies umzusetzen, ist ein gesellschaftliches Problem. Gelingt die Umsetzung durch technische Lösungen wie Carbon Capture and Storage und Geoengineering, oder durch Änderung des Lebensstils, Bekämpfung von Ungleichheit und Wertewandel oder durch ein Ende des vom Finanzkapital getriebenen Kapitalismus und seiner Wachstumslogik? Winiwarter hebt drei Aspekte hervor: der eine ist die „Tyrannei der Gegenwart“ oder einfach die Kurzsichtigkeit von Politiker:innen, die sich die Sympathie ihrer gegenwärtigen Wähler:innen sichern wollen: „Die österreichische Politik ist damit beschäftigt, durch Priorisierung von klimaschädlichem Wirtschaftswachstum die Pensionen für heutige Pensionist:innen zu sichern, statt mindestens ebenso stark durch klimaschützende Politik eine gute Zukunft für die Enkelkinder zu ermöglichen.“ Ein zweiter Aspekt ist, dass diejenigen, denen die Maßnahmen zur Lösung eines Problems nicht passen, dazu neigen, das Problem, in diesem Fall den Klimawandel, zu leugnen oder kleinzureden. Der dritte Aspekt betrifft das „kommunikative Rauschen“, also eine Überfülle an belanglosen Informationen, in denen die wesentlichen Informationen untergehen. Zudem werden gezielt Fehlinformationen, Halbwahrheiten und regelrechter Schwachsinn verbreitet. Dadurch wird es den Menschen erschwert, richtige und sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Nur freie und unabhängige Qualitätsmedien können die rechtsstaatliche Demokratie schützen. Dazu braucht es aber auch eine unabhängige Finanzierung und ebenso unabhängige Aufsichtsgremien.
Der fünfte Schritt benennt Umweltgerechtigkeit als die Basis aller Gerechtigkeit. Armut, Krankheit, Mangelernährung, Unbildung und Schädigung durch eine vergiftete Umwelt machen es Menschen unmöglich, sich an demokratischen Aushandlungen zu beteiligen. Umweltgerechtigkeit ist so die Basis des demokratischen Rechtsstaates, Basis der Grundrechte und der Menschenrechte, weil sie überhaupt erst die physischen Voraussetzungen für Teilhabe schafft. Winiwarter zitiert hier unter anderem den indischen Ökonomen Amartya Sen. Nach Sen ist eine Gesellschaft umso gerechter, je mehr durch Freiheit geschaffene „Verwirklichungschancen“ sie den Menschen ermöglicht. Freiheit umfasst die Möglichkeit politischer Teilhabe, ökonomische Institutionen, die für Verteilung sorgen, soziale Absicherung durch Mindestlöhne und Sozialhilfen, soziale Chancen durch Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem und Pressefreiheit. Alle diese Freiheiten müssen partizipativ ausgehandelt werden. Und das ist nur möglich, wenn die Menschen Zugang zu Umweltressourcen haben und frei von Umweltlasten sind.
Der sechste Schritt setzt sich weiter mit dem Begriff der Gerechtigkeit und den damit verbundenen Herausforderungen auseinander. Erstens ist der Erfolg von Maßnahmen, die zu mehr Gerechtigkeit führen sollen, oft nur schwer zu kontrollieren. Die Erreichung der 17 Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 etwa soll anhand von 242 Indikatoren gemessen werden. Eine zweite Herausforderung ist mangelnde Anschaulichkeit. Gravierende Ungleichheiten sind für nicht Betroffene oft gar nicht sichtbar, wodurch auch keine Motivation entsteht, dagegen vorzugehen. Drittens gibt es Ungleichheit nicht nur zwischen gegenwärtigen und zukünftigen Menschen, sondern auch zwischen dem globalen Süden und dem globalen Norden und nicht zuletzt innerhalb einzelner Nationalstaaten. Armutsbekämpfung im Norden darf nicht auf Kosten des Südens gehen, Klimaschutz nicht auf Kosten der schon bisher Benachteiligten und ein gutes Leben in der Gegenwart nicht auf Kosten der Zukunft . Gerechtigkeit kann nur ausgehandelt werden, doch dem Aushandeln stehen oft Verständigungsschwierigkeiten entgehen, besonders auf der globalen Ebene.
Schritt sieben betont: „Ohne Frieden und Abrüstung gibt es keine Nachhaltigkeit.“ Krieg bedeutet nicht nur unmittelbare Zerstörungen, auch in Friedenszeiten verursachen Militär und Rüstung Treibhausgase und andere Umweltschäden und beanspruchen riesige Ressourcen, die besser für den Schutz der Lebensgrundlagen aufgewendet werden sollten. Frieden erfordert Vertrauen, das nur durch demokratische Teilhabe und Rechtsstaatlichkeit erreicht werden kann. Winiwarter zitiert den Moralphilosophen Stephen M. Gardiner, der einen globalen Verfassungskonvent vorschlägt, um eine klimagerechte Weltgesellschaft zu ermöglichen. Als eine Art Probehandeln schlägt sie einen österreichischen Klimaverfassungskonvent vor. Damit sollte auch den Zweifeln begegnet werden, die viele Aktivist:innen, Beratungsgremien und Wissenschaftler:innen an der Fähigkeit der Demokratie hegen, mit den klimapolitischen Herausforderungen fertigzuwerden. Die Begrenzung des Klimawandels verlangt umfassende gesellschaftliche Anstrengungen, die nur möglich sind, wenn sie von einer faktischen Mehrheit unterstützt werden. Am demokratischen Ringen um Mehrheiten führt also kein Weg vorbei. Ein Klimaverfassungskonvent könnte die institutionellen Reformen anstoßen, die dafür notwendig sind, und könnte dazu beitragen, das Vertrauen herzustellen, dass eine gedeihliche Entwicklung möglich ist. Denn je komplexer die Probleme sind, um so wichtiger ist Vertrauen, damit die Gesellschaft handlungsfähig bleibt.
Abschließend und fast nebenbei geht Winiwarter auf eine Institution ein, die eigentlich prägend für die moderne Gesellschaft ist: die „freie Marktwirtschaft“. Sie zitiert zuerst den Schriftsteller Kurt Vonnegut, der der Industriegesellschaft ein Suchtverhalten attestiert, nämlich die Sucht nach fossiler Energie, und einen „kalten Entzug“ vorhersagt. Und weiter den Drogenexperten Bruce Alexander, der die globale Suchtproblematik darauf zurückführt, dass die freie Marktwirtschaft die Menschen dem Druck zu Individualismus und Wettbewerb aussetzt. Die Abkehr von fossiler Energie könnte, meint Winiwarter, auch die Abkehr von der freien Marktwirtschaft zur Folge haben. Den Ausweg sieht sie darin, die psychosoziale Integration zu fördern, also die Wiederherstellung von Gemeinschaften, die durch Ausbeutung zerstört wurden, deren Umwelt vergiftet wurde. Diese müssen beim Wiederaufbau unterstützt werden. Eine alternative zur Marktwirtschaft wären Genossenschaften aller Art, in denen die Arbeit auf die Gemeinschaft ausgerichtet ist. Eine klimagerechte Gesellschaft ist demnach eine, die weder nach fossiler Energie noch nach bewusstseinsverändernden Drogen süchtig ist, weil sie durch Zusammenhalt und Vertrauen die mentale Gesundheit der Menschen fördert.
Was diesen Essay auszeichnet, ist der interdisziplinäre Ansatz. Leser:innen werden Hinweise auf eine Reihe von Autor:innen aus unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen finden. Dass ein solcher Text nicht alle Fragen beantworten kann, ist klar. Doch da die Schrift auf den Vorschlag eines Klimaverfassungskonvents zugespitzt ist, würde man eine ausführlichere Darstellung der Aufgaben erwarten, die ein solcher Konvent zu lösen hätte. Um die gegenwärtige Verfassung um einen Artikel zu Klimaschutz und Daseinsvorsorge zu erweitern, würde ja ein Parlamentsbeschluss mit Zweidrittelmehrheit genügen. Ein eigens gewählter Konvent müsste sich wohl mit der grundlegenden Struktur unseres Staatswesens auseinandersetzen, vor allem mit der Frage, wie konkret die Interessen von künftigen Generationen, deren Stimme wir ja nicht hören können, in der Gegenwart vertreten werden können. Denn, wie Stephen M. Gardiner ausführt, unsere gegenwärtigen Institutionen, vom Nationalstaat bis zur UNO, sind dafür nicht konzipiert worden. Dazu würde dann auch die Frage gehören, ob es außer der derzeitige Form der repräsentativen Demokratie durch Volksvertreter:innen noch andere Formen geben kann, die zum Beispiel Entscheidungsbefugnisse weiter nach „unten“, also näher zu den Betroffenen verlagern. Auch die Frage der Wirtschaftsdemokratie, des Verhältnisses von privater, profitorientierter Wirtschaft einerseits und gemeinschaftlicher, am Gemeinwohl orientierter Wirtschaft andererseits müsste Gegenstand eines solchen Konvents sein. Ohne strenge Regulierung ist eine nachhaltige Wirtschaft nicht denkbar, schon allein, weil zukünftige Generationen nicht als Konsument:innen über den Markt auf die Wirtschaft Einfluss nehmen können. Darum müsste geklärt werden, auf welche Weise solche Regulierungen zustande kommen sollen.
Auf jeden Fall ist Winiwarters Buch inspirierend, weil es den Blick weit über den Horizont von technologischen Maßnahmen wie Windkraft und Elektromobilität hinaus auf die Dimensionen menschlichen Zusammenlebens lenkt.
Verena Winiwarter ist Umwelthistorikerin. Sie wurde 2013 zur Wissenschaftlerin des Jahres gewählt, ist Mitglied der österreichischen Akademie der Wissenschaften und leitet dort die Kommission für interdisziplinäre ökologische Studien. Sie ist Mitglied von Scientists for Future. Ein Interview zum Thema Klimakrise und Gesellschaft ist auf unserem Podcast „Alpenglühen“ zu hören.
Verena Winiwarter
Der Weg zur klimagerechten Gesellschaft
Sieben Schritte in eine nachhaltige Zukunft
Picus Verlag
72 Seiten, gebunden€ 14,00
https://www.picus.at/produkt/der-weg-zur-klimagerechten-gesellschaft/
Titelbild: Drew Beamer auf Unsplash
Folge uns auch auf Bluesky